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Der Netflix-Krieg erreicht Sachsen

„The Irishman“ mit Robert de Niro und Al Pacino startet im Kino. In Sachsen aber nur in zwei Häusern. Was der Kampf "Kino gegen Streaming" damit zu tun hat.

Von Oliver Reinhard
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Als wäre die Zeit stehen geblieben: Al Pacino (mit Brille) und Robert de Niro (2. v. r.) wurden für den 200-Millionen-Dollar-Film „The Irishman“ aufwendig verjüngt. Netflix lässt das Mafia-Epos nur wenige Tage ins Kino – da boykottieren ihn viele Kinos li
Als wäre die Zeit stehen geblieben: Al Pacino (mit Brille) und Robert de Niro (2. v. r.) wurden für den 200-Millionen-Dollar-Film „The Irishman“ aufwendig verjüngt. Netflix lässt das Mafia-Epos nur wenige Tage ins Kino – da boykottieren ihn viele Kinos li © Netflix

Die Kinosaison 2019 ist eine der besten seit Jahren. Endlich wieder viele richtig gute Filme, viele zufriedene Zuschauer, viele Einnahmen. Das US-Drama „Joker“ zieht Massen, die Komödie „Das perfekte Geheimnis“ ist trotz spätem Start vor zwei Wochen schon jetzt der erfolgreichste heimische Film des Jahres, und bald läuft das wahrscheinlich allerletzte „Star Wars“-Abenteuer an. Auch „The Irishman“ passt perfekt in diese Boomzeit. Ein altmodisches, episches Mafia-Epos, gedreht nach über zehn Jahren Vorbereitung mit irrwitzigem Aufwand von Regie-Legende Martin Scorsese mit den Weltstars Robert de Niro und Al Pacino; ein Anwärter für siebenstellige Besucherzahlen. Eigentlich.

Doch dazu wird es nicht kommen. Der ambitionierte Dreieinhalbstünder hat seinen Weg zum Start am Donnerstag weltweit in wenige Kinos gefunden, obendrein für sehr kurze Zeit. In Sachsen läuft er ausschließlich in Leipzig, lediglich das kleine LuRa und das etwas größere Regina zeigen „den neuen Scorsese“.

Warum? Weil „The Irishman“ nicht von einem klassischen Kinofilmstudio produziert wurde. Sondern vom amerikanischen Online-Streaming-Giganten Netflix, zur Weltnummer geworden mit Bezahl-Serien wie „House of Cards“, „Stranger Things“, Haus des Geldes“ und seit „Dark“ auch auf dem Produktionsstandort Deutschland aktiv. Inzwischen ist Netflix ins Langfilmgeschäft eingestiegen, zieht in der Branche immer mehr Geld, Regisseure, Autoren und Schauspieler an, hat aber kein Interesse, seine Filme auch ins Kino zu bringen: Dem Unternehmen geht es ausschließlich um deren Verwertung im Internet. Auf die Leinwand kommt „The Irishman“ allein, weil Scorsese darauf bestanden hat: „So ein Film gehört ins Kino!“ 

Immerhin diese beiden haben ihren Spaß: Al Pacino und Robert de Niro „in echt“.
Außer Pacinos Haarfarbe ist alles
original 79 beziehungsweise 76 Jahre alt.
Immerhin diese beiden haben ihren Spaß: Al Pacino und Robert de Niro „in echt“. Außer Pacinos Haarfarbe ist alles original 79 beziehungsweise 76 Jahre alt. © Getty Images

Allerdings: Nach alter Tradition und alten Absprachen haben Kinos sechs Monate Zeit, um mit den Filmen Geld einzunehmen. Erst danach, so die einstige Regel, erscheinen sie auch auf DVD beziehungsweise im Internet über die Bezahl-Anbieter Amazon, Sky & Co. Netflix aber bietet „The Irishman“ bereits ab dem 27. November via Stream an – keine zwei Wochen nach dem Leinwandstart.

Zwar war die Sechs-Monate-Regel schon längst aufgeweicht, aber nur 13 Tage Exklusivität fürs Kino – das ist ein neuer Minusrekord. Eben dagegen macht die Filmbranche nun mobil. Die meisten deutschen Kinos ignorieren das Angebot des „Marktkillers“ Netflix und lassen Martin Scorsese, Robert de Niro und Al Pacino im Novemberregen stehen. So wie sie es zuvor schon mit dem großen Oscar-Gewinner „Roma“ von Alfonso Cuarón („Pans Labyrinth“, „Gravity“) und „High Flying Bird“ von Steven Soderbergh („Ocean’s Eleven“) getan haben, beides ebenfalls Netflix-Produktionen. „Roma“ durfte sogar nur eine einzige Woche ins Kino. Und das allein deshalb, weil er sonst nicht zur Oscar-Verleihung zugelassen worden wäre.

