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Ostbeauftragter: „Viele Ostdeutsche befinden sich bald auf der Sonnenseite des Kapitalismus“

Dem Osten gehe es wirtschaftlich so gut wie noch nie, sagt Carsten Schneider. Jetzt müssten noch mehr Menschen dorthin ziehen. Ein Gespräch mit einem, der seine Funktion überflüssig machen will.

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Der SPD-Politiker Carsten Schneider ist Beauftragter der Bundesregierung für Ostdeutschland. Er selbst ist 1976 in Erfurt geboren.
Der SPD-Politiker Carsten Schneider ist Beauftragter der Bundesregierung für Ostdeutschland. Er selbst ist 1976 in Erfurt geboren. © dpa/ Patrick Pleul

Von Julius Betschka und Caspar Schwietering

Herr Schneider, Helmut Kohl hat dem Osten 1990 blühende Landschaften versprochen. Was ist heute die Vision des Ostbeauftragten der Bundesregierung?

Ich hab’s ja mehr so mit der Gegenwart.

Und die sieht wie aus?

Wir haben im Osten so gute Voraussetzungen für eine stabile wirtschaftliche Entwicklung wie noch nie. Das ist die Realität. Dazu kommt, Sie haben die blühenden Landschaften angesprochen, die sehr erfolgreiche Rückgewinnung der Natur überall im Osten. Darüber wird ja auch fast nie gesprochen.

Was meinen Sie konkret?

Ich meine die Beseitigung von Umweltschäden. Wenn wir früher mit dem Zug oder Auto durch Bitterfeld gefahren sind, haben wir die Fenster zugemacht, weil es gestunken hat wie verrückt. Heute ist die Luft dort sauber. Oder nehmen Sie die Renaturierung von Flüssen, in denen man heute wieder baden kann. Die waren früher fast lebensfeindlich.

Zurück zur Wirtschaft: Was stimmt Sie derart optimistisch?

Wir sind in einer anderen Phase als in den vergangenen Jahrzehnten. Wir müssen nicht mehr aufholen, wir sind in vielen Fragen Vorreiter. Bei den Ansiedlungen von neuen Unternehmen, da geht es nicht mehr um den x-ten Logistiker oder um Callcenter, um den vermeintlichen Vorteil der niedrigen Löhne, jetzt geht es um Schlüsseltechnologien, Halbleiter und E-Mobilität. Das ist ein Qualitätssprung. Der Standort Ostdeutschland ist attraktiv, auch wegen der vorhandenen erneuerbaren Energien.

Die werden nur mit Milliarden-Subventionen vom Staat in den Osten gelenkt.

Es war ein großer Erfolg, die Ansiedlung von Intel nach Deutschland zu holen. Der Bundeskanzler hat das Vorhaben die ganze Zeit persönlich begleitet. Wir stehen im internationalen Wettbewerb mit anderen Ländern, die weit größere Summen einsetzen. Wir haben uns in der EU das Ziel gesetzt, eine größere technologische Souveränität zu erlangen. Ostdeutschland ist inzwischen das Zentrum der Halbleiterindustrie in Europa. Darauf bin ich stolz.

Können Sie den Neid im Westen nachvollziehen?

Die Förderung ist überall in Deutschland dieselbe, auch im Westen gibt es ja Ansiedlungen. Die großen Investoren suchen sich aber gezielt Ostdeutschland aus, weil es hier die besten Voraussetzungen gibt. Viel erneuerbare Energie, modernere Infrastruktur als im Westen, ausreichend Platz, eine für neue Industrie offene Bevölkerung und Politik.

Die wirtschaftliche Landkarte von Deutschland wird neu gezeichnet. Das dämmert jetzt langsam vielen, die sich zu lange auf ihrem Erfolg ausgeruht haben.

Sie zeichnen ein sehr positives Bild. Das verfügbare Einkommen privater Haushalte in Ostdeutschland ist tatsächlich von 60 Prozent im Jahr 1991 auf 89 Prozent im Jahr 2021 gestiegen. Die Stimmung im Osten ist aber oft deutlich pessimistischer, die mediale Debatte auch. Gerade bei Löhnen und Vermögen gibt es große Lücken. Ganze Landstriche überaltern, der Bus kommt nicht mehr jeden Tag, gerade im ländlichen Raum sterben die Innenstädte.

Ich setze mich für einen neuen Blick auf den Osten ein. Natürlich ist die Lage nicht überall blendend. Es gibt große Unterschiede zwischen den ländlichen Regionen und den Städten. Die Wachstumsregionen ziehen viel zu oft das Umland leer.

Das müssen wir ändern: Das Wachstum muss auch das Umland stärken. Die Stabilisierung der kleinstädtischen Regionen ist entscheidend für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und den wirtschaftlichen Erfolg.

Der Fachkräftemangel ist schon jetzt ein großes Problem, bis 2030 werden im Osten voraussichtlich 800.000 Menschen im arbeitsfähigen Alter weniger leben. Das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung in Halle hat mal vorgeschlagen, sich deshalb auf die Förderung der Boom-Zentren zu beschränken.

Das wäre ein großer Fehler, den werden wir nicht begehen. Je mehr sich der Staat zurückzieht, desto stärker werden auch die politischen Extreme.

Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Ich war vergangene Woche in der Lausitz. Dort wird es 2038 trotz Kohleausstieg mehr ordentliche, tarifvertraglich bezahlte Arbeitsplätze geben, als das heute der Fall ist. Dafür investieren wir 40 Milliarden Euro in allen Kohleregionen, übrigens auch im Rheinischen Revier. Wir geben die Lausitz nicht auf, sondern wir machen sie zukunftsfest.