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"Der Ausnahmezustand endet nicht nach der Intensivstation"

Um Kindern und ihren Angehörigen nach schweren Erkrankungen den Weg zurück in den Alltag zu erleichtern, hat sich in Dresden ein Verein gegründet.

Von Henry Berndt
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Annika Hesse kam 2018 nach einem Kletterunfall auf die Kinder-Intensivstation im Dresdner Uniklinikum.
Annika Hesse kam 2018 nach einem Kletterunfall auf die Kinder-Intensivstation im Dresdner Uniklinikum. © privat

Dresden. Ein ganz normaler Teenager, der lächelt und Spaß hat. Annika ist nicht anzusehen, dass sie eine schwere Zeit hinter sich hat. Im Sommer 2018 verunglückte sie beim Klettern in der Sächsischen Schweiz, stürzte zehn Meter in die Tiefe. Mit einem schweren Schädel-Hirn-Trauma kam sie auf die Kinder-Intensivstation im Dresdner Uniklinikum.

"Dort wurden wir damals mit einer schlechten Prognose entlassen", erinnert sich ihre Mutter Christin Hesse. "Inzwischen sind wir aber zusammen sehr weit gekommen." Annika kann wieder zur Schule gehen, auch wenn sie noch nicht in allen Bereichen des Lebens hundertprozentig mitkommt. Manchmal fehlen ihr die richtigen Wörter.

"Positive Schwingungen": Mutter Christin Hesse im Gespräch mit Sebastian Brenner, Bereichsleiter der pädiatrischen Intensivmedizin.
"Positive Schwingungen": Mutter Christin Hesse im Gespräch mit Sebastian Brenner, Bereichsleiter der pädiatrischen Intensivmedizin. © Sven Ellger

Etwa 500 bis 600 Patienten im Alter bis 18 Jahren werden jedes Jahr auf der pädiatrischen Intensivstation von speziell geschultem Personal betreut. Die Gründe sind vielfältig: Unfälle, Verbrennungen und Organversagen gehören dazu. Einige der jungen Patienten müssen beamtet und ins künstliche Koma versetzt werden. Doch viele sind auch ansprechbar und bekommen mit, was um sie herum passiert.

"Solange wir auf der Station waren, fühlten wir uns sehr umsorgt", erinnert sich Christin Hesse. "Danach aber war auf einmal alles unklar. Wie soll es weitergehen? Welche Schule soll Annika besuchen? Da steht man schnell ganz allein da."

Genau das zu ändern, hat sich ein Verein zum Ziel gesetzt, der Ende 2020 von Angehörigen, Ehrenamtlichen und Mitarbeitern des Uniklinikums gegründet wurde. Der IntensivZeit e.V. will Kinder und ihre Angehörigen während und nach der Zeit auf der Intensivstation begleiten und dabei insbesondere auf psychische und soziale Bedürfnisse eingehen. Dafür braucht es viel ehrenamtliches Engagement - und Geld. Zu den bislang 19 Mitgliedern des Vereins gehören auch Christin Hesse und ihre Tochter Annika.

Tablets, Lautsprecher und ein Riesen-Gong

Annika war es auch, die mit einem kleinen Wunsch das erste Projekt des Vereins in die Wege leitete. Sie habe sich nachts im Bett auf der Station so allein gefühlt, sagte sie. Inzwischen ist Annika Namensgeberin für eine kleine Plüscheule, die nun jeder Patient überreicht bekommt und auch mit nach Hause nehmen darf. Genäht werden die Eulen von einer Pflegekraft.

Bei einer ersten Crowdfunding-Kampagne des Vereins kamen im vergangenen Jahr 6.000 Euro zusammen. Dafür konnten zehn Tablets angeschafft werden, mit denen die Kinder und Jugendlichen auch mal Kontakt zu Oma und Opa aufnehmen können, was sonst durch die momentan stark eingeschränkten Besucherregeln kaum möglich ist. Außerdem wurden Bluetooth-Boxen für die Station gekauft, um damit Musik und Märchen auf den Zimmern zu hören.

