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Der Weltrekord in Dresden kam zu früh

Die Leichtathletin Christa Stubnick gewann zweimal Olympia-Silber. Eine dritte Medaille blieb ihr 1956 versagt. Ein Nachruf auf den ersten DDR-Sprintstar.

Von Jochen Mayer
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Christa Stubnick war der erste Sprintstar der DDR. Mit der gesamtdeutschen Staffel lief sie 1956 in Dresden zum Weltrekord.
Christa Stubnick war der erste Sprintstar der DDR. Mit der gesamtdeutschen Staffel lief sie 1956 in Dresden zum Weltrekord. © Bundesarchiv

Dresden. Für Erfolge muss vieles gut passen. Aber wie ohnmächtig fühlen sich Sportler, wenn die Umstände erst gar keinen Start zulassen? Leichtathletin Christa Stubnick bekam genau das zu spüren. Der Sprinterin nutzte es 1954 nichts, einen 19 Jahre alten Europarekord über 200 Meter mit 23,6 Sekunden egalisiert zu haben. Der Auftritt bei den Europameisterschaften in Bern blieb der Dynamo-Athletin verwehrt. Politische Querelen wollten es so: Der DDR-Verband war von der Welt-Föderation IAAF damals noch nicht anerkannt worden. Bitter für die Athleten, denen auf diese Art die Medaillen-Chance genommen wurde. Westdeutsche Sportler durften in Bern antreten und Medaillen gewinnen.

Zwei Jahre später war das dann anders, ostdeutsche Sportler gehörten zur gesamtdeutschen Olympiamannschaft. Bei den Sommerspielen 1956 in Melbourne gehörte Christa Stubnick zum engeren Favoritenkreis und gewann zweimal Olympiasilber über 100 und 200 Meter hinter der Australierin Betty Cuthbert. Und die erste Olympia-Medaillengewinnerin der DDR bei Sommerspielen durfte sogar noch auf einen dritten Podestplatz hoffen.

Zwei Monate vor den Spielen hatte eine gesamtdeutsche 4x100-Meter-Staffel im Dresdner Harbig-Stadion mit Christa Stubnick auf Position zwei den Weltrekord um eine Zehntelsekunde auf 45,1 Sekunden verbessert. 35.000 Zuschauer feierten an jenem 30. September 1956 den Höhepunkt des Harbig-Sportfestes. Das Fachblatt Der Leichtathlet zitierte allerdings einen skeptischen Staffeltrainer Heinz Birkemeyer in der aufkommenden Euphorie, der nur einen knappen Kommentar knurrte: „Zu früh.“ Er sollte recht behalten.

Trotz Weltklasse am Ende nur Sechste mit der Staffel

Als es um die Olympiamedaillen ging, standen die deutschen Staffel-Frauen plötzlich mit leeren Händen da. Zwar unterboten sie ihre Dresdner Zeit im Vorlauf noch einmal um zwei Zehntelsekunden, kamen zeitgleich mit den späteren Olympiasiegerinnen aus Australien durch das Ziel. Aber im Endlauf klappte nichts mehr: Nach zwei schwachen Wechseln ging der dritte richtig daneben. Rang sechs lag klar unter allen Erwartungen. Da half alles Klagen nichts über willkürlich versetzte Ablaufmarken, Nominierungsknatsch zwischen dem ost- und westdeutschen Verband, Verletzungen, Stress durch die Weltreise. Die Favoritenrolle lag ihnen wohl auch nicht.

Eine weitere Olympia-Chance bekam Christa Stubnick nicht mehr. Sie gewann 1958 noch EM-Bronze über 200 Meter und sprang als erste DDR-Athletin im Weitsprung über sechs Meter. Doch bald stoppten immer wieder Verletzungen ihre Karriere. So fehlte sie auch bei den gesamtdeutschen Olympia-Ausscheidungen für Rom 1960. Aber sie hatte Eindruck hinterlassen.

Christa Stubnick war damals das Leichtgewicht in den Sprintfinals mit nicht mal 50 Kilogramm. „Sie lief elegant und leichtfüßig, schwebte wie eine Feder über die Bahn“, schwärmte vor ihrem 80. Geburtstag Siegfried Prietzel, der einst bei Dynamo Berlin als Mittelstreckler aktiv war und die damals schnellste Frau Europas im Training erlebt hat. „Sie hatte enorm lange Beine. Diese Proportionen verschafften ihr einen sehr eleganten Laufstil.“

Sie hätte ein Star sein können, hatte keine Allüren

Die erfolgreichen Olympiaauftritte von Melbourne sah der fünf Jahre jüngere Prietzel im Kino im Nachrichtenformat „Der Augenzeuge“. Fernseher gehörten damals noch nicht zur Grundausstattung von Wohnungen. Christa Stubnick hätte mit ihren beiden Olympiamedaillen ein Star sein können. „Aber Allüren habe ich bei ihr nie erlebt“, erinnerte sich Prietzel. „Wenn wir im Klub unter uns waren, dann schnatterte sie im Berliner Dialekt mit allen anderen.“

Die erste Weltklasse-Sprinterin der DDR wurde unter ihrem Mädchennamen Seliger in Gardelegen/Altmark geboren, dort wuchs sie auch auf. Bei der Betriebssportgemeinschaft Lok Stendal wurde ihr Talent erkannt. Über Dynamo Potsdam kam sie zum SC Dynamo Berlin. Die Stenotypistin hatte 1954 Erich Stubnick geheiratet, der Boxer war im gleichen Jahr DDR-Meister im Schwergewicht geworden.

Nach ihrer Leichtathletik-Karriere lebte das Paar bis zur Scheidung 1966 in Dresden, danach zog Christa Stubnick nach Magdeburg. Dort leitete sie eine Volkspolizei-Meldestelle, zuletzt mit dem Dienstgrad eines Majors. Nach einer zweiten Heirat hieß sie Fischer und war von 1973 bis 1990 persönliches Mitglied im Nationalen Olympischen Komitee der DDR.

Bei Treffen einstiger Dynamo-Trainingsgruppen begegnete der Orthopäde Prietzel seiner einstigen erfolgreichen Sportgefährtin. „Sie ist nicht mehr so zartgliedrig wie einst“, sagte er 2013 in seinem Wohnort Adorf bei Chemnitz und fügte noch eine Beobachtung hinzu: „Inzwischen haben die früheren Staffelmädels ihren Frieden miteinander gemacht. Es muss nicht einfach gewesen sein nach der Niederlage von Melbourne.“

Wie erst jetzt bekannt wurde, starb Christa Fischer-Stubnick am 13. Mai in einem Pflegeheim in Borken (Niedersachsen). Sie wurde 87 Jahre alt.