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Was wirklich hinter dem Einbruch ins Grüne Gewölbe steckt - eine Rekonstruktion

Nach einem Jahr und dreieinhalb Monaten endete am Dienstag der Prozess um den Einbruch ins Grüne Gewölbe in Dresden. Lange wurde über das Motiv gerätselt. Für die Täter ging es offenbar um eine Demonstration der Macht.

Von Karin Schlottmann & Alexander Schneider
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Am Dienstag endet der Prozess zum Grüne-Gewölbe-Prozess.
Am Dienstag endet der Prozess zum Grüne-Gewölbe-Prozess. © P.M. Hoffmann

Dresden. Ein Polizeihubschrauber kreist über Blaulicht-Kolonnen bis zum abgesperrten Gerichtsgelände am Hammerweg, gleich neben der Justizvollzugsanstalt. Unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen beginnt am 28. Januar 2022 der Prozess am Landgericht Dresden. Die sechs Angeklagten, Angehörige des Berliner Remmo-Clans, werden in besonders bewachten Transporten aus sächsischen Gefängnissen zu dem Hochsicherheitsbau im Norden der Stadt gebracht. Die Polizei ist auf Gefangenenbefreiungen und Ausbruchsversuche vorbereitet. Von Sitzungstag zu Sitzungstag der gleiche Aufwand, zur Urteilsverkündung am Dienstag zum 47. Mal.

Mit Clankriminalität hat es die Dresdner Justiz nicht oft zu tun. Den Männern im Alter von 24 bis 29 Jahren, alle sind miteinander verwandt, wird vorgeworfen, am 25. November 2019 Diamanten und Juwelen aus dem Historischen Grünen Gewölbe gestohlen zu haben. Außerdem legten sie einen Brand im nahen Pegelhaus und steckten ihr Fluchtauto, einen Audi S6, in einer vier Kilometer entfernten Tiefgarage in Brand, ehe sie mit einem als Taxi getarnten Mercedes zurück nach Berlin rasten. Den Angeklagten wird nun, zwei Jahre und zwei Monate nach dem Jahrhundert-Coup, neben Einbruchdiebstahl auch besonders schwere Brandstiftung vorgeworfen. Mindeststrafe: fünf Jahre Haft.

© P.M. Hoffmann

Der Prozess beginnt locker. Die Verteidiger halten Eröffnungsplädoyers, in denen sie die dünne Indizienlage betonen und eine Vorverurteilung ihrer Mandanten geißeln. Sie machen sich über haltlose Vorwürfe, überalterte Geruchsspuren und über die angeblich nicht ausreichend „diverse“ Schöffenauswahl lustig. Eine Anwältin behauptet, ihr Mandant, damals dicker und schwerer als jetzt, hätte nie und nimmer durch das ins eiserne Fenstergitter geschnittene Loch gepasst.

Tatsächlich folgt eine unerwartete und bemerkenswerte Hauptverhandlung mit einem ungewöhnlichen Erfolg: der überraschenden Herausgabe eines Großteils des Schmucks im Dezember und einem Deal mit den Angeklagten und Geständnisse. So etwas habe es noch nie in derartigen Prozessen gegen Angehörige des arabischstämmigen Clans gegeben, staunen Ermittler und Prozessbeobachter. Die SZ fasst hier die interessantesten Anekdoten, Überraschungen, Höhepunkte und Wendungen zusammen.

Einbruch in das Grüne Gewölbe in Dresden: Keine Sicherheit

Wie konnte es den Tätern so einfach gelingen, unbehelligt vom Wachpersonal in das Museum einzudringen und spurlos wieder zu verschwinden? Warum war es niemandem aufgefallen, dass die Einbrecher vor der Tat mehrfach nachts über den Zaun geklettert waren und das Einstiegsfenster präpariert hatten? Das Gericht lädt den damals verantwortlichen Direktor des Grünen Gewölbes, Dirk Syndram, sowie den Sicherheitschef Michael John als Zeugen vor.