Die sicher imposanteste Neuanschaffung, die der Verein möglich gemacht hat, ist ein Wind-Gong mit einem Durchmesser von einem Meter. Eine Firma aus Coswig baute dazu ein rollbares Gestell. Künftig soll der in dieser Woche eingeweihte Gong immer dann zum Einsatz kommen, wenn ein Kind die Intensivstation verlassen kann. Dann bekommt es zur Feier des Moments selbst den Schlegel in die Hand und darf den Gong klingen lassen.

Der 16-jährige Evangelos schlägt den neuen Gong, mit dem sich künftig jeder Patient von der Kinder-Intensivstation verabschieden kann.
Der 16-jährige Evangelos schlägt den neuen Gong, mit dem sich künftig jeder Patient von der Kinder-Intensivstation verabschieden kann. © Sven Ellger

Für manche ist es nach zwei oder drei Tagen so weit, für andere erst nach einem halben Jahr. "Damit läuten die Kinder symbolisch den nächsten Schritt ein", sagt Bereichsleiter Sebastian Brenner, der zu den Gründungsmitgliedern des Vereins gehört. "Die Schallwellen breiten sich dann durch alle Zimmer auf der Station aus und sorgen für positive Schwingungen." Das solle die anderen Patienten und ihre Angehörigen motivieren, daran zu glauben, dass auch sie eines Tages diesen Gong schlagen werden.

Wunschliste ist lang

Einer der ersten Patienten, die den Gong am Mittwoch ausprobieren durften, war der 16-jährige Evangelos. Er kam im Oktober 2021 in Folge einer dramatisch verlaufenden neurologischen Erkrankung auf die Intensivstation. Das sogenannte Guillain-Barré-Syndrom lähmte zunächst seine Beine und dann seine Arme. Nach kurzer Zeit musste er beatmet werden und hatte Herzrhythmusstörungen.

In dieser Phase spielte auch Cynthia Pönicke eine große Rolle. Als Stationspsychologin gehört sie seit anderthalb Jahren zum Team. "Für die Familien bedeutet der Aufenthalt hier einen Ausnahmezustand", sagt die Psychologin. "Und er endet nicht, wenn sie die Intensivstation verlassen. Posttraumatischen Störungen vorzubeugen, gehört zu meinen Aufgaben."

Für Bereichsleiter Brenner ist schon jetzt nicht mehr vorstellbar, wie die Station so lange ohne psychologische Unterstützung auskommen konnte.

Plüscheulen als Begleiter: Stefanie Karpinski leitet den in Dresden gegründeten Verein IntensivZeit.
Plüscheulen als Begleiter: Stefanie Karpinski leitet den in Dresden gegründeten Verein IntensivZeit. © Sven Ellger

Dieser Wunsch konnte erfüllt werden, doch der Verein IntensivZeit hat noch eine lange Liste mit Projekten, die in den kommenden Monaten und Jahren realisiert werden sollen. Dazu gehört die Einrichtung eines Angehörigenzimmers auf der Station, das Familien eine Rückzugsmöglichkeit bietet, die mal nicht nach Krankenhaus aussieht.

Außerdem soll ein Netzwerk von ehemaligen Patienten aufgebaut werden. Für ein Kinderbuch liegen bereits ein fertiger Text und Illustrationen bereit, und auch kleine Ideen können viel bringen. So wird Annikas Schulklasse Osternester filzen, um damit die Station zu verschönern.

Evangelos kann sich das gut vorstellen. Er ist inzwischen wieder vollständig genesen, aber seine Eltern erinnern sich noch an die dramatischen Wochen im Herbst. "Gerade geht es ihm fast zu langsam und er würde am liebsten schon wieder Fußball spielen", sagt Vater Frank. "Da müssen wir ihn aber noch ein bisschen bremsen."

Sein Schlag auf den Gong ist zumindest schon ziemlich kraftvoll. "Dabei muss ich automatisch lächeln", sagt der 16-Jährige. Allein das war die Anschaffung schon wert.

Der Verein IntensivZeit arbeitet ausschließlich ehrenamtlich und ist auf Spenden angewiesen. Spendenkonto: IntensivZeit e.V., IBAN DE72 4306 0967 1197 9955 00, BIC: GENODEM1GLS