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Als der Tod ins Paradies fiel

Zwei Tage nach Dresden dröhnen Bombenflieger im Februar 1945 auch über Pirnas Südvorstadt. Die zehnjährige Eva Wollmann flieht unter die Erde.

Von Jörg Stock
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"Das hat uns die Luft genommen." Am Mittag des 15. Februar 1945 schockt ein Bombenangriff die Bewohner von Pirnas "Hermann-Göring-Siedlung". Im Bild das gesprengte Wohnhaus von Frisör Nitsche im Zentrum des beliebten Viertels.
"Das hat uns die Luft genommen." Am Mittag des 15. Februar 1945 schockt ein Bombenangriff die Bewohner von Pirnas "Hermann-Göring-Siedlung". Im Bild das gesprengte Wohnhaus von Frisör Nitsche im Zentrum des beliebten Viertels. © Foto: privat

Als am Abend des 25. Januar 2018 Polizisten an der Haustür von Eveline Wollmann klingeln und ihr sagen, sie solle ihre Sachen packen, hinterm Wald sei eine Bombe gefunden worden, da ist sie folgsam. Die Stunden bis zur Entschärfung hockt sie bei Bekannten außerhalb des Bannkreises. "So was Blödes", sagt sie heute. Heute wäre sie einfach ins Bett gegangen und hätte das Licht ausgemacht. "Wer den Krieg erlebt hat, der hat keine Angst mehr."

Explosionen rütteln an den Stützpfeilern

Eveline Wollmann, genannt Eva, ist beinahe 88 Jahre alt und noch immer eine fidele Person. Mittwochs geht sie zwei Stunden kegeln. Sie liebt Kaffeeklatsch mit Pfannkuchen und sie erzählt gern von früher. Auch vom Tag, als jene Bombe fiel und sich, ohne zu krepieren, in ein Feld drüben bei Krietzschwitz bohrte, kann sie berichten. Denn sie war dabei.

"Ich brauch' keinen Krieg mehr." Eva Wollmann, 87, vor ihrem Haus in der Pirnaer Südvorstadt. In einem nahen Luftschutzstollen überstand sie als Zehnjährige den Bombenangriff 1945.
"Ich brauch' keinen Krieg mehr." Eva Wollmann, 87, vor ihrem Haus in der Pirnaer Südvorstadt. In einem nahen Luftschutzstollen überstand sie als Zehnjährige den Bombenangriff 1945. © Daniel Schäfer

Damals ist Eva ein zehnjähriges Schulmädchen und der Zweite Weltkrieg geht dem Ende entgegen. Am 15. Februar 1945, Punkt Mittag, rennt sie mit vielen anderen in den "Bunker". So nennt man die Höhle, die in den lehmigen Berg der Viehleite, Pirnas Stadtwald, gegraben ist. Als der Angriff losgeht, wanken die mächtigen Stützpfeiler so heftig, dass Eva glaubt, sie müssten umstürzen. "Eine Frau neben uns fing an zu beten."

Angriff löscht vierzehn Leben aus

Binnen weniger Minuten sollen 430 Sprengbomben auf Pirnas Süden niedergeregnet sein. Ein Gutteil fiel in den Wald. Die Trichter sind noch da. Doch auch die Pionier-Kaserne wurde getroffen und Pirnas neuestes Wohngebiet, die "Hermann-Göring-Siedlung". Hier starben vierzehn Menschen. Zwölf Häuser wurden in Stücke gesprengt, zahlreiche weitere schwer beschädigt. Beinahe 230 Obdachlose gibt es.

