Als am Abend des 25. Januar 2018 Polizisten an der Haustür von Eveline Wollmann klingeln und ihr sagen, sie solle ihre Sachen packen, hinterm Wald sei eine Bombe gefunden worden, da ist sie folgsam. Die Stunden bis zur Entschärfung hockt sie bei Bekannten außerhalb des Bannkreises. "So was Blödes", sagt sie heute. Heute wäre sie einfach ins Bett gegangen und hätte das Licht ausgemacht. "Wer den Krieg erlebt hat, der hat keine Angst mehr."
Explosionen rütteln an den Stützpfeilern
Eveline Wollmann, genannt Eva, ist beinahe 88 Jahre alt und noch immer eine fidele Person. Mittwochs geht sie zwei Stunden kegeln. Sie liebt Kaffeeklatsch mit Pfannkuchen und sie erzählt gern von früher. Auch vom Tag, als jene Bombe fiel und sich, ohne zu krepieren, in ein Feld drüben bei Krietzschwitz bohrte, kann sie berichten. Denn sie war dabei.
Damals ist Eva ein zehnjähriges Schulmädchen und der Zweite Weltkrieg geht dem Ende entgegen. Am 15. Februar 1945, Punkt Mittag, rennt sie mit vielen anderen in den "Bunker". So nennt man die Höhle, die in den lehmigen Berg der Viehleite, Pirnas Stadtwald, gegraben ist. Als der Angriff losgeht, wanken die mächtigen Stützpfeiler so heftig, dass Eva glaubt, sie müssten umstürzen. "Eine Frau neben uns fing an zu beten."
Angriff löscht vierzehn Leben aus
Binnen weniger Minuten sollen 430 Sprengbomben auf Pirnas Süden niedergeregnet sein. Ein Gutteil fiel in den Wald. Die Trichter sind noch da. Doch auch die Pionier-Kaserne wurde getroffen und Pirnas neuestes Wohngebiet, die "Hermann-Göring-Siedlung". Hier starben vierzehn Menschen. Zwölf Häuser wurden in Stücke gesprengt, zahlreiche weitere schwer beschädigt. Beinahe 230 Obdachlose gibt es.
Was die amerikanischen Bomber über Pirna wollten? Vermutlich gar nichts. Historiker gehen davon aus, dass die Stadt zu dieser Zeit nicht mal als Gelegenheitsziel wichtig genug war. Die betreffenden Staffeln der 1. US-Luftdivision, angesetzt auf den Bahnhof Dresden-Friedrichstadt, hatten es wohl verpasst, ihre Bombenschächte zu öffnen und holten das über Pirna nach.
Milderung für katastrophalen Wohnraummangel
Der grausame Zufall traf eine Mustersiedlung, die ausgerechnet den Namen von Hitlers oberstem Luftkrieger trug. 1938 war das nagelneue Stadtviertel auf den Namen Hermann Görings getauft worden, des Chefs der Luftwaffe. Die Straßenzüge hießen nach berühmten Jagdflieger, aber auch nach Vordenkern und "Märtyrern" des Nationalsozialismus.
Eva Wollmann, geboren als Eva Weinhold, zieht 1937 in das Haus an der Richthofen-Straße, das ihre Eltern Karl Georg, ein Ingenieur, und Elisabeth, eine gelernte Schneiderin, am Rundteil gebaut haben, einem kreisrunden Platz mit Grüninsel und Brunnen. Die Siedlung soll einmal tausend Wohnungen haben. Sie ist als Glanzstück des sozialen Wohnungsbaus gedacht, das Pirnas katastrophales Wohnraumproblem mildern soll. Der Pirnaer Anzeiger spricht zur Weihe 1938 vom "Wohnparadies im Pirnaer Süden".
