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Kreischaer auf der Suche nach der „Hölle Flandern“

Tausende junge Männer aus unserer Region starben im Stellungskrieg des Ersten Weltkriegs bei Ypern. Eine Spurensuche in Belgien nach über hundert Jahren.

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Hinterlassenschaft des 1. Weltkriegs: Einer der vielen alliierten Soldatenfriedhöfe in Flandern. Menschen aus aller Herren Länder ruhen hier.
Hinterlassenschaft des 1. Weltkriegs: Einer der vielen alliierten Soldatenfriedhöfe in Flandern. Menschen aus aller Herren Länder ruhen hier. © Matthias Schildbach

Von Matthias Schildbach

Denke ich an meine Lungkwitzer Urgroßeltern, fällt mir sofort ihre einfach eingerichtete Küche ein. Dort saßen sie gern, ohne Radio, in Stille, und sahen durch das Fenster dem verhaltenen Treiben auf der Dorfstraße zu. An der Wand über der Chaiselongue, die neben dem Küchentisch stand, hingen die Bilder der in den Weltkriegen gefallenen Geschwister der Urgroßeltern.

Eines war ganz besonders. Es war ein Medaillon, eine im kupfernen Anhänger gefasste kolorierte Fotografie eines blutjungen Soldaten des Ersten Weltkriegs. Heute, nachdem Urgroßmutter schon 23 Jahre nicht mehr ist, liegt es bei mir und ich halte es in Ehren.

Mit 19 Jahren in Flandern gefallen

Der junge Mann auf dem Medaillon ist Kurt Kühnel, geboren 1899 als zweites Kind seiner Eltern Max und Pauline aus Lungkwitz. Der Vater war ein einfacher Dachdecker, die Mutter standesgemäß nicht mehr als die Tochter eines Tagelöhners. Kurt sollte einmal Dachdecker wie der Vater werden. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, musste der Vater in den Krieg. Die Mutter blieb zurück mit zehn Kindern, die Älteste 18, das jüngste gerade geboren. Es war die Aufgabe aller, für den Lebensunterhalt zu sorgen.

Was die Mutter schon lange geahnt hatte, trat 1917 ein: Kurt, der Älteste der Jungs, kam nicht wieder. Sein junges Leben wurde in der Hölle Flanderns ausgelöscht. Schwerstverwundet war er durch fürsorgende Kameraden aus der Kampfzone gebracht worden. In einem Feldlazarett ohne jegliche hygienische Mindestanforderungen erlag er am 3. Oktober 1918 seinen Verletzungen. Fünf Wochen vor Kriegsende. Kurt wurde nur 19 Jahre alt.

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In der Familie existierte immer eine Notiz, dass er auf einem deutschen Soldatenfriedhof bestattet worden sei. Doch nie hatte sich die Gelegenheit für Angehörige ergeben, sein Grab zu besuchen.

Im vergangenen Sommer setze ich diesen Wunsch um. Mein Begleiter, mein ältester Sohn Ben - 13 Jahre - und ich machen uns auf nach Belgien, nach Ypern, um mit eigenen Augen zu sehen, wo und was die „Hölle Flandern“ war. Im Gepäck das Kreischaer Gefallenenbuch, ein in Schwarz gebundener Gedenkband, in dem alle Kreischaer Kriegsteilnehmer und Gefallenen aufgelistet sind.

Nach zehn Stunden Ankunft in der "Hölle"

Nach zehn Stunden Autofahrt sind wir in Flandern. Aus der Ferne sehen wir die Kirchtürme Yperns aus der flachen Landschaft ragen. Vor uns liegt das damalige Niemandsland, hier war sie, die „Hölle von Flandern“.

In meiner Vorstellung zeichnet sich ab, was ich darüber gelesen habe: Graue Bilder einer Weltuntergangsstimmung, die eine völlig devastierte Landschaft zeigen. Bombentrichter, mit Regenwasser gefüllt, Schlamm, wohin das Auge reicht, hier und da Leichenteile, die aus dem Boden ragen.

Was ich jedoch vor mir sehe, steht in völligem Gegensatz dazu: kultiviertes Land, saftige Weiden. Renovierte Häuser, gut ausgebaute Straßen. Die Orte wirken freundlich und hell, die Menschen auf den Straßen gehen ihrem Alltag nach. Fast scheint es unbegreiflich, dass doch die gesamte Landschaft vor einem Jahrhundert die Hölle auf Erden war, dass bis heute die Landschaft ein Massengrab Abertausender ist.