Das Entsetzen über die schlechte Qualität der Videoaufnahmen aus dem Juwelenzimmer, die zwei vermummte Gestalten vor der Vitrine zeigen, ist noch immer groß. Das Sicherheitsglas zerbarst nach wenigen Axthieben. Der Fassadenscanner zur Abwehr von Eindringlingen funktionierte nicht wie erwartet, löste im Minutentakt Fehlalarme aus. Die Überwachungskameras erwiesen sich für eine Identifizierung der Täter als ungeeignet. Die technische Weiterentwicklung der Sicherheitssysteme war an den Staatlichen Kunstsammlungen vollständig vorbeigegangen.

Weil er offenbar mit einer strengeren Befragung, gar mit Vorwürfen rechnete, bringt Syndram zu seiner Zeugenaussage im April 2022 einen Rechtsbeistand mit. Befürchtungen, er könne für seine Versäumnisse zur Rechenschaft gezogen werden, erweisen sich als überflüssig. Die Fragen der Richter, Staatsanwälte und Verteidiger bleiben harmlos und drehen sich im Wesentlichen um den Wert des Schmucks, den aber auch Syndram nicht beziffern kann. Für die mangelhafte Sicherheit weist er jede Verantwortung von sich. Gegenüber dem Sächsischen Immobilien- und Baumanagement (SIB) habe er immer optimale Sicherheit verlangt, gibt er an und schiebt den schwarzen Peter für das Fiasko damit dem Finanzministerium zu.

Syndram kann kaum etwas zur Aufklärung beitragen. Seine Aussage zeigt aber das mangelnde Problembewusstsein der Museumsleitung. Einen Einbruch, erklärt der damalige Direktor, hätte er eigentlich nie in Erwägung gezogen. Seine Sorge galt Katastrophen wie Feuer, Hochwasser oder Sachschäden durch randalierende Besucher. Für den gestohlenen Schmuck gebe es keinen Markt, sagt Syndram: Kein vernünftiger Mensch würde auf den Gedanken kommen, Exponate zu stehlen. In nur einer Nacht belehrten ihn Kriminelle aus Berlin eines Besseren.

Sicherheitschef John war sich ebenfalls keiner Schuld bewusst. Das Geflecht von Zuständigkeiten, bestehend aus den SKD und SIB, dem Kultur- und dem Finanzministerium, dem Landeskriminalamt und der Sicherheitsfirma macht es Syndram und John einfach, die Verantwortung auf andere abzuschieben.

Nächtliche Kontrolle

Neben den verheerenden Sicherheitsmängeln kommt auch so manche Dreistigkeit ans Licht. Nur sechs Stunden vor dem Einbruch etwa hatte eine Zivilstreife mitten in Berlin einen VW Golf mit vier Insassen kontrolliert: darunter drei Angeklagte. Im Kofferraum lagen Bolzenschneider und anderes Einbruchswerkzeug. Fast eine Stunde filzten die Beamten das Auto und überprüften die Insassen, alle vier sind polizeibekannt. Sie observierten danach sogar den Golf, weil sie von einem geplanten Einbruch ausgingen, verloren ihn aber aus den Augen. Gegen 5 Uhr folgte der Blitzeinbruch in Dresden.

Ende März 2022 legt Rabieh Remmo, einer der Insassen, ein überraschendes Teilgeständnis ab. Nach dieser Kontrolle habe er kalte Füße bekommen und nicht mehr mitgemacht. Erstmals hatten es die Ermittler von einem Angeklagten selbst gehört, dass der Einbruch ein Remmo-Ding gewesen war. Rabieh hatte eine Erklärung liefern wollen, warum seine DNA am Gewölbe klebte, er die Tat aber bestreitet: Er habe das Schloss wenige Tage zuvor „mit anderen“ ausgespäht, sei auch über die Mauer geklettert. Glaubhaft war das nicht, denn der 29-Jährige saß zu dem Zeitpunkt schon seit eineinhalb Jahren in Untersuchungshaft.

Das Biotop im Mercedes

Für die Ermittler der Sonderkommission Epaulette sind die DNA-Spuren von fünf Angeklagten der deutlichste Beweis. Die Spuren befanden sich an einer Außenwand, wo die Täter über die Mauer kletterten. Im Gebäude, am Fenster und auf der Mauer fand sich keine einzige DNA-Spur. Die Angeklagten hatten ihre Spuren mit einer Flüssigkeit gereinigt und im Grünen Gewölbe einen Pulverlöscher versprüht.

