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Dresdens Bahnsteig in den Tod

Vor 80 Jahren wird der jüdische Kaufmannssohn Esra Jurmann aus Pirna deportiert - über einen Dresdner Güterbahnhof. Eine Spurensuche.

Von Jörg Stock
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Vom alten Leipziger Bahnhof in Dresden aus wurden im Januar 1942 fast 800 Juden auf den Weg in die Vernichtung geschickt. Auch der Kaufmannssohn Esra Jurmann aus Pirna war dabei.
Vom alten Leipziger Bahnhof in Dresden aus wurden im Januar 1942 fast 800 Juden auf den Weg in die Vernichtung geschickt. Auch der Kaufmannssohn Esra Jurmann aus Pirna war dabei. © Sven Ellger

Ob der Zug sofort abfuhr, nachdem sie ihn bestiegen hatten, will die Interviewerin wissen. Oh nein, sagt Esra Jurmann. "Wenn du einmal unter dem Regime der SS warst, passierte nichts mehr sofort", erklärt er. "Außer erschossen zu werden." Aber das könne er nicht mit Berechtigung sagen, schiebt er hintersinnig nach. "Aus offensichtlichen Gründen." Was er meint? Er lebt noch.

An dem Tag, von dem Esra Jurmann als etwa Siebzigjähriger berichtet, war er elf Jahre alt, ein Schuljunge, Sohn des jüdischen Kaufmanns Wolf Jurmann, ehemals Inhaber eines Ladens für Herrenkonfektion und Sportgeräte in Pirna. An diesem 21. Januar 1942 besteigt Esra mit über 200 Dresdner Juden einen Zug im Güterbahnhof Dresden-Neustadt. Er spürte ein wenig Abenteuerlust und Neugier auf die Fremde. Was ihn erwartete, waren das Ghetto von Riga und mehrere KZs. Außer ihm wird nur ein gutes Dutzend Menschen von dieser "Evakuierung" zurückkehren.

Hat den Erinnerungsort markiert: Künstler David Adam in der Bahnhofsruine. Vermutlich ist auch Esra Jurmann 1942 durch diese Mauern gegangen.
Hat den Erinnerungsort markiert: Künstler David Adam in der Bahnhofsruine. Vermutlich ist auch Esra Jurmann 1942 durch diese Mauern gegangen. © ronaldbonss.com

Achtzig Jahre sind seither vergangen. Der Güterbahnhof Dresden-Neustadt, auch alter Leipziger Bahnhof genannt, steht noch. Mit Mühe. Er ist zur Ruine geworden. Esra Jurmann gibt es nicht mehr. Er starb 2014. Wer aber am Bauzaun vor der Bahnhofsruine mit dem Handy einen Code scannt, macht ihn wieder lebendig und lässt ihn erzählen, wie sich die Zugfahrt ins Grauen abspielte.

Erinnerung am authentischen Ort in Dresden

Die Materialsammlung mit Jurmanns Interview und zahlreichen weiteren Dokumenten zur ersten Deportation sächsischer Juden - fast 800 waren es auf diesem Transport insgesamt - hat der freiberufliche Künstler David Adam zusammengefügt. Seit wenigen Tagen steht das Dossier im Netz. Und seit wenigen Tagen hängen an der grauen Bahnhofsfassade drei glänzenden Emaille-Schilder, jedes einen guten halben Meter hoch: Wann. Wieviele. Wohin.

