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Die Rückkehr der Türken nach Thessaloniki

Eine wachsende Gruppe von Flüchtlingen aus der Türkei will nicht nach Nordeuropa weiterziehen. Was hält sie in Griechenland?

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Vedat Erdogan stammt aus Ostanatolien. Jetzt verwaltet er das Warenlager der Gülenisten in Thessaloniki.
Vedat Erdogan stammt aus Ostanatolien. Jetzt verwaltet er das Warenlager der Gülenisten in Thessaloniki. © Frank Nordhausen

Von Frank Nordhausen

Der kleine Laden mit blickdichten Schaufenstern nahe dem berühmten Weißen Turm in der nordgriechischen Hafenstadt Thessaloniki hat nicht einmal ein Geschäftsschild. In den zwei vollgestopften Räumen stapeln sich Honiggläser, Nudeltüten, Bohnenkonserven, an Kleiderstangen hängen Second-Hand-Klamotten, in Regalen liegt Kinderspielzeug. Doch so unscheinbar das Lager wirkt, es birgt die Keimzelle von etwas Großem: die Rückkehr der Türken in die einstmals zweitgrößte Stadt des Osmanischen Reiches.

Die vier Männer, die an diesem nasskalten Dezembertag hier nach Kleidern schauen, hat kein freier Entschluss nach Thessaloniki geführt. Sie sind aus der Türkei geflohen. „Das Warenlager ist extrem wichtig für uns“, sagt der 34-jährige Vedat Erdogan, der die Räume verwaltet. „Unsere Ersparnisse reichen zum Leben nicht aus, wir sind auf die Hilfe der Cemaat angewiesen.“ Das türkische Wort bedeutet „Gemeinde“ und bezeichnet im Alltagsjargon die Sekte des in den USA lebenden Islampredigers Fethullah Gülen, die der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan für den versuchten Militärputsch vom Juli 2016 verantwortlich macht – was der Geistliche bestreitet.

„Damals wurde unser Leben komplett auf den Kopf gestellt“, klagt Vedat Erdogan, der aus der ostanatolischen Stadt Gaziantep stammt und als Pädagoge für die „Cemaat“ tätig war. Wie er wurden Hunderttausende Anhänger der Bewegung, die lange Jahre Erdogans autoritäres System gestützt hatte, über Nacht zu „Terroristen“ erklärt. 150 000 Menschen wurden ihrer Arbeit beraubt, mehr als 50 000 verhaftet. Inzwischen ziehe der Staat sogar die Autos von Geflüchteten ein, sagen die Migranten im Warenlager, das Gülenisten mit Spenden aus ganz Europa aufgebaut haben.

Die Zahl der Türken und Kurden, die nach Griechenland flohen, hat sich 2018 gegenüber dem Vorjahr erneut mehr als verdoppelt, denn die „Säuberungen“ in der Türkei nehmen kein Ende. Viele Flüchtlinge wählen inzwischen die gefährliche Route über die Landgrenze am reißenden Evros-Fluss (türkisch: Meric) statt über die ägäischen Inseln mit ihren berüchtigten Hotspot-Lagern.

In der Schule habe er gelernt, dass die Griechen Feinde seien, doch die Wirklichkeit sei überraschend anders, sagt Vedat Erdogan. „Die Griechen haben uns gerettet!“ Umgekehrt staunten die Griechen, die sich an elend wirkende Migranten aus Afghanistan, Pakistan und Syrien gewöhnt hatten, über die gülenistischen Flüchtlinge: gut gekleidet, Euro in der Brieftasche, seriöses Auftreten.

Auch die vier Männer im Warenlager sind Angehörige dieser neuen, religiös geprägten und gut ausgebildeten türkischen Mittelschicht. Sie waren Lehrer an Gülen-Schulen, von denen es früher Hunderte im ganzen Land gab. Dass sie ausgerechnet in Griechenland landeten, ist letztlich gar nicht so abwegig. „Meine Großeltern stammen aus Thessaloniki, ich kehre jetzt zurück“, sagt einer der Männer, ein Nachhilfeschullehrer mit gestutztem Vollbart. Ähnlich äußert sich sein Freund, ein Psychologielehrer aus Istanbul: „Mein Großvater kommt aus Drama nahe der Grenze.“ Die Männer sind alle Ende dreißig und sie wollen in Thessaloniki, wo sie auf ihren Asylbescheid warten, ein neues Leben beginnen.

