SZ + Feuilleton
Merken

Premiere im Staatsschauspiel Dresden auf der Liebesschaukel

Das Stück „Sylvia und Sybille“ im Kleinen Haus des Staatsschauspiels Dresden feiert eine lesbische Liebe. Es hat das Zeug zum Renner.

Von Rainer Kasselt
 4 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
Leidenschaftliche Küsse auf dem Kronleuchter: Sylvia (Leonie Hämer, l.) und Sybille (Fanny Staffa) vergessen die Welt um sich her.
Leidenschaftliche Küsse auf dem Kronleuchter: Sylvia (Leonie Hämer, l.) und Sybille (Fanny Staffa) vergessen die Welt um sich her. © Sebastian Hoppe

Sylvia ist 16, Sybille 46. Sie lieben sich. Zärtlich, sensibel, leidenschaftlich. Tauschen sanfte Küsse, streicheln einander. Können es kaum fassen. Sybille glaubt, sie habe nicht mehr „alle Tassen im Schrank“. Doch nichts hält das Paar zurück. Der gefühlvolle Klassiker-Song „A Natural Woman“ wird eingespielt. Weiße Seidenstoffbahnen werden ausgerollt. Das Brautbett für Sylvia und Sybille. Wie auf Wellen gleiten sie aufeinander zu. Reißen sich die Klamotten runter, sind halbnackt. Verlieren sich im Taumel des Begehrens, werden ganz eins, nur ihr heftiges Atmen ist zu hören. Eine Szene ohne jede Peinlichkeit, als Fest der Liebe.

Samstagabend im ausverkauften Kleinen Haus des Staatsschauspiels Dresden. Premiere für das 1931 geschriebene Stück „Sylvia und Sybille“ der deutsch-ungarischen Autorin Christa Winsloe. Damals ein Skandal. Und heute? In Literatur, Theater, Film kein Tabu mehr. Und in der Gesellschaft? „Was die Toleranz gegenüber lesbischer Liebe angeht, sind wir noch nicht so weit, wie wir sein könnten.“ Sagt Hausregisseurin Daniela Löffner. Ihre konfliktreiche Inszenierung ist ein Plädoyer für offenen Umgang mit dem Thema. Das Publikum bedankt sich mit Bravos, Füßetrampeln und minutenlangem Beifall für die gut zweistündige Aufführung ohne Pause.

Schmerzen aus Vernunftgründen

Die Bühne von Regina Lorenz-Schweer ist eine Art Arena. Die Zuschauer erleben das Geschehen von vier Seiten. Mitten unter ihnen sitzt das gut agierende neunköpfige Ensemble, darunter fünf Studierende des Schauspielstudios. Wenn sie dran sind, verlassen sie die Plätze, kehren danach zurück und beobachten den Fortgang. Die Darsteller tragen Requisiten herbei und verwandeln so die Bühne von Akt zu Akt: hippes Modeatelier, unbehagliches Esszimmer, gläserne Tischtennisplatte, diffuse Kakadu-Bar.

Die Schülerin Sylvia trauert um ihre Mutter, die sich aus dem Fenster stürzte. Ihr Vater Richard hat in Dubai gearbeitet, war kaum zu Hause, ist nach einem Unfall zum Alkoholiker geworden. Sybille ist Modedesignerin, ihr Mann früh gestorben, sie liebt ihren Sohn Fritz abgöttisch. Er hat sich total in Sylvia verknallt, die ihn aber nur für einen süßen Typen hält. Dass sich ausgerechnet seine Mutter in seine Freundin verliebt, Sex mit ihr hat, kann Fritz nicht fassen. „Mein Leben ist eine Vollkatastrophe“, sagt er. „Du wusstest, wie viel Sylvia mir bedeutet.“ Vater Richard stellt Sybille zur Rede, hält ihr den enormen Altersunterschied vor, er habe Angst um seine Tochter, droht mit dem Anwalt. Sybille beendet unter Schmerzen aus Vernunftgründen die Beziehung, auch weil sie ihren Sohn nicht verlieren will.

Die intensive Inszenierung hat große Momente und tolle Bilder. Daniela Löffner ist sehr frei mit der Vorlage umgegangen, hat Szenen umgeschrieben und ein neues Ende geschaffen. Ein Kronleuchter wird zu Sylvias Liebesschaukel, auf der sie sich frei wie nie zuvor fühlt. Die Kakadu-Bar wird zum Tanz-Dorado für Fritz und seine Freunde. Drogen locken, Neonlichter strahlen, Cocktailgläser klirren. Infusionsbeutel sind mit Whisky gefüllt. Die Partygespräche sind flach, voller Klischees, ziehen sich hin, zeichnen Bilder junger Menschen, die nur Sex, Vergnügen, Drinks im Sinn haben. Die Regisseurin verbindet heitere und ernste Szenen, manchmal kippt es ins Comedyhafte. Voller Komik Carls Auftritt, ein Freund von Fritz, der bei Sybille vergnüglich Kuchen mampft und freimütig über sein Liebesleben plappert. Student Willi Sellmann lässt urkomödiantisches Talent aufblitzen.

Erinnerungen an „Tschick“-Uraufführung

Die herausragende Leistung des Abends bietet Daniel Séjourné – auf der Bühne und am Klavier. Sein Fritz ist verwöhnter Sohn und verletzter Liebhaber, scheu und draufgängerisch, wütend und wehleidig, er liebt seine Mutter und möchte sie auf den Mond schießen. Eine starke Charakterstudie zeigt Christine Hoppe als Lehrerin Maike, die von der Ehe mit Sylvias Vater träumt und dabei übergriffig wird. Schwer hat es Hans-Werner Leupelt als Vater Richard.

So berechtigt seine Sorgen um die Zukunft der Tochter sind, so sehr hat er unter dem einseitigen Image des schlechten Vaters, Ehemanns und Dauertrinkers zu leiden. Fanny Staffa als Sybille legt die Rolle der nach Liebe dürstenden erwachsenen Frau im Gefühlschaos zwischen hemmungsloser Hingabe und wachsenden Schuldgefühlen an. Mutig und anrührend.

Studentin Leonie Hämer als Sylvia puppt sich anfangs ein, blüht in der Liebe wie ein Schmetterling auf, tanzt sich ins Glück, umso tiefer der Sturz, sie ist dem Freitod nahe. Aber nach Regievorgabe bestellt sie Sybille in zehn Jahren an ihren gemeinsamen Platz in der Dresdner Heide. Ein optimistischer Schluss oder eine Erinnerung an die Dresdner Uraufführung des Stückes „Tschick“ (2012) von Wolfgang Herrndorf? Darin hatten die drei Protagonisten geschworen, sich nach 50 Jahren wiederzusehen. So oder so: Löffners Arbeit wirkt nach, fordert zur Diskussion heraus und hat das Zeug zum Renner.

Wieder am 24. 5., 18. und 30. 6.; Kartentel. 0351 4913555