Merken

Der höfliche Bankräuber

Als „Rotkäppchen“ überfiel Heinz-Otto Hermann 28 Sparkassen. Es sagt, er habe damit für Gerechtigkeit sorgen wollen.

Teilen
Folgen
NEU!

Von Jens Fritzsche

Robin Hood? Nein, sagt er, dieser Vergleich passe ihm dann doch nicht. Auch wenn er ein Bankräuber war, dessen Motiv ausnahmsweise nicht persönliche Bereicherung war.

Im Dezember 2005 erzählte „Rotkäppchen“ nach gerade abgesessener Haft der SZ erstmals seine Geschichte. Die lässt ihn bis heute nicht los.
Im Dezember 2005 erzählte „Rotkäppchen“ nach gerade abgesessener Haft der SZ erstmals seine Geschichte. Die lässt ihn bis heute nicht los.

Heinz-Otto Hermann – ein eher unscheinbarer freundlicher Mann, damals in der zweiten Hälfte der Vierzig, in einem Einfamilienhaus am Rand des beschaulichen Städtchens Bischofswerda wohnend. Er wollte mit seiner Beute Finanzlöcher stopfen. Löcher, die andere skrupellos in sein Leben gerissen hatten. Und was für ihn noch schlimmer war: Löcher, die nun auch in den Leben zahlreicher Familien in der Region zwischen Dresden, Bischofswerda und Bautzen zu klaffen drohten. Sie hatten sich auf ihn verlassen – er hatte versprochen, ihnen schmucke Einfamilienhäuser zu bauen. Dafür hatten sie ihm nicht selten ihre kompletten Ersparnisse gegeben. Skrupellose Geschäftspartner waren mit diesem Geld abgetaucht, er konnte die Baufirmen nicht bezahlen, hätte einfach Privatinsolvenz anmelden können und alles wäre vom Tisch gewesen. Für ihn. Für die betroffenen Familien nicht. Die hätten weder Haus noch Geld gehabt. „Das wollte ich unbedingt verhindern“, sagt er – und wurde zum Bankräuber.

Und zwar zum meistgesuchten im Osten Deutschlands in den zu Ende gehenden 1990er-Jahren. 28 Überfälle auf Sparkassen in Sachsen, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern werden es sein, bis die Handschellen letztlich in Weißwasser klicken. Rund 650 000 Mark Beute insgesamt. Und weil er bei seinen Überfällen stets eine rote Maske trug, machten ihn Medien und Polizei schnell zum „Rotkäppchen“.

Später erzählt er seine Geschichte einem SZ-Redakteur für eine Reportage und ein Buch – nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis. Unter anderem in Bautzen hat er eingesessen. Sogar ein gescheiterter Fluchtversuch gehört zu seiner Geschichte.

Drei Stunden im Wasser versteckt

Noch ein bisschen später sitzt er erneut im Gefängnis – das wird allerdings längst nicht mehr genutzt. Heinz-Otto Hermann ist ins Schloss Klippenstein in Radeberg gekommen, um Interessierten noch einmal zu erzählen, wie er zu „Rotkäppchen“ wurde. Nein, ein Geheimnis macht er nicht aus seiner Geschichte – aber solche Runden, so viel Öffentlichkeit sind dann doch die Ausnahme. „Ich bin nicht wirklich stolz auf das, was ich getan habe.“

Eigentlich hätte Heinz-Otto Hermann das Zeug zum Spitzensportler in der DDR gehabt. Marathonläufe? Kein Problem für ihn. Kraftsport? Auch nicht. Aber es fehlten immer die berühmten Sekunden. Doch der Sport wird noch wichtig für sein weiteres Leben. Zunächst führt ihn sein Berufsweg vom heimischen Dörfchen Wusterwitz im Havelland an die Offiziershochschule der DDR-Luftstreitkräfte in Kamenz. Als Sportoffizier bildet er Kampfpiloten fürs Überleben nach einem Flugzeugabschuss aus. Er zeigt ihnen auch, wie man potenziellen Verfolgern in Hubschraubern oder Hundemeuten entgehen kann. Auch das kommt ihm letztlich als „Rotkäppchen“ zugute.

Doch zunächst kam die Wende. Die Nationale Volksarmee wurde abgewickelt, das Personal nur zum Teil übernommen. „Ich hätte als Unteroffizier in der Bundeswehr weitermachen können, aber das war ein absoluter Abstieg, nach 23 Jahren – dafür war ich viel zu stolz“, räumt er ein, dass es ein Fehler war, dieses Angebot auszuschlagen. „Ich hätte einfach nur noch zwei Jahre dranhängen müssen, dann hätte ich meine Pensionsansprüche als Offizier gesichert“, sagt er kopfschüttelnd.

Und auch der nächste Fehler lauerte schon. Seinen zwischenzeitlichen Job als Schwimmmeister im Bischofswerdaer Freibad wirft er hin – „obwohl ich wirklich beliebt war; noch heute fragen mich manche Leute nach den Bad-Öffnungszeiten.“ Und nun? „Ich habe mich selbstständig gemacht, wurde Bauunternehmer, obwohl ich keine Ahnung hatte.“ Und zwar weder vom Geschäft, noch von der Kaltschnäuzigkeit und Skrupellosigkeit, die da aus dem Westteil der Republik herüberschwappte, wie er beschreibt. Gutgläubig war er und brauchte die Westpartner. „Weil mir als Ossi die Banken keine Kredite gaben, den Wessis schon.“ Doch die vermeintlichen Partner verschwanden mit dem Geld seiner Kunden, die ihre Häuser im Voraus bezahlt hatten.

