SZ + Görlitz
Merken

Die Tragödie an der Neiße

Richard Süßmuth wurde aus Penzig im Kreis Görlitz vertrieben. Er beschrieb das Leid der Vertriebenen, als auch Görlitz 1945 zur Grenzstadt wurde.

Von Ralph Schermann
 5 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
Fast alle Deutschen mussten 1945 die Gebiete östlich von Oder und Neiße verlassen. Neben den wenigen Eisenbahnzügen kamen viele mit langen, strapaziösen Trecks, überwiegend zu Fuß.
Fast alle Deutschen mussten 1945 die Gebiete östlich von Oder und Neiße verlassen. Neben den wenigen Eisenbahnzügen kamen viele mit langen, strapaziösen Trecks, überwiegend zu Fuß. © Repros: Deutsche Fotothek; EKP Warschau; Sammlung

Zwischen 1944 und 1948 flohen knapp sieben Millionen Menschen aus den damaligen deutschen Ostgebieten oder wurden mehr oder weniger systematisch vertrieben. Sie erfuhren dabei unsagbares Leid, verloren nicht nur ihre Heimat und nahezu ihren gesamten Besitz, sondern oft auch einen Großteil ihrer Angehörigen.

Noch während der Tagung der Potsdamer Konferenz (17. Juli bis 2. August 1945) ließ die polnische Seite verlauten, dass es „keine ethnischen Minderheiten geben wird, deshalb schaffen wir die Deutschen hinter die Grenze“. So formulierte es jedenfalls ein von der UdSSR eingesetztes „Lubliner Komitee“ am 24. Juli 1945, also noch bevor der Beschluss zur Oder-Neiße-Grenze offiziell gefallen war.

 Aus Schlesien wurden insgesamt 3,2 Millionen Menschen vertrieben. Lediglich 140.000 durften in den ersten Jahren nach 1945 in Niederschlesien östlich der Neiße bleiben, weil sie als Fachkräfte gebraucht wurden. Zu den wenigen, die die Lage der Vertriebenen damals in eindrucksvollen Berichten festhielten, gehört Richard Süßmuth. Sein am 20. August 1945 niedergeschriebener und dem Internationalen Roten Kreuz übergebener Bericht wurde noch 1945 im Westen Deutschlands in Rundfunksendungen und Zeitungen veröffentlicht, fand übersetzt am 17. November 1945 sogar gebührenden Platz in der Zeitung „American“ in den USA.

Nach jeder Kontrolle durch polnisches Militär wurde das Hab und Gut weniger.
Nach jeder Kontrolle durch polnisches Militär wurde das Hab und Gut weniger. © Repros: Deutsche Fotothek; EKP Warschau; Sammlung

Süßmuth nannte den Beitrag „Tragödie an der Neiße – Aufzeichnungen des Leidensweges der Vertreibung“. Nach seiner Flucht im Frühjahr 1945 kam er Anfang August wieder nach Görlitz und beschrieb schon seine ersten Eindrücke als Drama: Er sah den Stau von „zehntausenden Menschen auf den Straßen“, und überall klebten solche Zettel: „Görlitz steht vor der Hungersnot! Flüchtlinge dürfen nicht hier bleiben, sie müssen weiterfahren…“ Das wurde auch durchgesetzt, notierte er: „Landjäger und Polizei kontrollierten und wiesen alle Flüchtlinge aus, die keine Aufenthaltsbewilligung hatten. Aber wohin?“

Pfarrer suchte nach Vergleichen

Richard Süßmuth sprach mit dem Pfarrer von Jauernick-Buschbach, Wendelin Siebrecht. Der hatte zusammen mit dem Bürgermeister sein Dorf gegen den Zustrom von Flüchtlingen gesperrt. Der Pfarrer reagierte auf Vorhaltungen in Sachen Nächstenliebe so: „Ein Boot, das sechs Leute fasst, ist bereits mit zehn Mann besetzt. 20 weitere Menschen wollen hinein. Wenn wir die im Boot retten wollen, müssen wir die anderen abwehren, weil sonst alle ertrinken würden. Das ist grausam, aber dennoch richtig.“

 Der Glaskünstler notierte, dass zur Zeit seines Aufenthaltes einem Görlitzer pro Woche 250 Gramm Brot, 50 Gramm Fleisch, ein Pfund Kartoffeln zustanden. Er sprach mit Stadtrat Eberhard Giese, mit Leuten vom Wohlfahrtsamt, mit Erzpriester Bollmann und Pfarrer Buchali: „Alle waren verzweifelt, niemand konnte helfen, alle örtlichen Hilfsquellen waren erschöpft.“

Süßmuth sah Turnhallen, Veranstaltungshäuser, Tanzsäle, jetzt alles „Stätten des Elends und des Todes, aber Flüchtlingen zumindest eine Weile Dach über dem Kopf. Täglich kommen Rollwagen und holen Leichen ab.“ In der Nikolaikirche zählt er 114 Särge Verhungerter binnen zweier Tage. Dazu kam ein dramatischer Anstieg von Selbsttötungen. 