Endlose Reihen von Grabsteinen

Wohl nirgendwo sonst findet man so viele Friedhöfe entlang der Landstraßen. Die Flaggen der Alliierten wehen am Eingang. Wir streifen durch die Reihen der Grabsteine aus weißem Marmor. Ben schreibt die Nationen auf, er zählt sie mir beeindruckt nachher im Auto auf: Engländer, Schotten, Neuseeländer, Australier, Südafrikaner, Inder, Iren, ja selbst Chinesen und Ägypter sind unter ihnen. Der Friedhof ist nicht groß, er ist überschaubar. Und trotzdem ruhen auf diesem winzigen Flecken Erde über 50.000 Menschen.

Es gibt nur wenige deutsche Gefallenenfriedhöfe um Ypern. Das Land war nach Beendigung der Kämpfe 1918 von alliierten Truppen besetzt worden. In den Nachkriegsjahren galt das Augenmerk nicht primär den feindlichen Opfern. Erst als sich in den Zwanzigerjahren der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge um eine angemessene Beisetzung der deutschen Gefallenen in Belgien und Frankreich bemühte, wurden auch deutsche Kriegsgräberanlagen ausgestaltet.

30.000 Deutsche ruhen allein in Langemark

15 Kilometer östlich von Ypern befindet sich die Kriegsgräberstätte Langemark. 30.000 Deutsche ruhen hier. Es ist ein ruhiger würdiger Ort an einer Landstraße, rings umgeben von Feldern. Die namentlich Bekannten sind in einem Totenbuch aufgeführt. Ben macht sich die Mühe, er sucht darin nach den Kreischaer Gefallenen, die in der Hölle Flanderns geblieben sind. Er findet sie nicht.

Ich recherchiere im Internet die Zahlen der bestatteten Deutschen auf den Kriegsgräberstätten in der weiteren Umgebung, vergleiche sie mit den Opferzahlen der Schlachten um Ypern. Die Differenz geht in die Zehntausende. Ich erzähle Ben davon. Nachdenklich fragt er mich, wo denn die vielen Toten sind, wenn sie nicht auf den Friedhöfen bestattet wurden?

Sie liegen hier, unter uns, inmitten der Landschaft, Ben. Ihre Körper sind durch vier Jahre Stellungskrieg auf demselben Terrain nicht bestattet worden. Und wenn doch, haben die Granaten die Toten wieder und wieder aus der Erde geholt, sie zerfetzt und pulverisiert, bis nichts mehr von ihnen zu bestatten war. Der Geruch des Todes, der über dem Land lag, wurde in Berichten der Soldaten immer wieder beschrieben.

Kriegerdenkmäler zum Trauern zu Hause

Die Familien wussten aber davon nichts, dass ihre Angehörigen nicht einmal Gräber hatten, meint Ben etwas unsicher nachfragend. Nein, wahrscheinlich nicht. Ihnen blieb nur die Trauer und das Leid, einen Ort des Gedenkens hatten sie nicht. Deshalb schufen sie ihn sich in Form der Kriegerdenkmäler, wie sie heute noch in unseren Heimatorten existieren.

Ich sehe es Ben an, dass ihn bewegt, was wir hier in Flandern erfahren, und ich freue mich, dass er in seinem Alter fähig ist, die Empathie aufzubringen für eine Zeitreise, die viel Vorstellungskraft erfordert. Denn das Flandern, das wir vor uns sehen, hat so ziemlich gar nichts mit einer Hölle gemein.

Kurt Kühnels Grab auf dem deutschen Soldatenfriedhof von Wervicq-Sud.
Kurt Kühnels Grab auf dem deutschen Soldatenfriedhof von Wervicq-Sud. © Matthias Schildbach

Im August 1914 überfielen deutsche Truppen das neutrale Belgien. Von Osten her rollte die Kriegsmaschinerie das Land auf. Hier in Flandern kam die Front zum Stehen. In Sichtweite der Kirchtürme von Ypern sollte der Bewegungskrieg zum Stellungskrieg werden. Im Oktober 1914 begann das Schlachten vor Ypern. Es hielt bis November 1918 an. Von der umliegenden Kulturlandschaft, den Dörfern, Straßen und der gewachsenen Natur blieb nichts übrig.