5500 Euro für den Schlepper

SZ-Grafik/Gernot Grunwald
SZ-Grafik/Gernot Grunwald © SZ-Grafik/Gernot Grunwald

Vedat Erdogans Geschichte ist exemplarisch. In den Tagen nach dem Putschversuch wurden seine Kollegen und Freunde verhaftet. Seine Frau wurde zu neun Jahren Gefängnis verurteilt. Ihr angebliches Verbrechen bestand darin, dass sie ein Studentenwohnheim der Gülenisten leitete. Da sie zunächst nur unter Hausarrest stand, entschieden sich die Eheleute zur Flucht. An einem kalten Tag im Februar stiegen sie mit ihren beiden Kleinkindern in der türkischen Grenzstadt Edirne aus dem Bus und übergaben einem Schlepper 5 500 Euro für die Passage. Am Evros mussten sie ein Schlauchboot besteigen und ans griechische Flussufer paddeln. „Wir hatten riesige Angst, aber alles ging glatt“, sagt der kleine, freundliche Mann.

Seine Freunde sind mit ihren drei- bis fünfköpfigen Familien erst vor Kurzem nach Thessaloniki gekommen, alle drei wurden wegen angeblicher „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ zu sieben bis neun Jahren Haft verurteilt, versteckten sich monatelang vor der Polizei. Die konkreten „Beweise“ gegen sie lauteten: Konto bei der Gülen-nahen Bank Asya, Abonnement der Gülen-Zeitung Zaman oder Besitz der bei Gülenisten beliebten Messenger-App Bylock. Die Frage nach der möglichen Beteiligung ihrer „Cemaat“ am Putschversuch entlockt den Männern nur ein müdes Lächeln. „Das glauben wir nicht“, sagen sie. „Falls es eine Verbindung gibt, wissen wir nichts davon.“.

Die vier Freunde haben mit voller Absicht in Griechenland Asyl beantragt. Sie gehören zu einer wachsenden Gruppe von Flüchtlingen aus der Türkei, die nicht nach Nordeuropa weiterziehen, sondern in der Nähe der Heimat bleiben will. „Sich hier niederzulassen, ist leider extrem schwierig“, sagt Vedat Erdogan. Die Arbeitslosenquote in Thessaloniki beträgt mehr als 25 Prozent, die mitgebrachten Ersparnisse gehen zur Neige. „Aber wir helfen uns gegenseitig.“

Illegal über den Evros

Sofia Aslanidou ist Vorsitzende des städtischen Flüchtlingsrats . Vom Balkon ihres Büros im achten Stock hat sie Ausblick über Thessaloniki.
Sofia Aslanidou ist Vorsitzende des städtischen Flüchtlingsrats . Vom Balkon ihres Büros im achten Stock hat sie Ausblick über Thessaloniki. © Frank Nordhausen

Nach Erkenntnissen der griechischen Polizei stammen von den rund 14 000 Menschen, die von Januar bis September illegal über den Evros kamen, etwa die Hälfte aus der Türkei. Der Anteil der Gülenisten werde nicht gesondert erfasst, aber er sei erheblich, sagt die Pädagogik-Professorin Sofia Aslanidou, Vorsitzende des städtischen Flüchtlingsrats von Thessaloniki, in ihrem Büro nahe dem Weißen Turm. Die resolute Mittfünfzigerin bestätigt eine deutliche Zunahme von Flüchtlingen aus der Türkei über den Evros. „Wer aber zum Beispiel nach Deutschland will, beantragt hier kein Asyl, weil er sonst dort gemäß den Dublin-Regeln der EU nicht anerkannt würde.“.

6 000 registrierte Asylsuchende leben derzeit in der Millionenstadt, davon rund ein Drittel aus der Türkei. „Fast alle sind Gülenisten“, sagt Sofia Aslanidou. Wer Asyl beantragt, hat Anspruch auf die Hilfe des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR, die für eine vierköpfige Familie rund 400 Euro monatlich beträgt, was gerade die Miete deckt. „Wir helfen bei der Wohnungssuche, bei Sprachkursen oder der Einschulung der Kinder.“. Fühlte sich die Kommune zunächst vom Flüchtlingsansturm überwältigt, so habe man sich „von der Nothilfe zur Integration“ bewegt. „Generell kann ich sagen, dass uns die Türken am wenigsten Probleme bereiten“, erläutert Aslanidou. „Sie lernen schnell Griechisch und haben fast alle ihre Kinder in unseren Schulen untergebracht.“

