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Der Unersättliche vom Sonnenberg

Das Polizeimuseum Dresden sammelt Beweisstücke sächsischer Krimigeschichte. Von einem der grausamsten Verbrechen in Chemnitz gibt es nur noch zwei Tafeln und Teile einer Akte über einen kannibalischen Mord.

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© Ronald Bonß

Von Thomas Schade

Schon das düstere Rotbraun der Ausstellungstafel verrät nichts Gutes. Ein kahlköpfiger Mann schaut streng und kalt von der Wand. Eine Säge und ein Frauenkopf lassen ahnen, dass dem Besucher hier auch die letzten Abgründe menschlichen Handelns nicht verborgen bleiben.

Der Laden der Ida Oehme in der Uhlandstraße auf dem Chemnitzer Sonnenberg ist bis heute zu sehen und ein Ziel für kriminalistische GPS-Schnitzeljäger. Foto: Uwe Kaufmann
Der Laden der Ida Oehme in der Uhlandstraße auf dem Chemnitzer Sonnenberg ist bis heute zu sehen und ein Ziel für kriminalistische GPS-Schnitzeljäger. Foto: Uwe Kaufmann © Ronald Bonß

Es geht um ein jahrzehntealtes Verbrechen, das sofort an einen aktuellen Fall in Sachsen erinnert. Seit Freitag steht der Kriminalbeamte Detlev G. vor dem Landgericht in Dresden. Er soll einen anderen Mann auf dessen Wunsch hin getötet, zerstückelt und vergraben haben, so beschuldigt ihn die Staatsanwaltschaft. Es gibt keine Hinweise, dass der Angeklagte Teile der Leiche verspeist hat. Dennoch ist das Entsetzen groß. Aber Detlev G. ist nicht der Erste, der sich in Sachsen wegen einer so abscheulichen Tat verantworten muss. Dass es sogar Schlimmeres gab, ist in der polizeihistorischen Sammlung in Dresden zu besichtigen.

Die rotbraune Papptafel ist mindestens 60 Jahre und zählt zu den älteren Teilen der Sammlung, wenn auch nicht zu den ältesten. „Sie gehört zu den wenigen Exponaten, die wir aus der Zeit unmittelbar nach 1945 haben“, sagt Wolfgang Schütze, der Leiter der Sammlung. Sie dürfte 1948 entstanden sein, schätzt er. Vermutlich für Lehrzwecke beim Aufbau der neuen Polizei in der sowjetischen Besatzungszone. Im Grunde vermittelt die Tafel das blanke Grauen, denn sie erinnert an Bernhard Oehme, den Kannibalen vom Chemnitzer Sonnenberg, und an Ida, seine Schwester – und sein Opfer.

Ida Oehme hat am 20. November 1947 ihren 63. Geburtstag begangen. Sie betreibt in den Nachkriegsjahren ein kleines Kurzwarengeschäft in der Chemnitzer Uhlandstraße 25, ein paar Straßen hinter dem Hauptbahnhof. Damit verdient sie ihren Lebensunterhalt.

Etwa drei Wochen nach dem Geburtstag zieht der zwei Jahre ältere Bruder Bernhard zu ihr, ein gelernter Former. Er ist gerade aus der Untersuchungshaft entlassen worden. Die Staatsanwaltschaft hatte ihm zur Last gelegt, er habe versucht, seine Frau Liddy mit Zyankali zu vergiften. Doch das Chemnitzer Landgericht hat ihn freigesprochen. Aus der Sicht der Richter gab es nicht genügend Beweise.

Die Gattin will ihn danach nicht mehr sehen, deshalb zieht er zur Schwester. Sie habe den Bruder nur aufgenommen, damit er nicht obdachlos sei, erzählt Ida Oehme ihrer Freundin Charlotte Heinrich. Sie wolle Bernhard schnell wieder loswerden, denn er sei grob, unersättlich und würde alles wegessen, erzählt sie der Freundin, die quasi um die Ecke wohnt. Charlotte Heinrich sagt später bei der Polizei, sie habe selbst gesehen, wie Bernhard Oehme einmal einen ofenfrischen Kuchen anschnitt, und große Stücke davon gegessen habe.

