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Fußball statt Fluchtgeschichten: Wie ein Dresdner geflüchtete Kinder vom Heim-Alltag ablenkt

Einmal wöchentlich leitet Wolf Seiter eine Sportstunde für Kinder aus Dresdner Erstaufnahmeeinrichtungen. Manche kommen mehrere Wochen lang, andere nur einmal. Über Flucht wird nicht gesprochen.

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Halle statt Heim: Wolf Seiter spielt mit geflüchteten Kindern Fußball. Manche von ihnen sieht er nur einmal.
Halle statt Heim: Wolf Seiter spielt mit geflüchteten Kindern Fußball. Manche von ihnen sieht er nur einmal. © Amelie Buckreus

Von Amelie Buckreus

Dresden. Albertpark, Fischhausstraße. Bergauf, fünfter Gang. Die bunte Sporttasche hat er in den Gepäckkorb des dunkelgrauen Damenrads gequetscht. Das Schutzblech klappert, die Reifen sind abgefahren. Wolf Seiter hat die Kapuze seiner Übergangsjacke über den Kopf gezogen. Er tritt in die Pedale. Noch 150 Meter über den Waldweg, dann rechts.

Einmal pro Woche fährt Seiter zur Sporthalle in der Fischhausstraße. An diesem Tag wartet er auf VW-Transporter, die an den Dresdner Erstaufnahmeeinrichtungen gestartet sind und gleich eintreffen müssten. Der 45-Jährige leitet Sportstunden für geflüchtete Kinder.

Jede Woche ein Neuanfang

In den vergangenen Jahren ist die Anzahl minderjähriger Geflüchteter in sächsischen Aufnahmeeinrichtungen gestiegen. 2023 waren unter den 14.776 Asylsuchenden 2.404 Kinder. Die meisten von ihnen kommen aus Osteuropa und Südamerika. Alle haben eine Geschichte, kaum einer versteht Deutsch. Manche kennt Seiter, sie waren schon einmal da. Andere sieht er das erste Mal – und danach vielleicht nie wieder.

Durch halb geschlossene Jalousien fällt nur spärlich Licht auf den blau-melierten Hallenboden. Vor den hölzernen Wandstreben hat Seiter Ballsäcke, Hockeyschläger und einen Beutel mit Federbällen gelegt. "We need two teams", sagt er. "Zwei Mannschaften. Deux equipes. Dos equipos." Er nimmt den weiß-orangefarbenen Fußball aus dem Sack.

Der Dresdner stellt sich ins Tor. Er beobachtet aus der eigenen Hälfte, wie ein Junge aus seiner Mannschaft trifft. "Fantastisch, super! Great Job, little Ronaldo." Der Junge grinst, rennt zurück hinter die Mittellinie. High Five mit seinem Freund – dann geht es weiter.

Vom Buchbinder zum Sportlehrer - und immer noch auf der Suche

Mögliche Spiele für die Sportstunde überlegt sich Seiter spontan, kurz bevor er von zu Hause losfährt. Welche seiner Pläne er umsetzt, entscheidet er erst vor Ort. Abhängig davon, worauf die Kinder Lust haben und wie viele da sind. An diesem Dienstag sind es sechs, drei von ihnen kennt er schon aus der vergangenen Woche. Ihre Geschichte kennt er nicht – er will sie gar nicht kennen. "Ich will nicht spekulieren, ansonsten schaffst du dort was rein, was vielleicht nicht ist. Und da geh' ich dann lieber davon aus, dass sie auf einem guten Weg hergekommen sind."

Seit der Flüchtlingskrise 2015 gibt es das Sportprojekt vom SV Motor Mickten. 2019 übernimmt Seiter die Leitung, ans Aufhören hat er nie gedacht. Der gebürtige Dresdner absolviert nach dem Abitur eine Buchbinderlehre in Freiburg. Für sein Studium der Kunstgeschichte kehrt er in seine Heimat zurück.

Der Plan: langfristig in Dresden bleiben. "Hier gehe ich fest, wie der Sachse sagt." Er promoviert und bleibt zunächst in der kunstgeschichtlichen Forschung. Bis zum inneren Zusammenbruch. "Ich musste viele Sachen in mir sortieren. Und ich bin immer noch dabei", sagt er. Er ist noch nicht angekommen. Genauso wie die Kinder, die dienstags zu seiner Sportstunde kommen. Mehrere Jahre hat er bewusst Abstand von akademischer Forschung und Lehre genommen – bis zum Januar dieses Jahres.

Weiterbildung zum Deutschlehrer begonnen

In einem Großraumbüro im Dresdner Norden sitzt Seiter an einem Schreibtisch. In der Schule für Weiterbildungsangebote hat er seinen eigenen Platz. Er schaut auf zwei Bildschirme. Kopfhörer auf, rein in eine andere Welt – eine virtuelle. Mausklick auf den Button "Lernraum beitreten". Dann sitzt Seiters Avatar in einem lichtdurchfluteten Hörsaal. Vor ihm und seinen rund fünfzehn Klassenkameraden steht die Dozentin. Der Kurs: Weiterbildung zur Lehrkraft für Deutsch als Zweitsprache.

Fünfmal pro Woche lernt der Dresdner in diesem digitalen Umfeld. Im Mai schließt er den zertifizierten Grundlagenkurs ab. Dann darf und möchte er selbst lehren. Er wolle sich so bald wie möglich auf offene Stellen bewerben. Geflüchtete auch beruflich bei der Integration unterstützen – so wie er es bisher schon im Sportprojekt macht.

Der Transporter aus der Erstaufnahmeeinrichtung hält auf dem gepflasterten Hof vor der Sporthalle. Zehn Minuten früher als geplant. Drinnen ruft Seiter: "Last ball, letzter Angriff." Ein letztes Tor, sein Team jubelt. Dann geht alles ganz schnell. Seiter verstaut den Ball. Die Kinder nehmen ihre Flaschen von der Bank, laufen nach draußen, steigen ein, fahren weg. Vielleicht für immer.

Was mit ihnen passiert, weiß er nicht. Er hat sich zur Aufgabe gemacht, ihnen ein Willkommensgefühl zu vermitteln. Zumindest für den Moment. Er sehe, wie es die Kinder ablenke, vom Alltag in der Erstaufnahmeeinrichtung. Zugleich mache ihn seine Arbeit nachdenklich. Krieg und Terror würden erst dazu führen, dass die Kinder nach Deutschland kommen. Zu seiner Sportstunde.

Aber das Leben sei eben kein abgeschlossener Prozess, sondern immer eine Art Anfang, sagt er. "Und Enden sind immer Definitionssache." Er hat sich entschieden, immer weiterzumachen. Auch nächste Woche wieder. Im fünften Gang. Bergauf.

Die Autorin ist Stipendiatin der Journalistischen Nachwuchsförderung der Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. und im Rahmen eines Ausbildungsseminars zu Lokaljournalismus in Dresden. In dem Programm lernen die Geförderten das journalistische Handwerk parallel zu ihrem Studium und werden finanziell unterstützt.