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Der wiedergefundene Klang

Der Trompeter Oskar Böhme aus Potschappel schuf faszinierende Werke, viele in St. Petersburg. Eine CD überrascht.

Von Dorit Oehme
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Trompeter Oskar Böhme stammte aus Potschappel, wurde in Russland berühmt und später ermordet.
Trompeter Oskar Böhme stammte aus Potschappel, wurde in Russland berühmt und später ermordet. © Foto: Archiv Christian Neef

Es sei fast so, als höre er seinem Romanhelden zu. So beschreibt der Hamburger Autor Christian Neef, wie er die jüngst beim Label Thorofon erschienene CD „150 Jahre Oskar Böhme. Dresden – Sankt Petersburg“ erlebt. Neef hat das Leben des verschollenen Musikers rekonstruiert. Böhme war Solotrompeter am Mariinsky-Theater, dem Ballett- und Opernhaus der Newa-Stadt, und Komponist. Geboren wurde er am 24. Februar 1870 im heutigen Freitaler Stadtteil Potschappel. Mit der Saga „Der Trompeter von Sankt Petersburg“ eröffnete Neef vor zwölf Monaten das Jubiläumsjahr.

Das in Österreich aufgenommene und in der deutschen Edition Bella Musica erschienene Album vollendet nun das Jubiläumsjahr. Böhme hinterließ mindestens 44 Lieder, Serenaden, Tänze, Fugen, Ballettszenen und ein Konzert. Die CD ist die erste Gesamtaufnahme der wichtigsten Werke. „Ich habe lange nach unveröffentlichten Kompositionen recherchiert“, sagt Helmut Fuchs. Der Solotrompeter der Sächsischen Staatskapelle hat die CD maßgeblich erarbeitet.

Neef schrieb den Haupttext des Booklets. Geboren wurde die Idee für das Album im Herbst 2019 nach einer Konzertlesung in Dresden. „Ich hatte bei Ludwig Güttler angefragt, ob er mir einen Solisten empfehlen könnte, der Böhmes Werke an dem Abend spielt. Er nannte sofort Helmut Fuchs“, sagt Neef.

Ermordet in der Sowjetunion

Fuchs fing Feuer: „Ich las vorher gebannt Oskar Böhmes Schicksal. Sein Trompetenkonzert in f-Moll Opus 18 gehörte in meiner Wiener Studienzeit zu meinen Lieblingsstücken. Doch sein Lebenslauf war unvollständig.“

Christian Neef gelang, was viele vergeblich versucht hatten. Er brach das Schweigen. Als Journalist berichtete er mehr als 35 Jahre lang als Korrespondent aus Russland beziehungsweise der Sowjetunion, dem Kaukasus, Zentralasien und Osteuropa. Zuerst für den Rundfunk, ab 1991 für das Nachrichtenmagazin Der Spiegel.

Autor und Journalist Christian Neef ist Russland-Kenner. Er recherchierte und veröffentlichte die Geschichte von Oskar Böhme.
Autor und Journalist Christian Neef ist Russland-Kenner. Er recherchierte und veröffentlichte die Geschichte von Oskar Böhme. © Foto: Jewgeni Kondakow

„Etwa im Jahr 2015 blätterte ich in St. Petersburg in den Listen der Opfer des Großen Terrors der Stalin-Zeit. Dabei fielen mir viele deutsche Namen von Menschen auf, die völlig unpolitisch wirkten. Mittendrin stand Oskar Böhme. Es waren etwa drei, vier biografische Zeilen. Dazu ein Hinweis darauf, dass er am 3. Oktober 1938 erschossen worden war – auf Grundlage eines Urteils des Orenburger NKWD, des Volkskommissariats für innere Angelegenheiten.“ Neef wusste somit, dass es eine Akte geben musste. Er beantragte Einsicht beim Geheimdienst in Orenburg.

Zu Beginn der Saga kommt Böhme gerade in der Stadt am Ural an. Er hat zwei Schriftstücke bei sich, die er beim Geheimdienst NKWD zu zeigen hat. Im Instrumentenkoffer trägt der 65-Jährige sein Cornet à Pistons. Es ist ein kleines Ventilhorn, das einen weicheren Klang als die Trompete hat. Wie sein Zauber zu entlocken ist, hat er von seinem Vater gelernt; die Musikerfamilie lebte in der Turnerstraße 2 in Potschappel. Das Haus steht heute nicht mehr. Doch nach der Augustflut 2002 wurden die Grundmauern entdeckt.

Oskar Böhme ist Ehrenbürger von St. Petersburg

Böhme tourte schon mit 15 als Solist durch Europa. Er studierte in Hamburg, Berlin und Leipzig. 1898 reiste er nach Russland aus. Als 29-Jähriger schrieb er in St. Petersburg mit seinem Opus 18 das erste Konzert für Solo-Trompete in der romantischen Ära. Es wurde seine „Eintrittskarte“ ins Orchester des Mariinsky-Theaters, die russische Staatsbürgerschaft hatte er bereits. Kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde er Ehrenbürger von Petersburg.