Die Brücken waren gesprengt. Über eine Notbrücke der Neiße flutete der Flüchtlingsstrom. Richard Süßmuth sah genau hin: „Polnische Soldaten halten die Trecks an, nehmen den Menschen Gepäckstücke weg, lassen Pferde ausspannen. Weinend oder vor sich hin schimpfend über Rechtlosigkeit und Brutalität ziehen die Ausgewiesenen in Görlitz ein. Auf langen Wegen bis von Gleiwitz, Beuthen, Brieg oder Breslau sind sie gekommen, hofften auf Besserung in Görlitz und fühlen sich nun ausgeplündert und ohne jede Hilfe. Sie werden sich selbst überlassen, werden mitleidlos weitergetrieben, wie Aussätzige.“

Menschen baten vergeblich um Hilfe

Das Bild zeigt einen der Befehle, mit denen die Deutschen vertrieben wurden. Dieser hier stammt aus Glatz und ordnete den Weg über Görlitz an.
Das Bild zeigt einen der Befehle, mit denen die Deutschen vertrieben wurden. Dieser hier stammt aus Glatz und ordnete den Weg über Görlitz an. © Repros: Deutsche Fotothek; EKP Warschau; Sammlung

Über hundert Kilometer zog Richard Süßmuth, selbst ein Vertriebener, die Neiße gen Norden. „Am furchtbarsten“ fand er „die Zustände auf dem Neißeübergang zwischen Görlitz und Penzig, bei Lissa zum Beispiel und auch bei Zodel. Hier wurde den Leuten fast alles weggenommen, alle Wagen mussten stehenbleiben. Hier war es auch, wo bei den Trecks die Mädchen zurückbehalten wurden. Ähnliche Bilder gab es auch in Rothenburg.“

 Zweimal gelang es Süßmuth, über die Neiße zu kommen. Er traf „auf menschenleere Orte. Die Häuser waren ausgeplündert. Lastwagen der Polen holten Möbel ab. In den Gärten hingen Bäume und Sträucher voller Obst, die Ernte auf den Feldern wurde kaum geborgen, während westlich der Neiße die Menschen verhungerten. In vielen, weniger zerstörten Orten Niederschlesiens waren die Menschen ja nach Kriegsende gleich mit Neuaufbau beschäftigt, bestellten Felder, und wurden nun vertrieben.“

 Die vielen verzweifelten Aussprüche vertriebener Schlesier beeindruckten Süßmuth, vor allem hörte er dieses immer wieder: „Müssen wir ostdeutschen Menschen für den Krieg alleine büßen? Sind wir denn schlechter als die anderen? Warum kümmert sich niemand um uns? Warum sterben nach Kriegsende jetzt Zehntausende, vielleicht Hunderttausende, vielleicht Millionen Zivilisten an Straßenrändern, in Flüchtlingslagern? Wir wissen, dass für eine Kollektivschuld auch eine Sühneleistung der Gemeinschaft notwendig ist, doch gehören nur wir dazu, die wir von der nun falschen Seite der Neiße stammen?“

Die meisten Vertriebenen suchten Hilfe nicht bei einem neuen deutschen Staat, den es noch gar nicht gab, erst recht nicht bei den Besatzern. Richard Süßmuth fasste zusammen, an wen sich ihre Klagen richteten: „Wo ist die Kirche? Wo ist die Caritas? Wo ist das Rote Kreuz?“

Zur Person Richard Süßmuth

Der Vertriebene Richard Süßmuth aus dem Kreis Görlitz wurde 74 Jahre alt.
Der Vertriebene Richard Süßmuth aus dem Kreis Görlitz wurde 74 Jahre alt. © Repros: Deutsche Fotothek; EKP Warschau; Sammlung

Richard Süßmuth (1900 bis 1974) wurde aus Penzig (Kreis Görlitz) vertrieben und war ausgebildeter Glasschleifer. Er studierte an der Akademie für Kunsthandwerk Dresden und eröffnete 1924 in Penzig eine Glaskunstwerkstatt. Nach Flucht und Vertreibung baute er in Immenhausen (Hessen) eine zerstörte Glashütte wieder auf und betrieb sie ab 1946. Süßmuths Arbeiten und herausragendes Glas-Design wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Der Bundespräsident verlieh ihm 1953 das Verdienstkreuz. Im Glasmuseum Immenhausen sind wichtige Arbeiten Süßmuths noch heute in einer ständigen Ausstellung zu sehen.

Mehr aus Niesky lesen Sie hier. 

Mehr aus Görlitz lesen Sie hier.