Als Fundgrube erwies sich der Flucht-Mercedes, der nach einem Zufall in Berlin sichergestellt wurde und anschließend Ziel eines verunglückten Brandanschlags war. Die Polizei findet Reste einer Folienbeklebung in Taxibeige, DNA-Spuren von drei Angeklagten und Mikropartikel: Splitter, die chemisch identisch mit dem Sicherheitsglas der eingeschlagenen Vitrine sind. Als sie in dem als Taxi getarnten Mercedes nach Berlin rasten, geben die Angeklagten am Ende zu, hätten sie sich schon ihre Beute angeschaut.

© P.M. Hoffmann

„Hunde-Voodoo“

Dass die Polizei jeden noch so kleinen Ermittlungsansatz verfolgt hat, wird an der Bewertung der sogenannten Hundespuren deutlich. Eineinhalb Jahre nach der Tat setzten die Beamten in Dresden besonders ausgebildete Spürhunde ein, sogenannte Mantrailer. Die Superschnüffler schlugen an mehreren Stellen an. Zwei Hundeführer aus Schleswig-Holstein berichten als Zeugen, ihr Tiere könnten es förmlich riechen, ob Angeklagte im Juwelenzimmer gewesen seien, erklären sie: „Es hört sich an wie Hexenwerk, das ist es aber nicht.“

Die Staatsanwaltschaft hatte Mohamed und Wissam Remmo im Verdacht, im Juwelenzimmer gewesen zu sein. Die Verteidiger halten den Plan von Anfang an für eine Schnapsidee. Nach so langer Zeit, regelmäßigem Putzen, zahllosen Museumsbesuchern und dem Einsatz von Löschpulver durch die Täter seien keine verwertbaren Spuren zu erwarten, kritisieren sie das „Hunde-Voodoo“. Auch zwei Sachverständige senken ihre Daumen. Spätestens nach 48 Stunden mache das keinen Sinn mehr, erläutert Professor Kai-Uwe Goss, Leipziger Umweltchemiker, dem Gericht. Die Hundespur war neben einer unsicheren DNA-Spur aus dem Mercedes das einzige Indiz, das für Ahmed Remmo sprach. Er hat aber ein Alibi und kann mit einem Freispruch rechnen.

Schmuck in Vorleistung

Nachdem rund 100 Zeugen und ein Dutzend Sachverständige ausgesagt haben, steht die Kammer im September 2022 vor dem Ende der Beweisaufnahme. Alle Angeklagten sind vorbestraft, teilweise seit ihrer Jugend. Es scheint, als könnte der Prozess wie geplant Ende Oktober enden. Dann fallen wieder Verhandlungstage aus. Die Verteidiger stellen zuletzt ein gutes Dutzend Beweisanträge, wollen weitere Zeugen und Sachverständige laden lassen. Da ist es schon Dezember. Alle rechnen mit einem nahen Ende und fünf Schuldsprüchen.

Dann sorgen Aktivitäten hinter den Kulissen für die größte Sensation. Die Anwälte bahnen einen Deal an, nachdem ihnen klar geworden ist, dass ihren Mandanten noch immer hohe Strafen drohen und sie nun bereit sind, den Schmuck in Vorleistung herauszugeben. Am Freitag, 16. Dezember, holen Staatsanwälte und Soko-Beamte nachts die Garnituren in den Räumen einer Berliner Anwaltskanzlei ab. Die Steine liegen ausgebreitet vor ihnen auf einem hölzernen Konferenztisch. Möglicherweise haben auch die Verteidiger in jener Nacht ein mulmiges Gefühl.

Es sind dann aber „nur“ 18 der erbeuteten 21 Garnituren, nahezu vollständig erhalten, aber teilweise erheblich beschädigt. Die 90 Zentimeter lange Degenklinge etwa fehlt, sie sei im Neuköllner Schifffahrtskanal entsorgt worden. Die drei fehlenden Diamantengarnituren, darunter die Epaulette mit dem Sächsischen Weißen und der Polnische Weiße-Adler-Orden, sind wohl die wertvollsten Stücke. Kriminaltechniker finden auf der Beute keine Hinweise, der Schmuck war mit Reinigungsmitteln behandelt worden. Dennoch ist die Freude groß, SKD-Direktorin Ackermann spricht von einem „Weihnachtswunder“.