In Pirna aufgewachsen, 1938 vertrieben, 1942 deportiert: Esra Jurmann überlebte Ghetto und KZ und berichtete darüber in Schulen von Pirna und Umgebung, so wie hier 2009.
In Pirna aufgewachsen, 1938 vertrieben, 1942 deportiert: Esra Jurmann überlebte Ghetto und KZ und berichtete darüber in Schulen von Pirna und Umgebung, so wie hier 2009. © privat

Adam, 51 Jahre alt, der nicht nur Kunst macht, sondern auch hochkarätige Ausstellungen einrichtet, etwa auf der Festung Königstein, hat die vom Dresdner Stadtrat unlängst beschlossene Gründung eines Gedenkortes für die Judenvernichtung vorweggenommen, wenn auch, wie er vermutet, vorübergehend. Aber wenn es so einen Ort geben soll, sagt er, dann müsste er hier sein. "Hier ist etwas Authentisches", sagt er, "etwas, das man spüren kann."

"Menschen wie Güter behandelt"

Adam kennt den Bahnhof schon lange. In den Wendejahren wohnte er quasi in Sichtweite. Nach einer Periode der "Stadtflucht" kehrte er 2017 nach Dresden zurück, in ein Atelierhaus, das wiederum nur 200 Meter von den Gleisen entfernt steht. Hier hörte er von den Deportationszügen. Für ihn war das neu, trotz des strapazierten Antifaschismus in der Schulzeit. "Wir sind mit dem Thema überschüttet worden", sagt er. "Und trotzdem habe ich es nicht gewusst."

Esra Jurmann (l.) mit seinem Bruder Manfred auf dem Pirnaer Markt 1933. Bruder und Mutter wurden mit ihm ins Ghetto deportiert und später von der SS ermordet.
Esra Jurmann (l.) mit seinem Bruder Manfred auf dem Pirnaer Markt 1933. Bruder und Mutter wurden mit ihm ins Ghetto deportiert und später von der SS ermordet. © privat

Um die Lücke zu schließen, ließ der Künstler die Schilder machen, nach Normen der Bahn. Die technoide Wortwahl findet er treffend. Die Vernichtung der Juden wurde von den Tätern auch als technologische Aufgabe begriffen. "Hier wurden Güter verladen", sagt er, "und auch die Menschen hat man wie Güter behandelt."

Nicht jeder muss diese Parallele sofort ziehen. Adam reicht es, wenn die Passanten sich fragen, was das soll, und sich auf Entdeckungsreise begeben. Etwa zu Esra Jurmann, dem jüdischen Schuljungen aus Pirna. Er war selbst für Adam eine Entdeckung. Seine bildhafte Sprache, seine lakonische Distanz, sein Humor, der selbst beim Schildern schrecklichster Dinge durchscheint, all das hat den Künstler fasziniert. "Den Jurmann hätte ich gern kennengelernt."

Wochenmarkt vor dem Pirnaer Rathaus um 1930. Am linken Bildrand das Konfektionsgeschäft der Familie Jurmann. Es wurde in der "Kristallnacht" 1938 von der SA demoliert.
Wochenmarkt vor dem Pirnaer Rathaus um 1930. Am linken Bildrand das Konfektionsgeschäft der Familie Jurmann. Es wurde in der "Kristallnacht" 1938 von der SA demoliert. © Sammlung Jensch

Da das nicht geht, hat Adam den wohl besten Freund Esra Jurmanns in Pirna besucht, den Geschichtslehrer und Historiker Hugo Jensch. Sieben Stunden redeten die zwei in Jenschs Wohnung, hoch über den Dingen - er lebt im 10. Stock eines Plattenbaus auf dem Sonnenstein. Spannender sei das gewesen, als jede Netflix-Serie. "Ein beeindruckender Mensch."

Hugo Jensch würde sich dieses Etikett wohl nicht anheften. Er zieht die Bescheidenheit vor, den Witz, die feine Ironie. Das eint ihn mit Esra Jurmann, der nie großes Aufhebens um sich machte, aber das Lachen schätzte. "Er war zu jeder spaßhaften Unternehmung bereit", sagt Jensch.

