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Literaturskandal um einen Dresdner DDR-Roman

Der Roman "Gittersee" der jungen Autorin Charlotte Gneuß löst einen Streit aus, der prinzipielle Fragen berührt. Auch die zwischen Ost und West.

Von Karin Großmann
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Sie habe herausfinden wollen, wie das Land ihrer Eltern funktionierte, sagt die Autorin Charlotte Gneuß. Sie steht jetzt für Fehler in Bezug auf das DDR-Kolorit ihres Debütromans „Gittersee“ in der Kritik.
Sie habe herausfinden wollen, wie das Land ihrer Eltern funktionierte, sagt die Autorin Charlotte Gneuß. Sie steht jetzt für Fehler in Bezug auf das DDR-Kolorit ihres Debütromans „Gittersee“ in der Kritik. © dpa

Ein neuer Roman, ein alter Streit und ein Haufen Scherben. Gewonnen hat niemand und nichts. Im Gegenteil, beschädigt sind alle Beteiligten, die Autorin, ihr Kritiker, ihr Verlag. Und spaßverdächtig ist das Ganze schon gar nicht. Seit einigen Tagen brodelt es in den Literaturküchen des Landes. Was ist passiert?

Der Roman: „Gittersee“ spielt in dem gleichnamigen Stadtteil von Dresden 1976. Tiefe DDR-Zeit. Die Schülerin Karin erlebt ihre erste große Liebe mit Paul. Plötzlich ist er verschwunden. Rübergemacht, sagen die Leute. Karin will die Wahrheit wissen. Sie lässt sich auf Gespräche mit der Staatssicherheit ein. Der Führungsoffizier nimmt sie ernst. Viel mehr Halt gibt es nicht für das Mädchen. Der Vater trinkt, die Mutter holt ihre Jugend nach, die Nazi-Oma schwärmt von der alten Zeit, die beste Freundin kommt abhanden, und mit der Verantwortung für die kleine Schwester ist die 15-jährige Karin überfordert. Der Roman erschien bei S. Fischer. Er stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. Ein sprachstarkes, klug komponiertes Debüt.

Die DDR als attraktiver literarischer Stoff

Die Autorin: Charlotte Gneuß, geboren 1992 im schwäbischen Ludwigsburg. Studierte in Dresden Soziale Arbeit an der Evangelischen Fachhochschule und in Leipzig Literatur. Die Eltern sind Jahrgang 1962, stammen aus Sachsen und verließen die DDR. „Ich bin nicht Ost- oder Westdeutsche“, sagte Charlotte Gneuß am Samstagabend beim Festival „Literatur Jetzt!“ in Dresden. Die Ost-Debatte sei ein einziges Minenfeld. Sie habe herausfinden wollen, wie das Land ihrer Eltern funktionierte. Sie sei sich unsicher, wie sie den Staat DDR einordnen solle. Die Autorin gehört zur Generation der Nachgeborenen, die sich jetzt mit ihrer Sicht auf die jüngste ostdeutsche Vergangenheit nachdrücklich zu Wort melden. Lukas Rietzschel, Anne Rabe, Felix Stephan, Valerie Schönian und viele andere entdecken die DDR als attraktiven literarischen Stoff voller Konflikte und Emotionen. Solche Brüche haben sie selbst nicht erlebt.

Der Kritiker: Der Schriftsteller Ingo Schulze, geboren 1962 in Dresden, hat mit Romanen wie „Simple Storys“, „Adam und Evelyn“, „Peter Holtz“ und „Die rechtschaffenen Mörder“ immer wieder die Jahre vor und nach dem Mauerfall überzeugend rekonstruiert. Der Systemwechsel ist sein Lebensthema. Er kann auf eigene Erfahrungen zurückgreifen wie Uwe Tellkamp, Lutz Seiler, Helga Schubert oder Thomas Brussig. Häufig stellen diese Autoren widerständige Figuren ins Zentrum. Ingo Schulze setzt sich in Essays und Zeitungsartikeln kritisch mit sich selbst, seiner Generation und der politischen Verfasstheit der heutigen Bundesrepublik auseinander. Das verschafft ihm nicht nur Sympathien. Seine Dresdner Rede gegen eine marktkonforme Demokratie war eine Sternstunde der Polemik. Auch die Bücher von Ingo Schulze erscheinen bei S. Fischer.

