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Sind moderne Künstler Rassisten?

In Museen und in den Medien wird derzeit heftig über das Verhältnis von expressionistischer Kunst und Kolonialismus gestritten.

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"Zwei Zigeunerinnen mit Katze“ nannte Otto Mueller sein 1926/27 entstandenes Bild. Der Maler hat viele „Zigeuner“-Bilder gemalt, er nutzte die damals gängigen Ausdrücke, ein Rassist war er nicht.
"Zwei Zigeunerinnen mit Katze“ nannte Otto Mueller sein 1926/27 entstandenes Bild. Der Maler hat viele „Zigeuner“-Bilder gemalt, er nutzte die damals gängigen Ausdrücke, ein Rassist war er nicht. © F© RRheinisches Bildarchiv/ Museum Ludwig Köln

Von Jens-Uwe Sommerschuh

Waren die Künstler der expressionistischen Brücke-Gemeinschaft Rassisten? Haben sie sich mit ihren freizügigen Darstellungen badender Frauen und Mädchen oder ihren zahlreichen Aktbildern der sexistischen Ausbeutung des weiblichen Körpers schuldig gemacht? Wie soll man das nennen, wenn auf einem Gemälde von Otto Mueller, das um 1926 entstand und seither unter dem Titel „Zwei Zigeunerinnen mit Katze“ geführt wird, junge braunhäutige Frauen mit nackten Brüsten zu sehen sind? Was vermutlich manchen in dieser zugespitzten Fragestellung absurd vorkommen mag, wird derzeit tatsächlich landauf, landab in überregionalen Medien heftig diskutiert.

Anlass sind eine aktuelle Ausstellung und eine Filmdokumentation über Maler der „Brücke“. Die Diskussion ist freilich nicht neu und ordnet sich ein in andere Debatten, die weite Teile der Kultur erfasst haben: Darf ein hellhäutiger Mann die Gedichte einer „schwarzen“ Dichterin ins Deutsche übersetzen? Ist eine vermutlich heterosexuelle Schauspielerin legitimiert, im Film eine Lesbierin zu verkörpern? Ist es statthaft, wenn moderne Künstler sich von ursprünglichen Kulturen anregen lassen? Begriffe wie „Identitätsdiebstahl“ oder „kulturelle Ausbeutung“ haben Konjunktur – zu Recht?

Schuld als Frage des Blickwinkels

Das Brücke-Museum in Berlin zeigt seit Mitte Dezember die Ausstellung „Whose Expression? Die Künstler der Brücke im kolonialen Kontext“. Die Schau, die bis 20. März geplant ist, soll der „Beginn einer Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe“ des Museums sein. Parallel zur Ausstellungsvorbereitung entstand eine NDR-Filmdokumentation, die in der Mediathek zu sehen ist. Unter dem Slogan „Der weiße Blick“ reflektiert Regisseur Wilfried Hauke „Expressionismus und Kolonialismus“ vor allem anhand von Reisen, auf denen die Maler Max Pechstein und Emil Nolde kurz vor dem Ersten Weltkrieg Palau und Papua-Neuguinea erkundeten, um ihren Blick auf das „unverfälscht Ursprüngliche“ zu erweitern.

Es steht außer Frage, dass viele europäische Nationen als Kolonialmächte Verbrechen und Unrecht zu verantworten haben, ein historischer Tatbestand, der sich auch im Nachhinein nicht sühnen lässt. Rassistische Stereotype aus der Kolonialzeit wirken lange nach, was sich nicht nur in der Sprache zeigt. Inwieweit sich auch progressive Künstler im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts moralisch schuldig gemacht haben, wäre von Fall zu Fall zu prüfen und ist gewiss auch eine Frage des Blickwinkels.

Kunstwerke aus Ozeanien und Afrika waren für die meisten Expressionisten seit Beginn der Bewegung interessant. Bekanntlich gründete sich die Brücke-Gruppe im Juni 1905 in Dresden, um sich „gegenüber den wohlangesessenen älteren Kräften“ als eine „neue Generation der Schaffenden wie der Genießenden“ durchzusetzen. Jeder war willkommen, „der unmittelbar und unverfälscht das wiedergibt, was ihn zum Schaffen drängt“. Das sagt viel über den Ansatz zum Schaffen, die Motivation, Kunstwerke zu schaffen, aber wenig über Inhalte oder gar moralische Prämissen. Gesicherte Rituale aus der Frühphase sind die „15-Minuten-Akte“ in fester Runde mit wechselnden meist weiblichen Modellen, aber auch regelmäßige Studien in den völkerkundlichen Sammlungen im Japanischen Palais, später auch im Berliner Völkerkundemuseum.

Zu Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel und Karl Schmidt-Rottluff aus der Gründerrunde gesellten sich 1906 Max Pechstein und Emil Nolde, danach auch Otto Mueller. Letzterer hat zwischen 1924 und 1930 mehrfach Südosteuropa bereist, sich in Ungarn, Bulgarien, Rumänien, Bosnien und Kroatien immer wieder mit dem Alltag der ethnischen Gruppen befasst, die heute übergreifend als Roma bezeichnet werden. Damals war die Benennung „Zigeuner“ geläufig, und ob das Wort neutral oder herabwürdigend verwendet wurde, ergab sich aus dem Kontext. Dass der Begriff heute als rassistisch gilt und offiziell nicht mehr gebraucht wird, ändert nichts daran, dass Mueller ihn in seiner Zeit nie herabwürdigend einsetzte. Wenn er um 1926 kraftvolle Frauenporträts „Zigeunermadonna“, „Sitzende Zigeunerin“, „Stehende Zigeunerin mit Kind“ nannte und eine eindrucksvolle Sammlung von Drucken als „Zigeunermappe“ herausgab, widerspiegelt das zwar die Sprache seiner Zeit, überführt ihn aber mitnichten einer rassistischen Haltung.