"Mehr draußen und im Wald als zu Hause." Eva (M.) mit ihren Freundinnen beim Fasching 1939. Spielkameraden gab es für sie in der Siedlung zuhauf.
"Mehr draußen und im Wald als zu Hause." Eva (M.) mit ihren Freundinnen beim Fasching 1939. Spielkameraden gab es für sie in der Siedlung zuhauf. © privat

Was die amerikanischen Bomber über Pirna wollten? Vermutlich gar nichts. Historiker gehen davon aus, dass die Stadt zu dieser Zeit nicht mal als Gelegenheitsziel wichtig genug war. Die betreffenden Staffeln der 1. US-Luftdivision, angesetzt auf den Bahnhof Dresden-Friedrichstadt, hatten es wohl verpasst, ihre Bombenschächte zu öffnen und holten das über Pirna nach.

Milderung für katastrophalen Wohnraummangel

Der grausame Zufall traf eine Mustersiedlung, die ausgerechnet den Namen von Hitlers oberstem Luftkrieger trug. 1938 war das nagelneue Stadtviertel auf den Namen Hermann Görings getauft worden, des Chefs der Luftwaffe. Die Straßenzüge hießen nach berühmten Jagdflieger, aber auch nach Vordenkern und "Märtyrern" des Nationalsozialismus.

Eva mit Vater Karl auf der Straße vor dem Haus der Familie um 1938. Hinter dem Gebäude links wurde später der Luftschutzstollen in den Berg getrieben.
Eva mit Vater Karl auf der Straße vor dem Haus der Familie um 1938. Hinter dem Gebäude links wurde später der Luftschutzstollen in den Berg getrieben. © privat

Eva Wollmann, geboren als Eva Weinhold, zieht 1937 in das Haus an der Richthofen-Straße, das ihre Eltern Karl Georg, ein Ingenieur, und Elisabeth, eine gelernte Schneiderin, am Rundteil gebaut haben, einem kreisrunden Platz mit Grüninsel und Brunnen. Die Siedlung soll einmal tausend Wohnungen haben. Sie ist als Glanzstück des sozialen Wohnungsbaus gedacht, das Pirnas katastrophales Wohnraumproblem mildern soll. Der Pirnaer Anzeiger spricht zur Weihe 1938 vom "Wohnparadies im Pirnaer Süden".

Vorzeigeprojekt der Volksgemeinschaft

Wie im Paradies fühlten sich die Bewohner wohl wirklich. Arbeiter und kleine Angestellte, die mit Frau und Kinderschar in lichtlosen Löchern oder unter zugigen Dächern gehaust hatten, konnten sich plötzlich ein Eigenheim leisten. Der Staat sorgte dafür, dass der Bau billig war. Wenig Eigenkapital und eine erschwingliche Tilgungsrate für den Kredit, zeitgenössische Pressetexte sprechen von dreißig Mark im Monat, machten es zum Privileg, ein Siedler zu sein.

"Ein Wohnparadies in Pirnas Süden." Blick 1941 von Evas Elternhaus an der Richthofen-Straße, jetzt Dürer-Straße, in die Lilienthal-Straße, heute Ludwig-Richter-Straße.
"Ein Wohnparadies in Pirnas Süden." Blick 1941 von Evas Elternhaus an der Richthofen-Straße, jetzt Dürer-Straße, in die Lilienthal-Straße, heute Ludwig-Richter-Straße. © privat

Die "Hermann-Göring-Siedlung" war eine Attraktion, wohin man Sonntagsausflüge machte. Zugleich war sie ein Propaganda-Instrument des Führerstaats, das die Potenz der Volksgemeinschaft demonstrieren sollte. "Solch eine Wohngemeinschaft hat auch beachtlichen erzieherischen Wert", schreibt der Pirnaer Anzeiger damals. Sauberkeit und Ordnung auf Straßen und Plätzen zwinge die Bewohner, das eigene Heim in Ordnung zu halten. "Für asoziale Elemente ist in der Hermann-Göring-Siedlung kein Raum."

