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Warum Elon Musk der vielleicht gefährlichste Privatmann der Welt ist

Elon Musk hat den weltwichtigsten Nachrichtendienst gekauft und praktiziert dort die totale Freiheit. Selbst für Terroristen wie die Hamas. Ein Gespräch.

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„Musk agiert wie ein missionarischer Kulturkämpfer,“ sagt Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen.
„Musk agiert wie ein missionarischer Kulturkämpfer,“ sagt Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen. © Susan Walsh/AP/dpa (Archiv)

Der Streit zwischen der EU und Multimilliardär Elon Musk spitzt sich zu: Während die EU Gesetze gegen Hass und Gewalt im Netz durchsetzt, will der Tesla-Boss dort im Namen einer grenzenlosen Freiheit letztlich Anarchie zulassen. Nicht nur Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen (54) warnt davor: „Antisemitische Posts, rassistische Pöbeleien, Attacken auf Transmenschen, verschwörungstheoretisches Geraune, aktuell die grauenhafte Terrorpropaganda der Hamas – all das hat unter Elon Musk massiv zugenommen.“ Er sagt: „Musk agiert wie ein missionarischer Kulturkämpfer.“

Herr Pörksen, die EU droht Elon Musk und seinem Netzwerk X, ehemals Twitter, mit strengeren Regeln, hohe Strafen sind möglich. Elon Musk könnte X deshalb sogar aus Europa zurückziehen. Darf die EU diesen Preis in Kauf nehmen?

Sie muss es. Mag sein, dass der Unternehmer sich über die EU und den Digital Services Act ärgert, weil dieser seiner persönlichen Vorstellung von Meinungsfreiheit widerspricht. Aber das ist vollkommen gleichgültig. Wenn es ihm gelingt, Ausnahmeregelungen durchzusetzen, dann hieße das: Die EU knickt ein, sie kuscht, weil die Gesetze einem mächtigen Einzelnen nicht gefallen, der sich zunehmend autokratisch gebärdet.

Die Antidiskriminierungsbeauftragte der Bundesregierung zog sich kürzlich von X zurück und empfahl der gesamten Bundesregierung, sich dort abzumelden. Sie sprach von einer Vorbildfunktion staatlicher Stellen. X sei zu einem Desinformations-Netzwerk geworden. Liegt sie richtig?

Was das Ausmaß an Desinformation angeht: unbedingt. Antisemitische Posts, rassistische Pöbeleien, Attacken auf Transmenschen, verschwörungstheoretisches Geraune, momentan die grauenhafte Terrorpropaganda der Hamas – all das hat unter Elon Musk massiv zugenommen, das ist inzwischen umfassend dokumentiert. Er hat überdies zahllose Content-Moderatoren gefeuert, zentrale Mechanismen der Desinformationserkennung abgeschaltet.

Was, glauben Sie, treibt ihn?

Ideologie, der ökonomische Erfolg kann es nicht sein. Die Werbeeinnahmen brechen ein, User flüchten, die Informationsökologie kippt. Musk will eine Öffentlichkeit der libertären Zügellosigkeit; er agiert zunehmend als missionarischer Kulturkämpfer, der das „Virus“ woker Gesinnung ausrotten möchte, Journalisten nach Belieben cancelt, seine eigenen Tweets gezielt pushen lässt, einen missliebigen Ex-Mitarbeiter mal eben öffentlich der Sympathie für Pädophile verdächtigt und so den Mob auf ihn hetzt. Inzwischen haben sich europäische Regulierungsbehörden und zivilgesellschaftliche Akteure verstärkt zugeschaltet. Kurzum: Was sich hier entfaltet, ist ein politisch noch nicht wirklich entzifferter Machtkampf, der sich um die Frage dreht: Wem gehört eigentlich Öffentlichkeit? Und wer bestimmt das Kommunikationsklima?

Wie meinen Sie das?

Ich meine damit, dass es jetzt ernst wird. Ein erratisch agierender Privatunternehmer, dem es auf Geld nicht ankommt, hat den Maschinenraum einer weltweit genutzten Plattform gestürmt und dreht wild grimassierend an den Reglern, holt Antisemiten und Verschwörungstheoretiker zurück, lässt in der absolut dramatischen Kriegssituation im Nahen Osten frei erfundene Horrornachrichten viel zu lange stehen. Damit wird eine schon lange bestehende Möglichkeit tatsächlich Wirklichkeit: Mit den sozialen Netzwerken ist eine Propagandainfrastruktur entstanden, die einem Einzelnen viel zu viel Macht gibt. Das ist spätestens jetzt offensichtlich.

