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Der Tag, an dem es Eisen regnete

Vor 73 Jahren griffen amerikanische Bomber Pirna an. Zwei Männer, die damals als Jungs im Keller hockten, erzählen.

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© Karl-Ludwig Oberthür

Von Jörg Stock

Pirna. Wolfgang Härtel mag Steine. Dreißig Jahre hat der Ingenieur bei Elbe-Naturstein in Dresden gearbeitet. Er sammelt Minerale, hobbymäßig, als Andenken. In seinem „Steinschrank“, neben Schlottwitzer Amethyst und schwefelsaurem Barium, liegen auch zwei Metallklumpen, schrundig, aber messerscharf. Keine Naturprodukte sind das, sondern gemacht von Menschen, um zu zerstören und zu töten. Am 19. April 1945 schwirrten sie als Fetzen krepierter Fliegerbomben durch Pirna.

Auch das Haus von Rolf May, links hinter dem Fahrkartenhäuschen, heute Trolli-Schänke, wurde völlig zerstört, ebenso das benachbarte Hotel „Weißer Hirsch“ sowie viele Häuser auf der nach rechts abzweigenden Schulstraße.
Auch das Haus von Rolf May, links hinter dem Fahrkartenhäuschen, heute Trolli-Schänke, wurde völlig zerstört, ebenso das benachbarte Hotel „Weißer Hirsch“ sowie viele Häuser auf der nach rechts abzweigenden Schulstraße. © Repro: Oehme
Das „Rundhaus“ grüßte am Eingang der Copitzer Hauptstraße. Am Mittag des 19. April 1945 schlugen amerikanische Bomben es in Trümmer.
Das „Rundhaus“ grüßte am Eingang der Copitzer Hauptstraße. Am Mittag des 19. April 1945 schlugen amerikanische Bomben es in Trümmer. © Daniel Schäfer

Dieser Tag, einer der letzten des Zweiten Weltkrieges, sollte mehr als 200 Pirnaer das Leben kosten. Fliegeralarme hatte es zuvor oft gegeben. Pirna lag im Kurs der Bomberströme. Doch hatten die Angriffe stets anderen Zielen gegolten. Dieses Mal jedoch rückten mehr als hundert „Fliegende Festungen“ direkt auf die Stadt zu, um mit ihren Bomben die Bahnanlagen zu treffen und so den Bodentruppen, den amerikanischen bei Leipzig und den sowjetischen bei Bautzen, im Ringen mit der Hitlerwehrmacht zu helfen.

Wolfgang Härtel ist damals zehn Jahre alt und lebt in Pirnas inoffiziellem Stadtteil Piependorf an der Straße nach Heidenau. Sein Vater ist in der Kunstseide im Lohnbüro und außerdem beim Luftschutz. Wenn Alarm ist, muss er zum Dienst ins Werk. Wolfgang sucht mit der Mutter in einem Keller Schutz, etwa bei Onkel Paul auf der weiter draußen gelegenen Großsedlitzer Straße. „Dort fühlte man sich sicher.“ Denn es gingen Gerüchte um: Sollte eine Bombe die chemischen Anlagen der Kunstseide treffen, insbesondere den „Kneter“, würde ganz Piependorf ausradiert. Angst spürte Wolfgang beim Sirenengeheul kaum. Es war Alltag. Kam der Alarm in der Schule, schlich er, statt den Schutzraum aufzusuchen, nach Hause, stets darauf bedacht, nicht von einer Kontrolle in den nächsten Keller gestopft zu werden. „Wir kannten unsere Fuchssteige.“

Der 19. April 1945 ist strahlend schön. Genau um Mittag jaulen die Warnsignale. Wolfgang und seine Mutter sitzen wieder bei Onkel Paul. Doch jetzt ist alles anders. Zum ersten Mal hört Wolfgang Härtel das Rauschen der Bomben, spürt, wie die Erde zittert. So gewaltig ist der Krach, dass er glaubt, die Sprengkörper gingen vor der Haustür nieder. „Man hatte ja bis dahin keine Berührung damit gehabt.“ In Wahrheit treffen die Bomben vor allem den Bahnhof im Stadtkern und die Gegend rund um die Elbbrücke. Die Querung selbst wird durchlöchert und stürzt teilweise ein.

Nach 20 Minuten ist der Angriff vorbei. Die Härtels, deren Bauchgefühl sagt, dass alles hin ist, stürzen ins Freie. Erleichtert sehen sie, dass ihre Straße, ihr Dach noch stehen. Wolfgang schwärmt ins Gelände aus. Einige Bomben sind doch in der Nähe niedergegangen, haben den Friedhof verwüstet. Die Möbeltischlerei Kopprasch an der Feistenbergstraße brennt. In den benachbarten Gärten findet Wolfgang Härtel schließlich, wonach er gesucht hat: Bombensplitter. Damals, sagt er, waren es für ihn heiß begehrte Trophäen. Heute sind es Andenken an eine der dunkelsten Stunden Pirnas und an sein eigenes Überleben.

Für Rolf May auf der Copitzer Elbseite ist es keineswegs ausgemacht, dass er diesen Tag heil überstehen wird. Sein Wohnhaus, Hauptstraße 1, steht unweit der Brückenauffahrt, gleich neben den Bahngleisen, und somit gefährlich nahe am Zielobjekt der amerikanischen Bomber. Als er mit seinen Großeltern im Hauskeller hockt in der Hoffnung, das Mittagessen, das auf dem Herd wartet, werde gleich nach dem Überflug aufgetischt, kracht es mörderisch. Das Haus stürzt zusammen. Die Kellertür geht nicht mehr auf, die drei sind verschüttet.

Bis dahin hatte Rolf May eine ungetrübte Kindheit in Copitz gehabt. Geboren 1940, ist ihm noch nicht recht bewusst, dass der Krieg ihn schon zur Halbwaise gemacht hat. Sein Vater, ein Uhrmacher, angestellt in Glashütte, ist 1942 in Frankreich gefallen. Rolf lebt mit der Mutter, einer Krankenschwester, im Haus seines Opas. Der ist Vorsteher des Copitzer Bahnhofs gewesen und kümmerte sich auch um die Signale an der Elbbrücke für die Schifffahrt. Opas Ziegen weiden am Bahndamm, auch hält er Kaninchen. Der kleine Rolf ist viel draußen, vor allem bei den Tieren.

Am Tag, als er im Keller eingeschlossen wird, ist die Mutter zum Dienst. Die Großeltern versuchen, die Tür aufzustemmen, aber vergebens. Da hören sie es draußen rumoren. Männer sind gekommen sie freizuschaufeln. Wie lange sie schippten, weiß Rolf May nicht mehr. Schließlich aber sieht er das Tageslicht wieder. Das Haus ist ein Trümmerhaufen, in dessen Mitte noch der Kachelofen steht. „Wir hatten alles verloren“, sagt er. An der Schulstraße, in einem Bombentrichter, sieht er Tote. Die Gliedmaßen waren weggefetzt. Rolf May überlebte. Er wurde Schlosser und kam als Druckmaschinenbauer in der Welt herum. Die Erkenntnis seines Lebens? Die Menschheit hat nichts gelernt aus ihren Kriegen, und sie wird auch nie etwas lernen. So viele Keile gehen durch die Gesellschaft, so viele Feindseligkeiten gibt es, sagt er. „Die zu überwinden wäre eine unendliche Anstrengung.“