Doch sein Alltag gestaltete sich wegen seiner Herkunft während des Krieges immer schwieriger. Nach der Revolution von 1917 begann sein Abstieg. 1930 wurde er wegen angeblicher antisowjetischer Propaganda erstmals verhaftet. Nach seinem Tod geriet Böhme in Vergessenheit. Erst in den 1960ern wurden seine Werke wieder in der Sowjetunion gespielt. Der deutsch-schweizerische Trompetenvirtuose Max Sommerhalder spielte sie in den 1970ern im Westen ein. „Er ist ein Böhme-Kenner und nun ganz begeistert von der Gesamtaufnahme und ihrer Qualität“, sagt Neef.

Helmut Fuchs, Solotrompeter der Sächsischen Staatskapelle Dresden, und die Pianistin Lilly Zhang-Sowa aus Salzburg interpretieren Oskar Böhmes Werke.
Helmut Fuchs, Solotrompeter der Sächsischen Staatskapelle Dresden, und die Pianistin Lilly Zhang-Sowa aus Salzburg interpretieren Oskar Böhmes Werke. © Foto: PR

Helmut Fuchs hat die Stücke mit der Pianistin Lilly Zhang-Sowa während der Corona-Pandemie einstudiert. Sie nutzten den Lokalvorteil. Fuchs ist bei Salzburg beheimatet, sie lebt in der Mozartstadt. Im Juli 2020 erfolgten die Aufnahmen im Studio in Bad Goisern (Oberösterreich). Für die Aufnahme der Romanze „Soirée de St. Petersbourg“ kam Johanna Schellenberger, die neue Soloharfenistin der Sächsischen Staatskapelle, aus München.

Der österreichische Tenor Sebastian Fuchsberger sang das Liebeslied „Im süßen Zauber“ ein. Oskar Böhme schrieb es 1896 für die Schwägerin seines Bruders, der Konzertmeister der Rostocker Philharmonie war. „Das habe ich inzwischen erfahren“, sagt Neef, der das schmuckvolle Notenblatt mit der geheimnisvollen Widmung in einem Antiquariat fand.

Das geheimnisvolle Notenblatt des Liedes, welches Oskar Böhme für die Schwägerin seines Bruders schrieb.
Das geheimnisvolle Notenblatt des Liedes, welches Oskar Böhme für die Schwägerin seines Bruders schrieb. © Foto: Archiv Christian Neef

Das Porträt einer Epoche

Die Liedpremiere war bereits für Böhmes Geburtstagskonzert im vorigen Jahr im Mariinsky-Theater geplant. Wegen der Corona-Pandemie steht sie noch aus. Ende April wird in St. Petersburg zudem eine Ausstellung über deutsch-russische Musiker eröffnet, die Neef mit einer dortigen Musikwissenschaftlerin erarbeitet hat. Die Exposition wird über das Goethe-Institut gefördert. Sie ist Teil der Deutschen Woche und wird in weiteren nordrussischen Städten zu sehen sein.

Neben Böhme wird Eugen Reiche vorgestellt, der Soloposaunist am Mariinsky-Theater war. Er wurde am 26. März 1878 im heutigen Freitaler Stadtteil Deuben geboren und starb 1946 in Taschkent. Reiche wurde seit den 1920ern in der Heimat vermisst. Seine Großnichte in Hamburg entdeckte ihn im Jahr 2008 über ein Radiostück, das er komponiert hat. Als das Buch „Der Trompeter von Sankt Petersburg“ im Jahr 2019 im Siedler-Verlag München erschien, kannte der Autor das Schicksal noch nicht. Doch die Saga erinnert an die rund 50.000 Deutschen, die St. Petersburg über 200 Jahre lang prägten, und an ihren Untergang. Es ist das Porträt einer ganzen Epoche.

Die CD „150 Jahre Oskar Böhme. Dresden – Sankt Petersburg“ ist beim Label Thorofon in der Edition Bella Musica erschienen und im (Online-)Musikhandel erhältlich. Sie kostet zwischen 20 und 25 Euro.
Die CD „150 Jahre Oskar Böhme. Dresden – Sankt Petersburg“ ist beim Label Thorofon in der Edition Bella Musica erschienen und im (Online-)Musikhandel erhältlich. Sie kostet zwischen 20 und 25 Euro. © Foto: PR

Die Ausstellung soll am 21. und 24. April mit Konzerten in der Staatlichen Akademischen Glinka-Kapelle in St. Petersburg eröffnet werden, auch mit Musik von Oskar Böhme und Eugen Reiche. Die Veranstaltungen sind Teil der Deutschen Woche, die in diesem Jahr Sachsen gewidmet ist. Das Land Sachsen hat seine offiziell angekündigte Delegation bislang noch nicht abgesagt.

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