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Der verstümmelte Mensch

Die Dresdner Uraufführung des Stückes „Anschluss“ sucht Zukunft, fällt in die Grube der Vergangenheit und findet das Herzgebirge.

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Vier Männer ohne "Anschluss": Sven Hönig. Moritz Dürr, Holger Hübner und Philipp Lux (v.l.) spielen in dem Stück von Jaroslav Rudis, das in Dresden uraufgeführt wurde.
Vier Männer ohne "Anschluss": Sven Hönig. Moritz Dürr, Holger Hübner und Philipp Lux (v.l.) spielen in dem Stück von Jaroslav Rudis, das in Dresden uraufgeführt wurde. © Foto: Sebastian Hoppe

Von Rainer Kasselt

In der Bahnhofskneipe brennt noch Licht. Vier Männer sitzen an vier Tischen und trinken Bier. Die Männer warten. Nicht auf Godot, auf Gäste aus dem Tal. Die Schenke liegt auf dem Teufelsberg und war das beliebte Zentrum des Luftkurortes. Direkt an der Grenze zwischen Böhmen und Sachsen. Viel Prominenz reiste mit dem Zug an. Alles lange her. Kein Zug mehr, Gleise raus, Tunnel zu. Verwaiste Gegend, abgehängte Menschen, triste Gegenwart.

Freitagabend im Kleinen Haus des Dresdner Staatsschauspiels. Uraufführung des Stücks „Anschluss“ des tschechischen Erfolgsautors Jaroslav Rudiš. Die Besucher sitzen in coronabedingt locker besetzten Reihen. Rudiš hat das Auftragswerk auf Deutsch geschrieben, wie schon den Roman „Winterbergs letzte Reise“. Wer beide Sprachen spricht, „versteht die Geschichte der beiden Länder besser“, meint der 49-jährige Autor, von dem in Dresden bereits „Nationalstraße“ zu sehen war. Männer ohne Frauen. Was hat sie hierher verschlagen?

Den Rockmusiker Sacher treibt das schlechte Gewissen, er hatte seine Freundin Olga im Stich gelassen. Er dachte, hier oben spielst du wieder Gitarre, aber Pustekuchen. Die Luft dreckig, die Kneipe modrig, der Putz bröckelt. „Ein Bahnhof ohne Anschluss ist ein Friedhof.“ Philipp Lux spielt den Musiker, den die anderen Sachertorte nennen, in roten Stiefeletten, angeekelt von sich und der Welt, und entlockt der Gitarre keinen Ton. Der ehemalige Eisenbahner Havlik gibt den Optimisten vom Dienst, verkörpert von Sven Hönig. Er bereitet sich auf die Eröffnungsrede der Historikerkonferenz „Böhmen in Sachsen, Sachsen in Böhmen“ vor. Er will Frieden an der „ältesten Grenze Europas“, keine weiteren Leichenberge, und das Erzgebirge zum „Herzgebirge“ machen. „Wir brauchen mehr Liebe. Mehr Anstand. Mehr Respekt. Aber vor allem mehr Liebe.“

Havliks Gegenpol ist der einstige Briefträger Ferenz. Er schmückt sich mit fremden Federn, will Häuser, Kirchen und Scheunen abgefackelt haben, um neues Leben aus den Ruinen erblühen zu lassen. „Die irrsten Menschen sind nicht die Irren, sondern die ganz normalen Menschen, die glauben, die Welt sei in Ordnung.“ Ferenz putzt eifrig sein Jagdgewehr und berichtet, dass ihm unangenehme Gäste früher bei einem „Jagdunfall“ ums Leben kamen: „Weidmannsheil!“ Moritz Dürr gibt diesen Trinker, Täter und Zyniker kumpelhaft, zeichnet ihn als einen Konservativen, der seine Ruhe haben will. Von der Liebe hält Ferenz nichts, umso eifriger öffnete er die Liebesbriefe anderer.

Einer, dem die Frauen nachgelaufen sind, ist der ehemalige Förster Charlie. Er sitzt im dicken Pullover da, starrt ins Leere und schweigt. Mehrmals greift er zum Strick. Ferenz hält ihn vom Freitod ab. Erst nach einer halben Stunde bricht Charlie sein Schweigen, denkt über die Geheimnisse des Waldes nach. „Hier verwandeln sich Menschen in Wildschweine und Wildschweine in Menschen, sagte mein Vater immer. Und er muss es wissen, er war hier der Jäger.“ Holger Hübner spielt den seelenkranken Förster apathisch, wie in Trance. Am Ende sein großer Ausbruch: Er stürmt im Wahn in den Wald und ballert wild herum. Kommt zurück, sagt feierlich: „Sie sind da. Die Gäste.“

Regisseur Alexander Riemenschneider setzt ganz aufs Wort, vertraut dem großartigen, anspielungsreichen und absurden Text von Jaroslav Rudiš. Ein Text, der Kriege und Schlachten reflektiert, Güterzüge des Grauens mit Namen wie Hiroshima, Nagasaki und Tschernobyl versieht. Der schwarzen Humor, böhmische Melancholie und sprachliche Vulkanausbrüche verknüpft. Gespielt wird auf einer in Blau getauchten Bühne von David Hohmann: Tische, Stühle, Geweihe – alles blau. Die romantische Sehnsucht nach der blauen Blume mit der Sehnsucht der Männer auf Zukunft, Hoffnung und Frauen verbindend.

Das Stück ist eine riesige Herausforderung für Regie und Schauspieler. Es gelingt der Inszenierung nicht durchgehend, die weite Dimension der Vorlage auszuschreiten. Die Darsteller nähern sich dem Reichtum der Figuren beachtlich an, schöpfen sie aber nicht aus. Zähe Momente wechseln mit szenischen Einfällen, wie einem stillen Tanz in Pilzkostümen. Manchmal erstarrt die statische Szene fast zum Hörspiel. Vor allem der dem Stück eigene makabre Humor bleibt auf der Strecke. Einige Passagen werden überhastet gespielt, andere sind akustisch schwer zu verstehen. Stark das Schlussbild. Über dem Tor zur Kneipe prangt in großen Lettern der Gruß Willkommen. Im Lauf der Handlung fallen Buchstaben runter. Übrig bleibt der unvollständige französische Begriff „L … omme“: der verstümmelte Mensch.

Wieder am 9. und 15. Juli, 19.30 Uhr Kartentelefon: 0351 4913 555