Unter der Decke das Ohr am "Feindsender"

Gleichwohl, so sagen es betagte Einwohner, lebten im Viertel nicht mehr und nicht weniger stramme Hitlerleute, als anderswo. Eva Wollmann berichtet über ihren Vater, er sei zwar in der Partei, aber "so halb und halb" gewesen. Die Mutter, vormals bei einem jüdischen Konfektionsgeschäft angestellt, habe nichts auf die Nazis gegeben. Mit der Decke überm Radio hörte sie BBC, den "Feindsender". Die Erkennungsmelodie, vier Takte aus Beethovens Fünfter, hat Eva heute noch im Ohr: "Bum, bum, bum, bummm - Hier spricht England!"

Nach dem Angriff: Das völlig zerbombte Mehrfamilienhaus Boelke-Straße 10, jetzt Cranach-Straße. An dieser Stelle befindet sich heute ein Parkplatz.
Nach dem Angriff: Das völlig zerbombte Mehrfamilienhaus Boelke-Straße 10, jetzt Cranach-Straße. An dieser Stelle befindet sich heute ein Parkplatz. © Marcel Weise

Die Mutter war es auch, die paketweise Pfannkuchen buk und sie unter der kleinen Brücke am Wald versteckte, damit die Kriegsgefangenen sie finden, die, so denkt Eva, mit dem Bau des "Bunkers" beschäftigt waren. Aber es gab auch andere Leute. Einer der Nachbarn wollte auf dem Rondell noch kurz vor knapp einen Schützengraben ausheben, um die Sowjetarmee aufzuhalten.

Treibgut aus der Hölle Dresden

In der Nacht des 13. Februar erhielten die Siedler einen Vorgeschmack des nahenden Krieges, als sie aus dem Schutzstollen traten und gen Westen schauten, zur Hölle Dresden. "Der Himmel war rot wie ein Glutofen", sagt Eva Wollmann. Tags darauf lagen an der Hausecke angekohlte Papiere aus einer Rechtsanwaltskanzlei von der Prager Straße. Der Feuersturm hatte sie her geweht.

Warnung vor Blindgängern am heutigen Mittelweg. Eva und ihre Spielkameraden gingen trotzdem gucken. "Wir waren ein wildes Volk."
Warnung vor Blindgängern am heutigen Mittelweg. Eva und ihre Spielkameraden gingen trotzdem gucken. "Wir waren ein wildes Volk." © Foto: privat

Am 15. Februar traf es die Siedlung selbst. Evas Haus kam mit gesplitterten Fenstern und zerschlagenen Dachsteinen davon. Die leeren Höhlen wurden mit Pappe zugenagelt. Andere hatten weniger Glück. So fehlte vom Doppelhaus gegenüber die Hälfte. Das Haus des Postsekretärs, eines der schönsten und größten in der Richthofen-Straße, wurde komplett zerstört. Das Milchgeschäft blieb nur deshalb stehen, weil die Bombe, die mitten hinein fiel, ein Blindgänger war.

Die Narben in den Häuserzeilen sind geheilt. In den Seelen sind sie offen. Manch alter Siedler lebt noch immer auf demselben Stück Erde, auf dem Eltern oder Geschwister damals umkamen, und kann bis heute nicht davon sprechen.

"Eine Frau fing an zu beten." Dieses Lüftungsrohr in der Viehleite verrät noch immer, wo sich der Luftschutzstollen befand.
"Eine Frau fing an zu beten." Dieses Lüftungsrohr in der Viehleite verrät noch immer, wo sich der Luftschutzstollen befand. © SZ/Jörg Stock

Wenn Eva Wollmann jetzt die Nachrichten aus der Ukraine sieht, fragt sie sich, was die Angreifer treibt, warum die Russen ihrem Präsidenten glauben. Aber mit Hitler war es ja genau so, sagt sie. "Wir haben es ja auch geglaubt, diesen Wahnsinn." Eva Wollmann hat damit abgeschlossen. "Ich hab' den Krieg mitgemacht", sagt sie. "Ich brauch keinen mehr."