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Politik: Muss es immer nachts sein?

Corona, Brexit-Schritte, Rettungspakete - in der Politik werden viele Entscheidungen nachts getroffen. Strategisch sinnvoll oder politisch notwendig?

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Kanzlerin Merkel (CDU) macht ihre politischen Gegner gerne müde - um ihnen so Zugeständnisse zu entlocken.
Kanzlerin Merkel (CDU) macht ihre politischen Gegner gerne müde - um ihnen so Zugeständnisse zu entlocken. ©  dpa/Kay Nietfeld

Berlin. Nachts im Regierungsviertel ist es ruhig. Radfahrer oder Spaziergänger entlang der Spree sieht man selten. Doch die Stille zwischen Kanzleramt und Reichstag trügt oft - man muss nur einen Blick hinter die Mauern werfen.

Etwa wenn im Paul-Löbe-Haus der Wirecard-Untersuchungsausschuss tagt und bis tief in die Nacht Banker befragt. Oder wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) mit Ministern oder dem Koalitionspartner verhandelt. Nachtsitzungen sind üblich in der Politik - aber sind sie wirklich nötig?

Müdigkeit wird nicht akzeptiert

Meist schon, meint einer, der es wissen muss. Thomas de Maizière (CDU) hat 28 Jahre Regierungserfahrung, war Kanzleramtschef, Verteidigungs- und Innenminister. Welche Nacht die anstrengendste in seiner Politikerlaufbahn war, das kann de Maizière nicht genau sagen. "Die längsten Sitzungen, an denen ich teilgenommen habe, waren meist Koalitionsverhandlungen", sagt er.

Ex-Innenminister Thomas de Maizière: Müdigkeit statt Politkrise.
Ex-Innenminister Thomas de Maizière: Müdigkeit statt Politkrise. © Claudia Hübschmann

Sitzungen abzubrechen und am nächsten Morgen fortzufahren, komme auch ohne Krisensituation meist nicht in Frage, sagt de Maizière. "Wenn eine Verhandlung am nächsten Tag weitergeführt wird, ist der Eindruck in der Presse meist: Da ist eine Krise." Eine harmlose Erklärung, etwa dass alle Teilnehmer müde seien, werde meist nicht akzeptiert.

Merkels Strategie: Nachts Kompromisse abringen

In vielen Situationen spiele auch Strategie eine Rolle. "Viele versprechen sich von einer langen Verhandlungsdauer einen taktischen Vorteil", sagt de Maizière. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ist etwa für ihre physische Ausdauer in langen Sitzungen bekannt - die sie einsetzt, um nachts ihren müde werdenden Verhandlungspartnern Kompromisse abzuringen.

Auch der Politikwissenschaftler Benjamin Höhne betont, dass es zum politischen Betrieb dazugehöre, Sitzfleisch zu zeigen. "Starken Durchhaltewillen hat man auch Frau Merkel schon vor der Kanzlerschaft nachgesagt. Sie war nicht diejenige, die als erstes nach Hause gegangen ist. Sondern sie blieb auch nach den offiziellen Programmpunkten dabei", sagt der stellvertretende Leiter des Instituts für Parlamentarismusforschung.

Wer nach oben will, muss sich beweisen

Diese Ausdauer zu zeigen, bringe auch Nachwuchs-Politiker weiter, meint de Maizière. "Lange Verhandlungen sind auch für junge Leute eine gute Gelegenheit, Einfluss zu nehmen", sagt der CDU-Politiker.

Der Verhandlungsführer brauche jemanden, der Papiere vorbereite, mitschreibe und Absprachen halte. "Wenn Sie sich anschauen, wer in den vergangenen Jahren nach oben gekommen ist, waren das meist Leute, die sich bei anstrengenden Verhandlungen profiliert haben."

Langes Durchhalten ist auch im Wirecard-Untersuchungsausschuss gefragt. CDU Obmann Matthias Hauer sagt, dass oft strategische Gründe dafür sprächen, notfalls nachts einen Zeugen dranzunehmen.

"Sonst kann der nach Hause fahren, seine Strategie noch mal überdenken und im Internet lesen, was andere Zeugen an dem Abend im Ausschuss ausgesagt haben. Das wäre im Sinne der Aufklärung nicht gut." Es gebe jedoch auch Termindruck. Schließlich müsse der Ausschuss seine Arbeit mit Ablauf der Legislaturperiode beenden. Bis 3 Uhr zu tagen und um 8.30 Uhr weiterzumachen, sei sicherlich nicht ideal - aber gebe es
eine Alternative in den Sitzungswochen?

Sorge um Gesundheit: Vorbild Schweden?

Kritik an den nächtlichen Sitzungen in der Politik generell wird dennoch regelmäßig laut. 2019 etwa entbrannte eine Debatte über die Arbeitszeiten im Bundestag, nachdem zwei Parlamentarier einen Schwächeanfall hatten. Seitdem sollen donnerstags die Bundestagsdebatten, die früher oft bis Mitternacht gingen, früher enden. Diese neue Regelung habe sich am stärksten in den ersten Wochen ausgewirkt, meint Anke Domscheit-Berg, die netzpolitische Sprecherin der Linken-Fraktion. "Ob die Verkürzung der Plenartage jedoch nachhaltig und ausreichend ist, wird sich erst nach der Pandemie beurteilen lassen", sagt sie.

Würde es ihrer Meinung nach anders gehen? Ja, sagt Domscheit-Berg und verweist auf das schwedische Parlament. "Weil dort Abgeordnete in ihrer Gesamtheit akzeptieren, dass ein Leben neben dem berufspolitischen Dasein wichtig ist und die Tagesordnungen
entsprechend strukturieren." Es sei wichtig, dass Abgeordnete das alltägliche Leben aus erster Hand mitbekämen "und nicht nur in einer politischen Bundes-Filterblase leben."

Nach Einschätzung von Politikwissenschaftler Höhne nimmt die Debatte über die Arbeitszeiten von Parlamentariern an Fahrt auf. Der Politik-Nachwuchs gerade unter den Frauen rede offensiver über Arbeitszeiten. "Das kann zu einem Umdenken bei den Sitzungszeiten führen." Auch durch Corona gebe es einen Lerneffekt, beobachtet Höhne: "Die Parlamente und Parteien haben gelernt, dass man viele Sitzungen effizienter gestalten kann." (dpa)