Am 8. Januar 1948, einem Donnerstag, schaut Charlotte Heinrich kurz vor Ladenschluss bei ihrer Freundin rein, lehnt deren Einladung zu einer Plauderstunde am Abend aber ab, weil ihr Sohn sie besuchen will. Als Charlotte Heinrich am darauffolgenden Sonntag nach Ida fragt, erfährt sie vom Bruder nur, dass ihre Freundin zum Hamstern gefahren und noch nicht zurück sei. In den Nachkriegsjahren waren Lebensmittel in den Großstädten knapp. Deshalb fuhren Städter über Land, um bei Bauern etwas Essbares aufzutreiben.

Am Mittwochabend sei Ida nach Falkenberg, Fichtenberg und Döbeln aufgebrochen, sagt Bernhard Oehme. Das wundert Charlotte Heinrich, denn am Donnerstag hat sie ja noch mit Ida gesprochen, und von der Hamsterfahrt war da keine Rede.

Am Montag verfliegen die Zweifel. Denn Charlotte Heinrichs Sohn ist es gelungen, in Döbeln anzurufen. Am Telefon sagt man ihm, dass Ida Oehme tatsächlich in Döbeln sei. Der Freundin fällt aber auf, dass Bernhard Oehme ein ziemliches Durcheinander in der Küche angerichtet hat, seit Ida weg ist. Eimer und Töpfe stehen herum, es riecht komisch. In der Verwandtschaft hat er nach Einweckgläsern gefragt und gesagt, er habe Fleisch aufgetrieben, das wolle er einkochen.

Bei der nächsten Begegnung erzählt Bernhard Oehme, Ida sei noch nicht zurück, weil sie in Döbeln erkrankt sei. Er zeigt Charlotte Heinrich ein Glas mit der Aufschrift „Gift“ und spricht die Befürchtung aus, dass seine Schwester davon genommen haben könnte. Am nächsten Tag, dem 15. Januar, wolle er hinfahren, um nach ihr zu sehen.

Doch Oehme fährt nicht. Stattdessen erzählt er der Freundin, er sei bei der Polizei gewesen. Dort habe er erfahren, dass seine Schwester nicht in Döbeln sei. Die Auskunft, die sie erhalten habe, sei durch eine Verwechslung zustande gekommen. Am 16. Januar, Ida Oehme ist seit einer Woche weg, sagt ihr Bruder zu Charlotte Heinrich: Von der Polizei wisse er, dass in Fichtenberg eine Frau aus dem Wasser gezogen worden sei, auf die die Beschreibung seiner Schwester passe. Der Ort ist heute ein Teil von Mühlberg an der Elbe.

Nun ist Charlotte Heinrichs Geduld am Ende. Sie sagt zu Oehme: Entweder er zeige das Verschwinden seiner Schwester selbst bei der Polizei an oder sie werde das tun. So registriert das 5. Polizeirevier in Chemnitz, dass am 16. Januar 1948 „ein gewisser Oehme“ erschien und erklärte, dass er seit acht Tagen seine Schwester vermisse, die sich wohl mit Zyankali vergiftet habe.

Bernhard Oehme und Zyankali – da klingeln im 5. Polizeirevier die Alarmglocken. Man weiß auch dort von Oehmes Giftmordversuch an seiner Ehefrau Liddy, der Prozess hat für Aufsehen in der Stadt gesorgt. So liegt die Vermisstenanzeige am nächsten Tag auf dem Tisch der Mordkommission des Chemnitzer Kriminalamtes. Noch am Sonnabend werden Familienangehörige von Ida Oehme befragt. Von denen erfährt die Kripo, dass Idas Bruder seit ihrem Verschwinden ab und zu zwei wertvolle Ringe seiner Schwester trägt, und dass er ein Paket geöffnet hat, das an sie gerichtet war. Diese Hinweise veranlassen den Kriminalinspektor Böhme, Bernhard Oehme noch am selben Tag festzunehmen.