Dealt man mit Clans?

Anfang Januar 2023 trifft das Gericht mit allen Beteiligten eine Verfahrensabsprache: Im Falle umfassender Geständnisse drohen den Angeklagten maximal sechs Jahre und neun Monate Haft; Mittäter müssen sie nicht nennen und: Die Haftbefehle werden am Tag des Urteils aufgehoben. Die Männer, die teilweise schon zweieinhalb Jahre U-Haft hinter sich haben, dürfen bis zum Antritt der offenen Reststrafe ihre Freiheit genießen. Weil die Kammer versäumt hatte, in dem Deal klar zu regeln, welche Angaben sie von den Angeklagten zur Tat, dem Davor und dem Danach erwartet, folgt nach den Geständnissen ein wochenlanger Streit über die Tiefe der von ihnen erwarteten Einlassungen. Ihre Antworten sprechen die Angeklagten mit ihren Anwälten penibel ab. Plötzlich tauchen zwei unbekannte Haupttäter auf, „Mr. X“ und „Mr. Y“. Die Staatsanwälte lassen die Angaben sofort überprüfen. Als Wissam Remmo im Januar sagt, er habe Werkzeug in der Spree entsorgt, steigen am nächsten Morgen Polizeitaucher an der genannten Stelle in Berlin in den Fluss – und werden fündig.

© P.M. Hoffmann

Es bleiben viele Fragen offen. Die Ankläger verweisen wiederholt auf Widersprüche, die Verteidiger halten dagegen, das Frage-Antwort-Spiel zieht sich in die Länge. Es scheint, als war das Klima in der Hauptverhandlung vor der „Verständigung“ besser als danach. Die Öffentlichkeit debattiert unterdessen, ob man mit Clans dealt – oder ob man die Herausgabe des Schmucks anerkennt und die sechs Remmos behandelt wie jeden anderen Angeklagten auch.

Ein Wort zum Schaden

Versichert war das weltberühmte Geschmeide übrigens nicht. Der Freistaat sorge selbst für seinen Schatz, heißt es im Prozess. Der Wert kann kaum beziffert werden. Als die SKD ihre Diamanten anderen Museen für Ausstellungen ausgeliehen hatte, waren sie mit 113,8 Millionen Euro versichert. Diese Summe wird in der Anklage genannt. Der Gesamtschaden – mit fehlenden Stücken und den beschädigten – beläuft sich auf immer noch rund 89 Millionen Euro. Hinzu kommt rund eine Millionen Euro an Beschädigungen, verursacht im Grünen Gewölbe und durch die Brände im Pegelhaus und der Tiefgarage, wo allein 60 Autos in Mitleidenschaft gezogenen wurden.

Machtdemonstration?

Auch auf diese Frage hat der Prozess noch keine Antwort gegeben: Warum das Ganze? Welches Motiv verfolgten die Täter? Was war das Ziel dieses unverfrorenen Einbruchs? Die Männer versprachen sich angeblich Ruhm, Reichtum und Geld für Kokain, sagten sie. Rabieh Remmo ist am deutlichsten: „Ich wollte Millionär werden!“

Da im Dezember noch mindestens 18 Garnituren vorhanden waren und als Pfand für milde Strafen dienten, steht die Vermutung im Raum, die Täter haben ihr Gaunerstück vor allem aus einem Grund durchgezogen: weil sie es konnten. Vielleicht sogar: weil nur sie es konnten?

Diese These von der Machtdemonstration nährt zumindest die Hoffnung, dass auch die fehlenden Diamanten, von denen man sagt, sie seien die wertvollsten, noch vorhanden sein könnten: Um weiteren Komplizen eines schönen Tages für denselben Zweck zu dienen – als Faustpfand für milde Urteile.

Der Mai 2023 ist nicht nur der Monat, in dem Sachsens Jahrhundert-Prozess endlich zu Ende geht. Auch die rund 100 Stellplatzmieter der durch den Brand zerstörten Tiefgarage haben nun, dreieinhalb Jahre nach der Tat, ein Schreiben ihrer Hausverwaltung bekommen: Die Stellplätze können nun wieder gemietet werden.