„Für mich ist das ein beruhigendes Zeichen der Solidarität unter den Kinobetreibern“, sagt Scorsese-Fan Frank Apel vom Dresdner Kino in der Fabrik. „Noch halten wir zusammen. Nicht nur für mich gehören solche Epen vor allem ins Kino. Auch die großen Branchenblätter ignorieren den Start von ,The Irishman‘. Wir müssen uns wirklich nicht alles bieten lassen.“

Zusätzliches Ärgernis: Normalerweise bewerben die Filmverleihe ihre neuesten Produktionen, drehen Kinotrailer, schalten Werbung, drucken Plakate. Für „The Irishman“ aber liefern Netflix und dessen deutscher Verleih NFP – nichts. „Eben das ist für mich der eigentliche Haken“, sagt Sven Weser vom Dresdner Programmkino Ost. „Netflix hat offenbar überhaupt kein Interesse daran und tut nichts dafür, dass der Film in den Kinos, wenn er schon nur zwei Wochen exklusiv bei uns laufen kann, in diesem Zeitfenster auch wenigstens erfolgreich ist.“ Wesers Vermutung: „Netflix setzt darauf, dass ,The Irishman“ durch den Kinostart von ein paar Menschen schon vor dem Streaming-Start gesehen wird und damit ins Gespräch kommt. Und dass zusätzlich nur wegen des Kino-Starts ja auch Filmkritiken veröffentlicht werden.“ Was bedeuten würde: Netflix gönnt den Kinos zwei mickrige Wochen Auswertungszeit und benutzt sie obendrein als kostenlosen PR-Bringer für den Film.

Noch etwas wurmt die Branche: Netflix veröffentlicht keine Zuschauerzahlen. Niemand wird erfahren, wie erfolgreich „The Irishman“ ist. Daher kann auch kein Kinobetreiber beim nächsten Scorsese genauer einschätzen: Lohnt sich das Abspielen für mich und mein Publikum oder nicht?

Der Haken für Netflix: Dieser „Kinokampf“ kommt für den Streaming-Anbieter zur absoluten Unzeit. Zwar hat der kalifornische Gigant eine sensationelle Erfolgsstory hinter sich. Seit Börsenstart 2007 erhöhte sich sein Wert um 8.000 Prozent, er bringt massenhaft Serien komplett auf den Markt statt Folge für Folge, die Streamingzahlen schnellen weltweit in die Höhe, und die Geldgeber sind großzügig: Kein traditionelles Studio wollte die geschätzten 200 Millionen Dollar für „The Irishman“ investieren, die zum guten Teil für die digitale Verjüngung von de Niro und Pacino in den langen Erzähl-Rückblenden draufgingen. Nur Netflix sagte: okay, deal!

 Joe Pesci (l) als Russell Bufalino und Robert DeNiro als legendärer Killer "The Irishman" Frank Sheeran 
 Joe Pesci (l) als Russell Bufalino und Robert DeNiro als legendärer Killer "The Irishman" Frank Sheeran  © Netflix

Doch der Aufstieg des Wunderkindes wurde ausgebremst – vorerst. Immer mehr Fremdzulieferer des großen und breiten Netflix-Angebots haben ihre Zufuhr gedrosselt oder eingestellt, von BBC-Naturdokus bis Disney-Familienserien. Obendrein schließt sich die Branche der traditionellen Filmproduzenten enger zusammen und macht zunehmend Front gegen Netflix. In diesem Jahr hat Disney auch noch die legendären Fox-Studios gekauft, sein Portofolio massiv vergrößert und sich damit in eine bedrohliche Angriffsstellung gegen die junge Konkurrenz gebracht: Seit November ist neben dem Portal Apple TV+ auch Disney+ mit Abo-Kampfpreisen am Start.

Als seien das nicht genug Herausforderungen, wandelt sich ein hauseigener Erfolgsgarant allmählich zum Hemmschuh. Denn Netflix funktioniert wie ein Algorithmus und richtet sich strikt nach Publikumsgeschmack. Das steht mehrheitlich auf düstere Thriller, also liefert Netflix mehr und mehr vom Gewünschten. Mit der Folge, dass viele Produkte einander immer ähnlicher und die erzählerischen Gestaltungsräume enger werden, das Niveau von Staffel zu Staffel sinkt und Netflix nun beschlossen hat, diverse Ex-Erfolgsserien nun enden zu lassen. Insofern führt auch die deutsche Kinobranche ihren Kalte-Schulter-Stoß des „Irishman“-Teilboykotts mit der Energie eines guten Geschäftsjahrs gegen einen geschwächten Kontrahenten.

Im Existenzkampf Kino gegen Netzanbieter ist das allenfalls ein Etappenerfolg. Denn mit Blick auf die großen Tendenzen bleibt es wohl langfristig dabei: Das Streaming selbst großformatiger Filme auf den kleinen heimischen Displays von Handy, Tablet oder TV-Schirm boomt, die Zahl der Köpfe vor den großen Leinwänden nicht. Und dass der Chef der traditionsreichen deutschen Ufa-FiIm darüber frohlockt, mit „Betongold“ einen der ersten deutschsprachigen Filme „in Kinoqualität exklusiv für Netflix“ – also für das Kleinformat – zu produzieren, dürfte die Alarmglocken der Kinobetreiber nicht leiser schrillen lassen.