Am folgenden Montag fahren vier Mitarbeiter der Mordkommission in die Uhlandstraße 25. Ein Zettel mit der Aufschrift „Wegen Krankheit geschlossen“ hängt am heruntergelassenen Rollladen des Geschäftes von Ida Oehme. In der Küche fällt dem Kriminalinspektor Böhme sofort die Unordnung auf. Er war schon einmal hier, als er wegen des Giftmordversuches ermittelte. Da herrschte in der Küche „peinlichste Ordnung und Sauberkeit“, schreibt er später in seinem Bericht. Jetzt liegt ein Hammer in der Sofaecke, an dem Blut und Haare kleben. Auf dem Herd stehen Töpfe voller Fleischreste und abgenagte Knochen. In der Schlafkammer steht ein Eimer, ein Tontopf und eine Waschschüssel voller Fleisch. Auch zwei Sägen und Frauenkleider voller Blut liegen herum. Im Keller, so schreibt Böhme im Tatortbericht, bietet sich „der Mordkommission ein entsetzlicher Anblick“. In einem Eimer liegen der Kopf und in einem Korb die abgetrennten Hände und Füße einer Frau. Gerichtsmediziner stellen am selben Tag fest, dass in der Wohnung eine Frau mit einem Hammer der Schädel eingeschlagen und ihre Leiche zerstückelt worden ist.

Am nächsten Tag sitzt Bernhard Oehme Mitarbeitern der Mordkommission gegenüber. Die Vernehmung wird fast 28 Stunden dauern. Oehme ist der Polizei vor allem als Geldfälscher bekannt. Nun erzählt er eine andere recht plausible Geschichte. Am 8. Januar habe er Ida tot in der Küche gefunden. Um ihr den Makel einer Selbstmörderin zu nehmen, habe er Ida den Schädel eingeschlagen. Und weil er fürchten musste, als Täter in Verdacht zu kommen, habe er die Leiche in der Nacht zerteilt. Am nächsten Morgen habe er überlegt, „dass das Fleisch noch brauchbar sei zum Essen“. So steht es im Protokoll.

Auf die Frage, warum er das Fleisch seiner Schwester gekocht, gebraten und gegessen habe, antwortet Oehme: „Ich gebe zu, dass ich eine gewisse Gier nach Fleisch habe.“ Kriminalinspektor Böhme schreibt drei Tage später in seinen Bericht: Oehme sei „hemmungslos verfressen“. Er verlangt sogar in der Haft noch nach dem Fleisch seiner Schwester und lädt die Beamten ein, auch davon zu kosten. Böhme spricht von „einem ganz kalten Menschen“, der Fragen „klar und präzis“ beantwortet und „in wohlüberlegten Sätzen sprach“, ohne „irgendwelche geistigen Mängel“. Erst unter dem Druck der Indizien sei er unsicher geworden. Die Gerichtsmediziner hatten herausgefunden, dass Ida Oehme noch lebte, als Bernhard ihr den Schädel einschlug.

Nach dem Ende der Vernehmung gesteht er, dass sie am 8. Januar abends Streit hatten. Ida sei zornig gewesen, weil er sich wieder nicht um eine eigene Wohnung gekümmert hatte. Da habe er zugeschlagen, und ihr später den Hals aufgeschnitten, obwohl, wie er sagt, „noch Leben in ihr war“.

Die Mordkommission ist überzeugt, dass Bernhard Oehme aus kalter Berechnung gehandelt hat, ohne sexuelle Begierde. Er ist der nächste Erbe seiner Schwester, hat bereits Geld von ihr ausgegeben, ihre Wäsche versetzt und trägt ihre Ringe. Sogar sein Wohnungsproblem wäre gelöst gewesen, wäre Idas Verschwinden nicht Freunden und Verwandten aufgefallen.

Trotz seiner Grausamkeit verhängt das Chemnitzer Landgericht gegen Bernhard Oehme nicht die Todesstrafe. Er wird zu zehn Jahren Haft verurteilt und einige Zeit später in das sowjetische Speziallager nach Bautzen überstellt. Dort stirbt er, noch ehe das Lager 1956 aufgelöst wird.

Die polizeihistorische Sammlung im Polizeipräsidium in der Dresdner Schießgasse ist nur nach Voranmeldung zu besichtigen. Telefon: 0351/4833447.