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Eine Handball-Ikone feiert Geburtstag – und 20.000 Fans feiern mit

Joachim Deckarm, bis zum schweren Unfall der beste Spieler der Welt, erlebt sichtlich bewegt den deutschen Sieg gegen Island.

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In der Pause des Spiels gegen Island wird Joachim Deckarm zu seinem 65. Geburtstag geehrt.
In der Pause des Spiels gegen Island wird Joachim Deckarm zu seinem 65. Geburtstag geehrt. © dpa/Federico Gambarini

Auch Jo hat das WM-Fieber gepackt. Bislang verfolgte Joachim Deckarm die Spiele am Fernsehschirm, doch am Samstag ging es endlich in die Halle – an seinem 65. Geburtstag. Mit einem Ständchen aus knapp 20 000 Kehlen und einem Lichtermeer aus ebenso vielen Lämpchen feierte die Kölner WM-Arena die sichtlich bewegte Handball-Ikone.

Zusammen mit den Weltmeistern von 1978 war Deckarm, Spitzname Jo, in die gigantische Arena gekommen, sein früherer Teamkollege Gerd Rosendahl schob den Rollstuhl des einst weltbesten Handballers zum Mittelkreis. Es gab Präsente, und die Spieler um Heiner Brand, Jimmy Waltke, Kurt Klühspies und Manfred Freisler, die am 5. Februar 1978 in Kopenhagen durch ein sensationelles 20:19 gegen den großen Favoriten UdSSR den zweiten von mittlerweile drei deutschen WM-Titeln geholt hatten, applaudierten ihrem Wegbegleiter.

Deckarm, seit seinem schweren Unfall am 30. März 1979 stark gehandicapt, beobachtet die WM-Auftritte des deutschen Teams mit großer Freude. Ihm gefallen „die Euphorie und die Lust“, die man der Mannschaft deutliche ansehe: „Sie zeigen einen unheimlichen Spaß am Handball.“ Und so traut er der Mannschaft den ganz großen Wurf zu. „Ich bin sehr zuversichtlich, dass sie das Halbfinale erreichen können. Und wenn die Sterne dann gut stehen, ist alles möglich. Das haben wir selbst 1978 erlebt“, sagt er.

Die Vollzeit-Pflege im Seniorenzentrum tut gut

Das Sprechen fällt Deckarm schwer, doch es geht ihm wieder besser. Der Umzug im Herbst von Saarbrücken ins Evangelische Seniorenzentrum in Gummersbach, wo er in Vollzeit gepflegt werden kann, hat ihm gutgetan. In der Nähe von Bruder Herbert, der sein gesetzlicher Betreuer ist, und seinen alten Weggefährten fühlt sich Deckarm pudelwohl.

Sein langjähriger Freund Heiner Brand kommt regelmäßig zum Würfeln vorbei, und in der Halle seines Ex-Klubs VfL Gummersbach ist Deckarm inzwischen wieder Stammgast. Die Anspannung sei weg, erzählt Deckarm. Die Wege seien kurz, er komme nach einer schwierigen Zeit zuletzt in Saarbrücken wieder zur Ruhe. „Er benötigt eine intensive Betreuung, die war in Saarbrücken nicht mehr gegeben“, begründete Brand. Längst kann sich Deckarm nur noch im Rollstuhl fortbewegen, denn der körperliche Altersprozess schreite bei ihm aufgrund seiner gesundheitlichen Einschränkungen schneller voran, so Brand. Dennoch hat der Jubilar weiter Freude am Leben. „Wir haben viel Spaß zusammen. Er lacht sehr viel.“

Deckarm blickt auf ein bewegtes und bewegendes Leben zurück. Die schrecklichen Bilder aus dem Frühjahr 1979 sind unvergessen. Mitten im Europapokalspiel des VfL Gummersbach bei Banyasz Tatabanya in Ungarn wird der 104-malige Nationalspieler jäh aus seinem Alltag gerissen. Nach einem Zusammenstoß mit Lajos Panovics prallt Deckarm ungebremst mit dem Kopf auf den nur mit einer dünnen PVC-Schicht belegten Betonboden. Spieler und Betreuer tragen ihn vom Feld. Diagnose: ein doppelter Schädelbasisbruch, ein Gehirnhautriss und schwere Gehirnquetschungen. Deckarm fällt ins Koma.

Aus dem Koma aufgewacht als neuer Mensch

Brand, der die fürchterlichen Ereignisse hautnah miterlebte, sprach danach vom „Schlimmsten“, was er in seiner Karriere erlebt habe. Den Unfall habe er „eigentlich nie so richtig verdaut“. Erst nach 131 Tagen wacht Deckarm als neuer Mensch auf. Ein hilfsbedürftiger Mensch, der alle Fähigkeiten neu erlernen muss – gehen, sprechen, essen. Seinem Gegenspieler hat der begnadete Techniker dennoch nie einen Vorwurf gemacht. Im Gegenteil: „Wir beide wissen, dass der Zusammenprall keine absichtliche Aktion war. Dennoch hat ihn das Unglück seelisch tief getroffen“, sagte Deckarm einmal dem Magazin Handball Inside.

Mit unbändigem Willen und dem Motto „Ich kann, ich will, ich muss“ kämpfte er sich danach ins Leben, sein zweites Leben, zurück. Als „besonderer Kämpfer“ wurde er im Jahr 2013 in die Hall of Fame des deutschen Sports aufgenommen.

Ein beispielloser Kämpfer ist Deckarm bis heute. Vier Mal in der Woche trainiert er im Kraftraum, um seinen körperlichen Zustand zu verbessern. Was er sich zu seinem Ehrentag wünscht? „Gesundheit“, sagt er, ansonsten nichts Spezielles. Kurze Pause. Dann ergänzt er noch etwas: „Ich würde mir wünschen, dass die deutsche Mannschaft den WM-Titel holt und es eine dritte Generation gibt, die sich Weltmeister nennen darf.“ (sid, mit dpa)