Plastebeutel und nicht Plastiktüte

Der Vorfall: Vor dem Erscheinen von „Gittersee“ verschickte der Verlag Leseexemplare an seine Autorinnen und Autoren. Das gehört zu den Gepflogenheiten. Man kann sich einbezogen fühlen in das Programm. Schon im Juni erhielt Ingo Schulze das Gneuß-Buch von der Lektorin. Er schickte Anmerkungen zurück. Einiges erschien ihm fehlerhaft in Bezug auf das DDR-Kolorit: Man sprach damals von Plastebeutel und nicht Plastiktüte, von Direktorenzimmer und nicht Rektorat, und „passt schon“ sagte in den Siebzigern kaum jemand hierzulande.

Einige Schnitzer gibt es in dem Roman sowieso. Schulze spricht von einem „ungeplanten Außenlektorat“. Der Verlag änderte bei der Nachauflage etwa zehn von 24 Punkten. Die Mängelliste gelangte auf welchem Weg auch immer zur Jury für den Deutschen Buchpreis und zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung. „Es ist fast schon perfide“, sagt die Autorin dort in einem Interview, „wenn ausgerechnet ein Roman, der sich mit der Tätigkeit der Staatssicherheit beschäftigt, durch eine weitergereichte Liste mit angeblichen Fehlern beschädigt werden soll.“ Der Vorwurf des Vorsätzlichen wird weiteren Streit nach sich ziehen. Ein Gespräch, so Gneuß, habe Schulze abgelehnt.

Entscheidet regionale Herkunft über Authentizität?

Die Fragen: Ist ein Faktencheck in der Literatur sinnvoll? Wie korrekt muss die Erinnerung an die DDR sein? Darf nur jemand über die Vergangenheit schreiben, der sie selbst erlebte? Wer hat die Deutungshoheit über die ostdeutsche Geschichte? Entscheidet regionale Herkunft über Authentizität? Zeigt sich in der Veröffentlichung der Debütantin westdeutsche Besserwisserei und in der Kritik des gestandenen Autors eine paternalistische Verteidigung des eigenen Erbhofs? Schlägt der Vorgang auch deshalb Wellen, weil darin all die unabgegoltenen Ost-West-Konflikte wieder aufploppen? Die Frage, ob wir keine anderen Probleme haben, erübrigt sich, denn wer ist wir, und wer entscheidet über den Wert eines Diskussionsstoffs?

Die Antworten: Jeder spricht für sich. Die Regel für Workshops gilt für Zeitzeugen erst recht. Die Erinnerung ist privat. Sie kann nicht verallgemeinert werden. Sie darf aber auch niemandem abgesprochen werden. Wenn sich die Eltern von Charlotte Gneuß an ein Bad in der Elbe erinnern, dann ist das so. Selbst wenn das vermutlich nicht häufig vorkam. Und natürlich können alle über alles schreiben unabhängig vom Dabeigewesensein. Sonst wären die Regale für Historienromane, Krimis und Fantasyliteratur leer. Sonst gäbe es keine Literatur. Wenn sie den Tod von Barbarossa verhandelt, sollte das Todesjahr stimmen. Nur dann ist ein Faktencheck sinnvoll. Wie das Pferd des Kaisers strauchelte, kann jeder und jede nach Lust und Laune erzählen. Kaum jemand käme auf die Idee, dass in der Sprache des zwölften Jahrhunderts zu tun. Figurensprache ist Teil der Kunst. Zwischen Wahrheit und Wahrhaftigkeit verläuft eine Grenze.

Welches Glück, dass die Nachgeborenen diese Grenze austesten. Dass sie sich dafür interessieren, welche Zumutungen und Glücksmomente ihre Vorfahren erlebten. Junge Autorinnen und Autoren haben alles Recht der Welt, Fragen zu stellen. Jede und jeder hat das Recht zu widersprechen. Es müssen erst dreißig Jahre vergehen, meinen Zeithistoriker, um die Dinge mit Abstand bewerten zu können. Die sind nun rum.

„Wir Kinder des Ostens“ heißt eine Lesung junger Autoren, die am Mittwoch ab 19 Uhr im Dresdner Hygiene-Museum stattfindet.