Der Tübinger Medienwissenschaftler Prof. Bernhard Pörksen schrieb seine Doktorarbeit über die Medien und die Sprache von Rechtsextremisten.
Der Tübinger Medienwissenschaftler Prof. Bernhard Pörksen schrieb seine Doktorarbeit über die Medien und die Sprache von Rechtsextremisten. © © Peter-Andreas Hassiepen

Die Bundesregierung will trotzdem auf X bleiben. Sie gibt als Grund an, das Netzwerk eben nicht der Desinformation überlassen zu wollen. Ist dieser Ansatz, sich als Informationskrieger in einem von neuen Algorithmen geförderten Konflikt zu behaupten, nicht fast größenwahnsinnig?

Ich würde dies freundlicher kommentieren. Sehen Sie, Userinnen und User, prominente Influencer, NGOs und politische Einrichtungen aller Art ringen jetzt um die richtige Reaktion: Was tun? Es gibt nun jede Menge berührender Abschiedstweets, jede Menge Appelle, auf alternative Netzwerke wie Mastodon oder Bluesky umzuziehen. Und es gibt die Bleibe-Bekenntnisse mit dem Ziel, das Terrain nicht kampflos aufzugeben.

Könnte die Abmeldung staatlicher Stellen die Macht von X, als wichtigstem Informationstool für Politik und Medien, überhaupt brechen?

Definitiv nicht. Für echten Einfluss braucht es koordiniertes Handeln. Das ist das klassische collective-action-Problem, das in Netzwerken eine eigene Trägheit der Reaktionen bedingt. Es geht hier also erstmal um Bekenntnisse. Und wenn man die Fülle der Reaktionen aus der Distanz betrachtet, dann sieht man: Es fehlt in dem hier ablaufenden Machtkampf eine Institution, die es noch nicht gibt. Eine ausreichend machtvolle Interessensvertretung der Userinnen und User, die für ein respektvolles Miteinander eintreten, eine Art transnationale Gewerkschaft der Desinformations- und Polarisierungsgegner, die öffentlich ordentlich Druck aufbaut, für eine andere publizistische Linie kämpft. Und die im Zweifel den kollektiven Umzug und Auszug von einer Plattform zu einer anderen koordinieren und anführen könnte. Denn jede Einzelreaktion ist für sich genommen erst einmal wirkungslos.

Musk will laut eigener Aussage einen „Citizen Journalism“ etablieren. Jeder soll sich auf X als Journalist fühlen. Man sieht die Folgen der, sagen wir, Live-Öffentlichkeit zurzeit besonders drastisch im Zuge des grausamen Angriffs der Hamas auf Israel. Hat das aus Ihrer Sicht etwas mit Journalismus zu tun?

Nein. Das ist ein Missverständnis, basierend auf der Idee, dass einen allein die Tatsache, dass man veröffentlicht, auf irgendeine magische Weise in einen Journalisten verwandelt. Aber mit Verlaub: Das ist netz-utopistischer Nonsens. Journalismus ist idealerweise wertegeleitetes Publizieren, ein Beruf mit Ausbildung und Regeln, Sorgfalt und Skepsis. Und das alles bedeutet natürlich viel mehr als nur zu posten – es heißt Quellen zu prüfen, unabhängig zu berichten, Propagandavideos einzuordnen.

Hat es nicht auch Vorteile, wenn jeder sich fast ohne Barrieren und live über alles auf der Welt informieren kann?

Ich tue mich schwer mit einer Antwort. Zum einen erscheint mir die Tatsache, dass heute so viele Menschen, die einst keine Stimme hatten, sich nun Gehör verschaffen können, als eine grandios gute Nachricht – wunderbar! Zum anderen ist aber die Behauptung, man könne sich tatsächlich ohne Barriere informieren, nicht ganz richtig, denn es gibt ein weitgehend intransparentes System der Fehlanreize in Gestalt von Plattform-Algorithmen, die Bizarres, Empörendes und Extremes gezielt nach oben spülen. Und schließlich, mal ganz altväterlich gesagt: Man braucht, um im frei umherwirbelnden Informationskonfetti einschätzungsfähig zu bleiben, eine geschulte Urteilskraft. Das wäre die Voraussetzung. Aber genau daran hapert es, wenn man sich die weitgehend kraft- und konzeptionslose Medienbildung in den Schulen anschaut.

Für Journalisten ist der Reichtum und die Vielfalt an Meinungen und der Zugang zu Quellen, wenn man auf X unterwegs ist, noch immer ziemlich unschlagbar. Desinformation ist ja nur ein Teil des Ganzen – und die gibt es auch woanders.

