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So war "Woyzeck" am Kleinen Haus

Georg Büchners Sozialdrama wandelt sich in der Regie von Lily Sykes zur Revolte einer starken Frau.

Von Rainer Kasselt
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Marin Blülle (rechts) spielt den Woyzeck, der unter anderem vom Hauptmann (Sven Hönig) drangsaliert wird.
Marin Blülle (rechts) spielt den Woyzeck, der unter anderem vom Hauptmann (Sven Hönig) drangsaliert wird. © Sebastian Hoppe

Marie zeigt ins Publikum und fragt Woyzeck, wen im Saal er heiraten würde. Er tut so, als suche er im Parkett die Richtige. Seine Antwort steht längst fest. Er strahlt: "Dich möchte ich heiraten." Marie bohrt weiter: Und wie würdest du mich töten? Woyzeck stutzt, zögert, sucht das passende Wort: Er wolle sie mit Küssen ersticken. Marie rollt eine Plastedecke zum Liebesbett aus. Das Paar tollt herum, küsst und herzt und beißt, wickelt sich fester in die Decke ein. Plötzlich lässt Marie dem Mann keine Luft und erstickt ihn beinahe. Blutbefleckt, schwer atmend erheben sie sich. Begreifen nicht, was gerade geschehen ist.

Mit diesem Vorspiel beginnt am Sonnabend im Kleinen Haus des Staatsschauspiels Dresden die zweistündige Aufführung von Georg Büchners letztem Stück "Woyzeck". In Szene gesetzt von der englischen Hausregisseurin Lily Sykes. Sie geht frei mit dem Fragment um, ergänzt es mit eigenen Texten, holt es ins Heute. Das Werk von 1837, dem Todesjahr Büchners, gilt als das erste bedeutende soziale Drama der deutschen Literatur. Der 23-jährige Dichter gibt einem armen Schlucker die Hauptrolle. "Woyzeck" ist durchdrungen vom revolutionären Furor der Flugschrift "Der hessische Landbote" mit dem berühmten Motto "Friede den Hütten! Krieg den Palästen!".

Soldat Woyzeck wird von seinem Hauptmann gequält und gepeinigt, der Doktor lässt ihn in einem medizinischen "Experiment" ein Vierteljahr lang nur Erbsen essen, Marie betrügt ihn mit dem schönen Tambourmajor. Von seinem Umfeld angestachelt, halb im Wahn, tötet der verzweifelte Woyzeck die Geliebte. Die Regisseurin liest das Stück aus weiblicher Sicht: Marie werde zum "Gegenpol einer destruktiven sozialen Welt, die von Gewalt angetrieben und zusammengehalten wird". Die Männer agieren oft mit nackter Brust, stets zu Kampf und Rache bereit. Marie, aus Armut zur Hure gemacht, sieht sich nicht nur als Opfer, sie probt den Widerstand. Eine tolle Rolle für die junge türkischstämmige Schauspielerin Nihan Kirmanoglu, neu im Ensemble. Selbstbewusst schnappt sie sich den Tambourmajor ("Soldaten sind schöne Bursch‘"). Vergnügt präsentiert sie den Zuschauern ihre Eroberung. "Ich bin stolz vor allen Weibern!" Doch sie hält sich auch für ein "schlecht Mensch", weil sie Woyzeck hintergeht, mit dem sie ein Kind hat. Die Schauspielerin tritt aus ihrer Rolle. Mal ehrlich, fragt sie ins Publikum, sind Sie nie schwarzgefahren, haben nie das Essen bei Freunden gelobt, nie geheuchelt beim Besuch der Schwiegereltern? Bibelfest fordert sie: "Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein."

Während Woyzeck und Marie differenziert als Menschen gezeigt werden, stellen Hauptmann, Tambourmajor und Doktor nur Typen dar. Sie haben keine Namen. Gespielt wird auf der von Jelena Nagorni gestalteten Bühne, die mit "musikalischen" Blechwänden umstellt ist. Die Kostüme von Lene Schwind sind von silbergrau-zeitloser Eleganz. Einer sticht farbig im Harlekin-Outfit heraus. Torsten Ranft spielt lustvoll die Doppelrolle von Kind und Narr. Mal sitzt er still in der Ecke, zündelt mit einem Feuerzeug, formt mit Rauch kleine Wölkchen, schenkt Mama und Papa ein Nebelherz. Mal ist Ranft ein windiger Jahrmarktsbetreiber, der mit seinem "astronomischen Pferd" den Leuten die Hucke voll lügt.

Sven Hönig ist als Hauptmann ein selbstgefälliger brutaler Schlagetot, er drangsaliert Woyzeck, wo er kann. Wirft ihm vor, er habe keine Moral, keine Tugend. Weckt zynisch dessen Eifersucht, missbraucht ihn sexuell und hält sich selber für einen "guten Menschen". Ursula Hobmair als maskuline "Frau Doktor" empört sich scheinheilig, dass Woyzeck auf der Straße pisst, und greift ihm in die Unterhose. Philipp Grimm gibt den Tambourmajor als Kraftmeier und akrobatischen Seilkünstler, sonnt sich im Glanz seiner Erscheinung. Woyzeck lacht ihn minutenlang aus. Das verkraftet der Schönling nicht.

Die Titelfigur wird beeindruckend von Marin Blülle verkörpert. Verhuscht, geduckt, ängstlich einerseits - aufbegehrend, zornig, boxend andererseits. Ihm macht keiner etwas vor: "Jeder Mensch ist ein Abgrund; es schwindelt einem, wenn man hinabsieht." Er weiß, dass seine Zeit noch nicht gekommen ist, "wenn wir in Himmel kämen, so müssten wir donnern helfen". Mit wiederkehrenden Donnerschlägen unterstreicht die Musik die Dramatik des Geschehens. Das Schicksal der Liebenden wird im Lied der zwei Königskinder (mit neuen Strophen) von Gitarrist Jan Schöwer glänzend interpretiert. Die rasante Piktogramm-Show erzählt "Woyzeck" in Kurzform und weist zugleich auf den Zustand der heutigen Welt hin, die Uhr zeigt zehn vor zwölf. Und in der Ecke sitzt still Torsten Ranft. Er wiederholt die Worte vom Anfang: "Es war einmal ein arm Kind und es war ganz allein." Der Beifall für einen bewegenden Abend ebbt nur langsam ab.

Kleines Haus Staatsschauspiel Dresden, Kartentel. 0351 4913 555