Der Exodus der Gülenisten nach Griechenland hat aber auch die historischen Spannungen zwischen den Nachbarländern verstärkt. Die Türkei beschuldigt die Athener Regierung, „Terroristen“ eine Heimstatt zu bieten, und fordert deren Auslieferung. Doch der Abbau des türkischen Rechtsstaats und zunehmende Berichte über Folter führen dazu, dass Asylgesuche von Gülenisten praktisch nicht abgelehnt werden. Dass ausgerechnet Thessaloniki, die alte osmanische Metropole und Heimat des türkischen Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk, jetzt zum Zentrum von Auswanderern aus der Türkei werde, findet Frau Aslanidou gut. „Bei uns existieren keine Vorurteile gegen Türken. Hier gibt es viele Griechen, die Türkisch sprechen, weil sie früher in der Türkei gelebt haben.“

Der Heimat sehr ähnlich

Der türkische Journalist Ragip Duran (64)  arbeitet seit drei Jahren in Thessaloniki für eine oppositionelle Internet-Nachrichtenplattform.
Der türkische Journalist Ragip Duran (64) arbeitet seit drei Jahren in Thessaloniki für eine oppositionelle Internet-Nachrichtenplattform. © Frank Nordhausen

Linke und kurdische Flüchtlinge aus der Türkei ziehen meist sofort weiter nach Athen, die Drehscheibe für die Weiterreise nach Norden, bestätigt Ragip Duran, ein erfahrener türkischer Journalist aus Istanbul, der seit drei Jahren in Thessaloniki für eine oppositionelle Internet-Nachrichtenplattform arbeitet. Die Türkei, sagt der 64-Jährige, sei „zu einer Hölle“ nicht nur für Gülenisten, Linke und Kurden geworden, „sondern auch für ganz normale Leute, die ihre Kinder unter normalen Bedingungen großziehen wollen“.

Die Gülenisten vergleicht Duran mit dem Opus Dei, der geheimnisumwitterten Elitetruppe des Vatikans. „Sie sind gut ausgebildet und anpassungsfähig.“ Ohnehin sei Thessaloniki ein idealer Ort für Türken, weil die „menschliche Landschaft“ der Heimat sehr ähnlich sei. „Das Essen, die Gewohnheiten, selbst die Musik – alles ist fast wie bei uns zu Hause.“ Auch politisch sei Griechenland für türkische Flüchtlinge eine gute Wahl. Denn die Regierung in Athen müsse stets dem Vorwurf begegnen, Ankara zu sehr entgegenzukommen – und schütze deshalb Dissidenten.

Beistand der Griechen

Der  Unternehmer Musa Yücel (36) lebt seit vier Monaten mit seiner Frau Güldane (39) und den Kindern Nefise (5), Muhammad Umut (16), Karim Emre (12, v.l.n.r.)  in einer kleinen Altbauwohnung in Thessaloniki.
Der  Unternehmer Musa Yücel (36) lebt seit vier Monaten mit seiner Frau Güldane (39) und den Kindern Nefise (5), Muhammad Umut (16), Karim Emre (12, v.l.n.r.)  in einer kleinen Altbauwohnung in Thessaloniki. © Frank Nordhausen

Auf den Beistand der griechischen Regierung setzt auch Musa Yücel, ein 36-jähriger, früher sehr erfolgreicher Unternehmer aus der türkischen Schwarzmeerstadt Sinop. Er lebt seit vier Monaten mit seiner Frau und drei Kindern in einer kleinen Altbauwohnung in Thessaloniki. Allerdings hat Yücel durchaus Bedenken wegen der Nähe Thessalonikis zur Türkei. „Der Geheimdienst MIT hat schon in vielen Ländern Gülenisten entführt und gefoltert“, sagt er. „Die Gefahr ist real.“.

Vor Kurzem war Yücel in Athen, um sich mit einem Freund aus Sinop zu treffen. Zum Abendessen sei überraschend ein Cousin von Fethullah Gülen gekommen, der gerade die Türkei verlassen habe, erzählt er. „Kaum saßen wir zusammen, klingelte es an der Tür, und sechs Mitarbeiter des griechischen Geheimdienstes baten um Einlass. Sie wollten den Gülen-Cousin und uns vor dem MIT warnen. Aber sie sagten auch, sie würden alles tun, um uns zu schützen.“