Heinz-Otto Hermann wird zum Spieler. In den Casinos könnte er das fehlende Geld durch ein totsicheres System locker zusammenbekommen, ist er überzeugt. Und irrt sich. So keimte in ihm diese Idee. Die Idee, sich das Geld am Ende doch von den Banken zu holen. Von den Sparkassen. „Weil die mir nicht geholfen hatten, dachte ich damals ein bisschen naiv.“ Auch heute hat er kein Konto bei einer Sparkasse. Weil es ihm peinlich wäre? „Ein bisschen schon, vielleicht.“

Tagelang spioniert er die Sparkassen aus. Er sucht sie sich in weiter Entfernung. Und auch seine Fluchtfahrzeuge parkt er schon mal weit über 30 Kilometer vom Tatort entfernt. Geht zu Fuß. Das macht es den Ermittlern letztlich auch nicht so leicht, seine Fährte aufzunehmen. Sie konnten nicht ahnen, dass da ein Bankräuber unterwegs ist, der für einen Überfall bis zu 70 Kilometer Fußmarsch in Kauf nimmt. Und der bei klirrender Januarkälte 1999 mehrere Arme des Elbe-Havel-Kanals durchschwimmt, nachdem er die Sparkasse in Jerichow überfallen hatte.

In der Dresdner Heide liegt er nach einem Überfall auf die Filiale am Weißen Hirsch stundenlang unter Gestrüpp, nachdem er die Spürhunde der Polizei geschickt durch immer wieder durchquerte Bachläufe ins Leere laufen lassen hatte. Er vergräbt die Beute, joggt getarnt als Freizeitsportler an der Polizei vorbei, die mit so viel Dreistigkeit nicht rechnen kann. Und am Waupacksee bei Waren an der Müritz versteckt er sich drei Stunden im Wasser, dicht am Schilf, nachdem das Gelände rund um den See komplett abgesperrt worden war. Doch die Polizeibeamten hatten ihre Autotüren offen, so konnte der „Untergetauchte“ den Funkverkehr mithören. Die Liste der überfallenen Sparkassen wird immer länger. Und „Rotkäppchen“ kommt nun auch in die Nähe seines Zuhauses in Bischofswerda: Arnsdorf, Schwepnitz, Königsbrück. Und es gibt Skurrilitäten, die den Bankräuber in der Öffentlichkeit sogar ein bisschen liebenswert machen. In Neukirch stellt er sich im Januar 1998 zum Beispiel erst einmal in der Schlange vorm Schalter an, bevor er Geld fordert. In der Filiale in Wehrsdorf bei Sohland fehlt ihm im März 1999 plötzlich die Plastetüte für die Beute, eine Angestellte hilft ihm mit einem Papierkorb aus. Und immer heißt es im Nachhinein, dieser Bankräuber sei ausgesprochen höflich gewesen.

Raubserie endet an Mauer

Und die Familie? Ahnt die nichts? „Meine Frau dachte, ich gehe fremd“, sagt er. Das Lächeln will ihm nicht ganz gelingen. „Weil ich ja so oft lange unterwegs war und ich ihr natürlich nicht sagen konnte, wo ich bin.“ Er wollte sie nicht mit hineinziehen. „Es war schon für mich allein eine fürchterliche Belastung.“ Ohne eine kleine Flasche Korn vor jedem Überfall ging es nicht. Und dass es nur eine ungeladene Schreckschusswaffe war, die er an den Bankschaltern auf die Mitarbeiter richtete, wusste ja nur er selbst. „Ich habe so vielen Leuten Angst gemacht, dafür möchte ich mich unbedingt entschuldigen.“ Einen netten Bankräuber gibt es einfach nicht, fügt er an. Und so war er letztlich irgendwie sogar erleichtert, als es Ende 1999 einer Auszubildenden in der Sparkasse Weißwasser gelang, unbemerkt den Alarmknopf zu drücken. Nur Minuten später ist die Polizei vor Ort. Die Flucht in den Hof endet an einer selbst für einen ausgebildeten Sportoffizier unüberwindbaren Mauer.

Das Landgericht Görlitz verurteilt ihn im Jahr 2000 zu elf Jahren Haft. Wegen guter Führung kommt er nach gut der Hälfte der Zeit wieder frei. Seither verdient Heinz-Otto Hermann sein Geld zum Beispiel mit Spargelverkauf im Brandenburgischen. Auch dort wissen seine Stammkunden, wer sie da bedient. Um Balance zu finden, pilgert er anschließend regelmäßig auf dem Jakobsweg durch Spanien.

Er hat seinen Frieden gemacht mit der Geschichte. Aber nicht mit den Auswüchsen des Kapitalismus, sagt er. Dass sein Leben durch Geschäftemacher in eine so dramatische Richtung ausgeschlagen ist, kann er ihnen – und wohl auch sich selbst –  nicht verzeihen. Seine Ehe ist geschieden, aber der Kontakt und das Verhältnis zu seiner Ex-Frau nach wie vor eng. Das gibt Halt.

Und ein bisschen wohl auch, dass seine Geschichte an Robin Hood erinnert. Auch, wenn er das so nicht stehen lassen will.