Die flandrischen Namen der Dörfer östlich Yperns kannten bald Familien rund um den Globus, sie bezeichneten die Todesorte ihrer Angehörigen. Passendaele, Zonnebeke, Poelkapelle, Langemark – Orte, wo die vordersten Gräben verliefen. Kein Stein blieb hier auf dem anderen, kein Baum stand in dieser Zone mehr. Was der Krieg zurückließ, war ein kampfmittelverseuchtes Gebiet, ein blutgetränktes Massengrab.

Heimaterde für Kurt Kühnels Grab

Das Medaillon mit dem Bildnis Kurt Kühnels haben wir mitgenommen. Wir suchen nach dem Friedhof, der Routenplaner zeigt uns an, dass wir nur 13 Minuten entfernt sind. Wir überqueren die nahe belgisch-französische Grenze bei Wervik, es ist eine wunderschöne Landschaft hier.

Erster Besuch am Grab nach 103 Jahren auf dem deutschen Soldatenfriedhof Wervicq-Sud. Wir haben Erde aus der Heimat mitgebracht.
Erster Besuch am Grab nach 103 Jahren auf dem deutschen Soldatenfriedhof Wervicq-Sud. Wir haben Erde aus der Heimat mitgebracht. © Matthias Schildbach

An einem Hügel ist das Ziel erreicht. Durch ein Tor betreten wir den deutschen Soldatenfriedhof von Wervicq-Sud. Wir teilen uns auf, Ben sucht rechts, ich gehe nach links. Nach wenigen Augenblicken ruft mich Ben zu sich. Schweigend steht er da, er zeigt auf das Eisenkreuz vor ihm. Die Entdeckerlust ist Betroffenheit gewichen, bei uns beiden. Auf einmal ist der Krieg ganz nah. Aber auch die Bande zur Heimat und zur eigenen Familie sind auf einmal hier in Frankreich.

Veranstaltungen zum Volkstrauertag

Freital. Die jährliche Gedenkveranstaltung zum Volkstrauertag kann am Sonntag im Hinblick auf die Corona-Pandemie erneut nicht wie gewohnt stattfinden. Die Stadtverwaltung wird auf dem Johannisfriedhof an der Wartburgstraße wieder still der Opfer von Krieg und Gewalt gedenken und einen Kranz niederlegen. Die Freitaler können im Laufe des Tages in Eigenverantwortung und unter Beachtung der geltenden Regelungen Blumen und Kränze am Mahnmal niederlegen.

Lohmen. Die Bevölkerung ist zur Gedenkfeier 10.15 Uhr an das Ehrenmal Lohmen, Ecke Dorfstraße / Basteistraße, eingeladen. Ihre Spenden an diesem Tag kommen dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge zugute.

Wilsdruff. Der evangelische Gottesdienst findet am 14.11. ab 10 Uhr in der Jakobikirche statt. Da Wilsdruffs älteste Kirche nur sehr selten für Gottesdienste genutzt wird und eine ganz besondere Atmosphäre bietet, ist das sicher auch für sonst Nicht-Kirchgänger interessant. Danach erfolgt mit musikalischer Untermalung die Kranzniederlegung. Anschließend gibt es dann noch für alle Interessierten eine kleine Führung durch die Jakobikirche (ca. 30 Minuten). Treffpunkt ist das Rondell an der Frontseite.

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Als ich Kurts Namen auf dem Kreuz lese, kommen mir die Tränen. Ich habe Kurt nie kennengelernt, nur wenig über ihn und sein kurzes Leben erfahren. Trotzdem. Nun sind wir hier, wir sind nach 103 Jahren die Ersten aus seiner Familie, die sein Grab besuchen. Es ist ein schöner Tag. Vom Friedhofshügel haben wir eine herrliche Aussicht auf das Land, nach Norden, in Richtung Ypern. Als Kurt beerdigt wurde, war das Grollen der nahen Front allgegenwärtig. So liegen Ben und ich auf der Wiese, wir reden darüber, um zu verstehen, um uns die Geschichte gegenwärtig zu machen.

In einer kleinen Büchse haben wir etwas Erde mitgebracht: Heimaterde. Wir verstreuen sie über Kurts Grab als symbolischen Gruß von zu Hause. In diese Büchse füllen wir eine Handvoll der Erde Flanderns und nehmen sie mit nach Kreischa. Vielleicht kehrt damit auch ein Teil der vielen Gefallenen zurück in die Heimat. Die „Hölle Flandern“, bis heute ein symbolträchtiger Ort.

Flandern ist eine von drei belgischen Regionen, sie liegt im Westen und grenzt an Frankreich und die Nordsee. Mit dem Auto zu erreichen in 10 Stunden / 900 km.