Bahnsteige in die Vernichtung: Die teils demontierten und überwucherten Gleisanlagen hinter dem Empfangsgebäude des Güterbahnhofs.
Bahnsteige in die Vernichtung: Die teils demontierten und überwucherten Gleisanlagen hinter dem Empfangsgebäude des Güterbahnhofs. © SZ/Jörg Stock

Hugo Jensch ist jetzt 93 Jahre alt. Ein Sauerstoffapparat blubbert neben dem Sessel. Das Herz macht Probleme. "Der Kopf funktioniert noch, nur der Rest nicht, das ist das Dumme." Er lacht leise. Alt werden ist nichts für Feiglinge. Sein Leben ist bald vorbei, das sieht er ganz nüchtern. "Da muss man keine Angst haben."

Verlust der Spielkameraden erschüttert bis heute

Jensch stammt aus einer Weberfamilie. Er wuchs nahe Lodz auf, das heute mitten in Polen liegt. Zur Hitlerzeit hieß es Litzmannstadt. Etwa ein Drittel der Einwohner seines Städtchens waren Juden. Jensch hat ihre Verfolgung aus genau der entgegengesetzten Perspektive erlebt, wie sein späterer Freund Jurmann. Kurz vor Weihnachten 1939 wurden alle Juden aus den Häusern getrieben, auch seine Kumpels, mit denen er eben noch Fußball gespielt hatte. Jammern und Klagen erfüllte die Straßen. "Es war erschütternd."

Esra Jurmann, wieder vereint mit seinem Vater 1946 in England. Wolf Jurmann war 1939 vorausgereist. Der Kriegsausbruch vereitelte den Nachzug der Familie.
Esra Jurmann, wieder vereint mit seinem Vater 1946 in England. Wolf Jurmann war 1939 vorausgereist. Der Kriegsausbruch vereitelte den Nachzug der Familie. © privat

Diese Erschütterung, sagt er, ist geblieben, bis heute. Sie war einer der Gründe, wieso er sich für die Erforschung des jüdischen Lebens in seiner späteren Heimat Pirna einsetzte. In den 1980ern fielen ihm ein paar schlechte Fotokopien in die Hände, offenbar die Erinnerungen eines jüdischen Jungen aus Pirna. Jurmanns Erinnerungen. Erst im Ruhestand fand Jensch Zeit zum Durcharbeiten. "Da wurde mir bewusst, was für einen Schatz ich in den Händen hatte."

Jensch spürte Esra Jurmann in London auf, wo er als Uhrmacher und Dolmetscher lebte. Die beiden schrieben sich Briefe, dann folgten Besuche, gemeinsame Reisen. "Eine wunderbare Freundschaft", sagt Jensch. Seine Berichte von der Deportation im Januar 1942, vom Rigaer Ghetto und diversen Konzentrationslagern hat Esra Jurmann auf Tonbandrollen gesprochen. Hugo Jensch machte daraus ein Buch.

"Mit Esra konnte man über alles reden, lachen und weinen." Der Pirnaer Historiker Hugo Jensch denkt noch oft an seinen Freund Jurmann, der 2014 starb.
"Mit Esra konnte man über alles reden, lachen und weinen." Der Pirnaer Historiker Hugo Jensch denkt noch oft an seinen Freund Jurmann, der 2014 starb. © Daniel Schäfer

Was überdauert von der Geschichte? Zu wenig, sagt Hugo Jensch. Freilich, man kann Worte finden, Begriffe. Aber man kann damit keine Emotionen transportieren, nicht die wirklichen Eindrücke. Das Bild einer marschierenden SA-Kolonne kann man sich anschauen, und man kann es dumm finden, im Gleichschritt durch die Gegend zu laufen. Aber den Marschtritt zu spüren, dabei zu sein, beim Schlag der Trommel, das ist etwas ganz anderes, sagt er. "Und ich bin auch mitmarschiert."

Esra Jurmann: Vor allen Dingen war ich ein Kind. Erinnerungen eines jüdischen Jungen aus Pirna. Goldenbogen Verlag Dresden, 2008