Ich kann das gut verstehen. Auch mir fällt der Abschied von X geradezu absurd schwer, obwohl ich hier nur als faszinierter, flanierender Beobachter unterwegs war. Zumindest das alte Twitter hatte lange als Nachrichtenkanal für jedermann eine ganz eigene Farbe, einen eigenen Vibe. Und war eben auch ein fantastisches Recherchetool, um sofort auf neue Ideen und Anregungen zu stoßen. Bei vielen, die aktiv engagiert waren, beobachte ich derzeit ein Gefühl digitaler Heimatlosigkeit. Die Welt der alten Verbindungen hat sich aufgelöst, ist untergegangen. Aber die Sehnsucht nach dem Austausch früherer Jahre ist noch da. Vielleicht wird network grief, also die Trauer über den Verlust von plötzlich ruinierten Netzwerken, irgendwann zu einer neuen diagnostischen Kategorie, wer kann das sagen?

Es gibt die Theorie der Filterblasen, aus denen wir nur mal raus müssten, um uns wieder besser zu verstehen. Sie schreiben dagegen an, sprechen stattdessen von einem Filterclash. Sehen wir demnach nur Haltungen auf X und Co., die sonst in den Kneipen besprochen wurden, in die sich Politiker oder Journalisten gar nicht vorwagen?

Das kann man so sagen, ja. Der endlose, beständig pulsierende Bewusstseinstrom der vernetzten Vielen und die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Posten und Publizieren – all das wird nun öffentlich, wenn auch im Darstellungskorsett von Algorithmen, die diese gigantische Stimmenvielfalt noch mal untergründig ordnen. Das ist oft faszinierend, manchmal berührend, mitunter erschreckend. Mein Punkt: Die Filterblasenidee ist gleich doppelt irreführend. Sie ist empirisch falsch – und suggeriert überdies eine einfache, im Zweifel technische Lösung von Kommunikationsschwierigkeiten. Nach dem Motto: einfach mal ein Programm schreiben, das einen mit den Posts von radikal Andersdenkenden konfrontiert!

Aber das macht nur noch wütender.

Ein empirisch gut belegter Befund. Und man kann sich unter vernetzten Bedingungen ohnehin nicht wirklich abschotten. Permanent prallen im Weltinnenraum der Kommunikation unterschiedliche Perspektiven, große und kleine Ideologien aufeinander. Das erzeugt eine eigene Form von Stress, eine Art digitale Dissonanz. Und eben diese Sofort-Konfrontation von Parallelöffentlichkeiten nenne ich den Filterclash. Die Konsequenz dieser Idee ist radikal anders. Sie lautet: Wir brauchen, um Kommunikationsschwierigkeiten tatsächlich zu lösen, nicht noch mehr Dauerkonfrontation mit anderen Standpunkten, sondern Behutsamkeit, konkrete Orte, direkten Kontakt und Gelegenheiten zur Kooperation.

Was wäre die Alternative zu X: Viele kleine, gut moderierte Netzwerke oder die Utopie einer – vielleicht genossenschaftlichen oder als Stiftung organisierten – großen digitalen Agora?

Darf ich einen Moment träumen? Ich war in den letzten drei Jahren intensiv im Silicon Valley unterwegs. Und bin der Frage nachgegangen, wie die ersten sozialen Netzwerke eigentlich organisiert waren, warum hier ein anderes Kommunikationsklima herrschte. Die Antwort: In diesen ersten Gemeinschaften gab es keine Werbung, kein Datamining, keine Anonymität. Die überschaubare Zahl von Trollattacken – man sprach damals von flame wars – wurde durch eine exzessive Moderation eingehegt. Und: Das Geschäftsmodell war ein anderes. Man zahlte in Form von Abogebühren. Autokratische Chefs wie Elon Musk wären für die Digital-Kommunarden von einst absolut undenkbar gewesen.

Das heißt?

Ob es kleine Netzwerke sind oder eine große Agora – entscheidend ist, dass das klassische Geschäftsmodell der Werbefinanzierung irgendwann abgelöst und die Macht von Einzelnen strikt begrenzt wird. Dann könnten Plattformen wieder zu großartigen Instrumenten der Vernetzung werden. Dann brauchte es die Anreize in Richtung des Extrems und der Überhitzung gar nicht, die im Letzten dazu dienen, unsere Aufmerksamkeit meistbietend an die Werbeindustrie zu verkaufen. Und dann könnte das große, grummelnde Gespräch der Gesellschaft noch einmal neu und anders beginnen.

Das Gespräch führte Julius Betschka