Musa Yücel gehörte in der Türkei zur Führungsschicht der Gülenisten. In der 60 000-Einwohner-Stadt Sinop leitete er eine Gülen-nahe Bildungsfirma, die zehn Privatschulen für rund 3 000 Schüler betrieb. Er flog oft nach Europa und Afrika, um internationale Messen und andere Gülen-Schulen zu besuchen. „Der Staatsanwalt fragte mich, warum ich dauernd ins Ausland reise. Er beschuldigte mich der Geldwäsche und Finanzierung der Gülen-Bewegung. Aber sie konnten trotz mehrerer Razzien keinen einzigen Gesetzesverstoß finden – weil es da nichts gibt.“ Zehn Tage nach dem Putschversuch wurde Musa Yücel dennoch verhaftet und acht Monate lang unter dem Vorwurf der Mitgliedschaft in einer Terrorvereinigung eingesperrt. In Verhören habe man ihm mit der Vergewaltigung seiner Frau gedroht, sagt er. Inzwischen seien alle seine Institute geschlossen oder in Koranschulen umgewandelt worden. „Dort werden keine Kinder mehr erzogen, sondern junge Militante trainiert“. Er holt tief Luft.

Der kräftige Mann ließ sich nicht einschüchtern, selbst, als er nach der vorläufigen Haftentlassung von Zivilpolizisten demonstrativ beschattet wurde und Geschäftspartner unter Druck gesetzt wurden, ihn anzuschwärzen. Yücel versteckte sich neun Monate lang. „Wegen der schweren Vorwürfe bestand die Gefahr massiver Folter im Gefängnis. Deshalb beschloss ich schließlich im April, nach Griechenland zu fliehen und Asyl zu beantragen.“

Für ihn geht es jetzt vor allem darum, beruflich wieder Fuß zu fassen und seinen Kindern eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Tatsächlich ist Musa Yücel der erste Migrant aus der Türkei, der in der Stadt einen Imbiss mit türkischen Spezialitäten wie Döner, Börek und Baklava eröffnen wird. „Ich werde mir jetzt hier ein Leben aufbauen.“.

Einen Grund, auf die Gülen-Bewegung wütend zu sein, sieht Yücel trotz allem nicht. „Es kann sein, dass einzelne kriminell sind und sich auch an dem Putsch beteiligt haben“, sagt er. „Aber ich bin 20 Jahre bei der Bewegung und habe kein einziges Mal Gewalt oder Korruption wahrgenommen.“

Was Freiheit bedeutet

Die türkische Journalistin Tuba Güven (34) steht an der Uferpromenade von Thessaloniki. Eigentlich wollte sie nach Deutschland.
Die türkische Journalistin Tuba Güven (34) steht an der Uferpromenade von Thessaloniki. Eigentlich wollte sie nach Deutschland. © Frank Nordhausen

Ähnlich argumentiert die 34-jährige türkische Journalistin Tuba Güven, aber sie lässt Zweifel zu. Die sportlich gekleidete Journalistin und zweifache Mutter aus Istanbul, die ihr blondes Haar offen trägt, ist an diesem Tag ins Warenlager der Gülen-Bewegung gekommen, um ein Kopftuch für eine Freundin auszusuchen. „Es gibt in der Cemaat jetzt eine interne Diskussion über begangene Fehler“, sagt sie. „Es ist klar, dass Politik und Religion strikt getrennt sein müssen. Unsere Bewegung öffnet sich, sie wird säkularer und weniger patriarchalisch.“

Weil Staatschef Erdogan ihren Ehemann Cevheri im Fernsehen persönlich mit Haft bedrohte, nachdem dieser in einem Gülen-nahen Nachrichtenmagazin ein Erdogan-kritisches Titelbild gedruckt hatte, entschieden sich die Güvens unmittelbar nach dem Putschversuch zu fliehen. Cevheri schlug sich weiter nach Deutschland durch, wo er jetzt bei einer Exilzeitung arbeitet und das Geld für die Familie verdient. Er hat in Frankfurt erneut Asyl beantragt, was ihm aber gerade mit Verweis auf die Dublin-Regeln abgeschlagen wurde.

„Das ist furchtbar. Eigentlich wollte ich auch nach Deutschland. Nun kann es sein, dass Cevheri zurückkommen muss und wir hier bleiben“, sagt Tuba Güven. Wenn sie etwas aus der Heimat vermisse, dann seien es ihre Eltern in Istanbul und ihre Spaziergänge am Bosporus. Aber die Türkei sei im Innern vergiftet. „Es gibt keinen Rechtsstaat und keine Demokratie mehr, das Leben ist wie ein ziviler Tod. Ich gehe nie wieder zurück.“ In Thessaloniki habe sie einen regelrechten Heilungsprozess durchlebt, sagt sie dann, mit einem gelösten Lächeln. „Hier habe ich erfahren, was Freiheit bedeutet.“