Dresden. Seit Oktober 2020 muss sich ein 22-jähriger Kurde aus dem Irak vor dem Landgericht Dresden verantworten. Lewin P. hatte im Februar 2020 seine 22-jährige Freundin Huda niedergestochen. Dem jungen Mann wird daher versuchter Mord vorgeworfen. Auch nach der knapp dreimonatigen Beweisaufnahme ist es zwar bei diesem folgenschweren Stich geblieben – aber praktisch alles andere um diese blutige Tat herum hat sich komplett gedreht. Diese Woche wird der Prozess enden.
Im Moment ist die Staatsanwältin an der Reihe. Sie hat schon kurz vor Weihnachten mit ihrem Plädoyer begonnen, musste ihren Schlussvortrag jedoch nach etwa einer Viertelstunde unterbrechen. Schon das zeigt die kuriose Entwicklung. Nachdem sich Anfang November mehrere Zeugen als Lügner entpuppten, setzte das Schwurgericht eilig vier weitere Sitzungstage an. Und nun, mitten im Plädoyer, hatte Verteidiger Jürgen Saupe wegen einer anderen Verpflichtung gehen müssen.
Nach dem ersten halben Plädoyer der Staatsanwältin ist klar, dass auch sie nicht mehr von „versuchtem Mord“ ausgeht – aber was sie dem Angeklagten stattdessen vorwirft, werden er und die Prozessbeteiligten erst am Dienstag erfahren. Zunächst hatte alles nach einer völlig klaren Sache ausgesehen.
Mehrere Zeugen hatten gelogen
Lawin P. habe Huda bedroht. Angeblich habe er sie schon Jahre gegen ihren Willen verfolgt und ihr nachgestellt. Weil nun möglicherweise seine Abschiebung nach Italien gedroht habe, habe P. erreichen wollen, dass die 22-Jährige ihn begleitet. Sie waren schon 2016/17 gemeinsam vom Irak nach Deutschland geflohen.
Diese Version, Ergebnis polizeilicher Ermittlungen, hatte sich in der Hauptverhandlung in Luft aufgelöst. Mehrere Zeugen hatten offensichtlich gelogen, alles voran die Geschädigte. Sie hatte zunächst wie immer ausgesagt.
Lawin P. hatte lange geschwiegen und erst im Lauf der Beweisaufnahme gestanden, am 2. Februar im Hugo-Bürkner-Park in Strehlen abends auf seine Freundin eingestochen zu haben. Allerdings schilderte er die Zusammenhänge gänzlich anders. Und erst, als das Gericht zum dritten Mal Huda geladen hatte, um sie erneut zu vernehmen, gab sie zu, den Angeklagten falsch belastet zu haben – und ihn noch immer zu lieben.
Es kam eine lange verheimlichte Liebesbeziehung unter dem Einfluss kurdischer Familien ans Licht, die für ihre Kinder eine andere Zukunft ausgemacht hatten. Huda, die Ende 2017 ein Kind von P. zur Welt gebracht und ohne dessen Wissen auf Druck der Familie zur Adoption freigegeben hatte, gab zu, dass sie gegenüber Lawin behauptet habe, das Baby sei gestorben.
Ermittlungen gegen Zeugen?
Die 22-jährige berichtete weiter, sie habe auf Initiative ihrer Mutter und deren Lebensgefährten hin einen anderen Mann heiraten sollen. Tatsächlich hatte sie sich nach der gemeinsamen Flucht immer wieder heimlich mit Lawin P. getroffen – auch über Nacht in Dresden in der Wohnung einer gemeinsamen Freundin. Bei Polizeivernehmungen und im Prozess war es offensichtlich das Ziel der Zeugen, dieses Lügengebäude nicht einzureißen.
Am Tattag habe Huda darüber hinaus Lawin erstmals gesagt, dass sein Kind noch lebe. Möglicherweise war das einer der Gründe, warum P. die Beherrschung verloren hatte und auf Huda einstach. Er hatte nie den Glauben verloren, dass sein Kind noch leben könnte.
Im Plädoyer der Staatsanwaltschaft werden noch weitere Gründe und Ungereimtheiten aufgezählt, warum die ursprüngliche Version sich aus Sicht der Ankläger nicht bestätigt habe. Zu prüfen sein wird auch, inwieweit sich die Zeugen mit ihren Falschaussagen strafbar gemacht haben.