Wie Worte heute zum Makel werden

Dennoch fühlte sich vor zwei Jahren das Kölner Museum Ludwig bemüßigt, Muellers „Zwei Zigeunerinnen mit Katze“ im Kontext mit einem Video zu zeigen, das in krassen Bildern den Völkermord an Roma und Sinti dokumentierte. „Ein ausdrucksstarkes Gemälde von zwei jungen Frauen zu bewundern, während im Rücken über den Genozid an den europäischen Roma und die damit verbundenen Folgen wie Armut, Obdachlosigkeit und gesundheitliche Schäden gesprochen wird, fühlt sich mehr als widersprüchlich an“, sinnierte die Neue Zürcher Zeitung.

Der Deutschlandfunk besprach Muellers Gemälde als „umstrittenes Bild“ und zitierte die Kuratorin Julia Friedrich, die dort „rassistische Elemente“ erkennen wollte. Auch so ein Wort: Heute ist „umstritten“ als Makel gemeint. Dabei sollte ein starkes Kunstwerk immer streitbar und folgerichtig im positiven Sinne umstritten sein. Was Mueller betrifft, liegt der „Rassismus“ wohl eher im Auge des mutwilligen Betrachters, ein Phänomen, das wir auch aus der Gender-Debatte kennen.

Die aktuelle Diskussion um die historischen Reisen Pechsteins und Noldes geht noch weiter. Filmemacher Hauke sagt im Interview: „Sie haben die Struktur des Kolonialismus benutzt, um dorthin zu reisen. Und dann haben sie sich diese Welt angeeignet, so wie sie sie für ihre Malerei brauchten.“ Der „weiße Blick“ sei für ihn darin zu erkennen, dass die deutschen Künstler dort „immer mit dem Bewusstsein der eigenen Überlegenheit“ auftraten. „Sie haben sich das an Material genommen, was sie für ihre pseudoromantischen Bilder brauchten. Damit haben sie wiederum im deutschen Kaiserreich das Bild von der Südsee als Idylle verklärend dargestellt und indirekt zur weiteren Bestätigung des Kolonialismus beigetragen.“

Ferner unterstellt Hauke den Malern, dass sie von vornherein „im Blick hatten, was sich auf dem Kunstmarkt in Deutschland gut verkaufen lässt. Und das ist diese besondere Form von Exotik, von Nacktheit, das Schöne des Primitiven“.

Das bleibt nicht unwidersprochen: „Für Regisseur Hauke waren die Kunstreisenden“, schreibt das Neue Deutschland, „folglich eher Kreuzfahrttouristen – mit materiellem, statt musischem Interesse zudem und damit, auch wenn er es so nicht ausspricht: Rassisten.“ Haukes These von der Schuld, die Maler auf sich laden, wenn sie Individuen bloß abbilden, „ohne in ihre Seelen zu blicken“, sei zu steil für diese Form von naturalistischer Kunst.

Ereiferern nicht das Feld überlassen

Da Nolde, obgleich seine Kunst wie die von Mueller, Pechstein und anderen Expressionisten als „entartet“ aussortiert und verfemt wurde, später partiell mit der Ideologie der Nazis sympathisierte, eignet er sich trefflich als Projektionsfläche, um rassistische Haltungen abzuhandeln. Doch Pechstein oder Kirchner, der in seinem Berliner Atelier dunkelhäutige Modelle zeichnete, die als Nelly, Milly und Sam dokumentiert sind und die er wohl aus dem Zirkus oder einem Varieté kannte, taugen die wirklich, um dieser Kunstströmung latenten Rassismus anzuhängen, wie sich aus der aktuellen Ausstellung im Brücke-Museum herauslesen lässt?

Es gehe nicht um die Schuldfrage, rudert Museumsdirektorin Lisa Marei Schmidt halbherzig zurück, sondern um die Pflicht zur Auseinandersetzung. Heckel, Kirchner, Pechstein, Schmidt-Rottluff seien Kinder ihrer Zeit gewesen, der Hoch-Zeit des Kolonialismus. Nichtsdestotrotz lässt sie zu, dass die Brücke-Künstler in dieser Ausstellung optisch und moralisch in die Defensive gedrückt werden. Kunsthistoriker Bernhard Schulz (Welt-online) kritisiert das und findet, dass sich an den wenigen ausgestellten Bildern „der Vorwurf kolonialer Sichtweisen nicht wirklich erhärten“ lässt. Ihnen kolonialen Hochmut vorzuwerfen, tue den Künstlern unrecht. Vielmehr bleibe die Erkenntnis, dass sie sich „über herrschende gesellschaftliche Vorurteile erhoben, eben weil sie auf der Suche nach einer unverbrauchten Kunst waren.“

Der Autor geht noch weiter: „Die Expressionisten der Brücke haben den Blick geweitet, nicht zuletzt für ihr Publikum, das ihnen bis heute andauernde Popularität beschert.“ Der „Exotismus der Brücke“ habe vielmehr, auch wenn das den Kuratorinnen der Berliner Ausstellung entgangen sein könnte, „dem Rassismus in der Kunst für immer den Boden entzogen“. Eines scheint freilich sicher: Die Diskussion wird nicht so schnell abebben. Doch es ist möglich und scheint geboten, der Ereiferung nicht das Feld zu überlassen.