Vorzeigeprojekt der Volksgemeinschaft
Wie im Paradies fühlten sich die Bewohner wohl wirklich. Arbeiter und kleine Angestellte, die mit Frau und Kinderschar in lichtlosen Löchern oder unter zugigen Dächern gehaust hatten, konnten sich plötzlich ein Eigenheim leisten. Der Staat sorgte dafür, dass der Bau billig war. Wenig Eigenkapital und eine erschwingliche Tilgungsrate für den Kredit, zeitgenössische Pressetexte sprechen von dreißig Mark im Monat, machten es zum Privileg, ein Siedler zu sein.
Die "Hermann-Göring-Siedlung" war eine Attraktion, wohin man Sonntagsausflüge machte. Zugleich war sie ein Propaganda-Instrument des Führerstaats, das die Potenz der Volksgemeinschaft demonstrieren sollte. "Solch eine Wohngemeinschaft hat auch beachtlichen erzieherischen Wert", schreibt der Pirnaer Anzeiger damals. Sauberkeit und Ordnung auf Straßen und Plätzen zwinge die Bewohner, das eigene Heim in Ordnung zu halten. "Für asoziale Elemente ist in der Hermann-Göring-Siedlung kein Raum."
Unter der Decke das Ohr am "Feindsender"
Gleichwohl, so sagen es betagte Einwohner, lebten im Viertel nicht mehr und nicht weniger stramme Hitlerleute, als anderswo. Eva Wollmann berichtet über ihren Vater, er sei zwar in der Partei, aber "so halb und halb" gewesen. Die Mutter, vormals bei einem jüdischen Konfektionsgeschäft angestellt, habe nichts auf die Nazis gegeben. Mit der Decke überm Radio hörte sie BBC, den "Feindsender". Die Erkennungsmelodie, vier Takte aus Beethovens Fünfter, hat Eva heute noch im Ohr: "Bum, bum, bum, bummm - Hier spricht England!"
Die Mutter war es auch, die paketweise Pfannkuchen buk und sie unter der kleinen Brücke am Wald versteckte, damit die Kriegsgefangenen sie finden, die, so denkt Eva, mit dem Bau des "Bunkers" beschäftigt waren. Aber es gab auch andere Leute. Einer der Nachbarn wollte auf dem Rondell noch kurz vor knapp einen Schützengraben ausheben, um die Sowjetarmee aufzuhalten.
Treibgut aus der Hölle Dresden
In der Nacht des 13. Februar erhielten die Siedler einen Vorgeschmack des nahenden Krieges, als sie aus dem Schutzstollen traten und gen Westen schauten, zur Hölle Dresden. "Der Himmel war rot wie ein Glutofen", sagt Eva Wollmann. Tags darauf lagen an der Hausecke angekohlte Papiere aus einer Rechtsanwaltskanzlei von der Prager Straße. Der Feuersturm hatte sie her geweht.
Am 15. Februar traf es die Siedlung selbst. Evas Haus kam mit gesplitterten Fenstern und zerschlagenen Dachsteinen davon. Die leeren Höhlen wurden mit Pappe zugenagelt. Andere hatten weniger Glück. So fehlte vom Doppelhaus gegenüber die Hälfte. Das Haus des Postsekretärs, eines der schönsten und größten in der Richthofen-Straße, wurde komplett zerstört. Das Milchgeschäft blieb nur deshalb stehen, weil die Bombe, die mitten hinein fiel, ein Blindgänger war.
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Die Narben in den Häuserzeilen sind geheilt. In den Seelen sind sie offen. Manch alter Siedler lebt noch immer auf demselben Stück Erde, auf dem Eltern oder Geschwister damals umkamen, und kann bis heute nicht davon sprechen.
Wenn Eva Wollmann jetzt die Nachrichten aus der Ukraine sieht, fragt sie sich, was die Angreifer treibt, warum die Russen ihrem Präsidenten glauben. Aber mit Hitler war es ja genau so, sagt sie. "Wir haben es ja auch geglaubt, diesen Wahnsinn." Eva Wollmann hat damit abgeschlossen. "Ich hab' den Krieg mitgemacht", sagt sie. "Ich brauch keinen mehr."