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Der Arzt, der die Frühchen rettet

Prof. Dr. Mario Rüdiger kümmert sich in Dresden um die frühen und ganz frühen Kinder. Welche Chancen sie haben, was ihn fasziniert und was er 2040 vorhat.

Von Heike Sabel
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Prof. Dr. Mario Rüdiger hilft Eltern und ihren Kindern, die zu früh ins Leben gestartet sind.
Prof. Dr. Mario Rüdiger hilft Eltern und ihren Kindern, die zu früh ins Leben gestartet sind. © Sven Ellger

Irgendwann hat er aufgehört, die Kinder zu zählen, denen er in über 28 Jahren auf die Welt half. Was nie aufhört, ist seine Faszination, wenn er 300 oder 400 Gramm schwere Frühchen in der Hand hält. Prof. Dr. Mario Rüdiger weiß, dass vor allem Papas ängstlich mit ihren großen Händen und dem kleinen Leben sind. Doch nichts ist so wichtig wie die Bindung zu den Eltern, sagt der Professor an der Dresdner Uniklinik, der auch die Deutsche Stiftung Kranke Neugeborene gegründet hat. Deshalb werden die Frühchen auch, wenn es vertretbar ist, den Müttern schon eine Stunde nach der Geburt auf die Brust gelegt.

Das Dresdner Uniklinikum ist eine von drei Kliniken in Sachsen und eine der größten in Deutschland, in denen extrem unreife Kinder betreut werden. Das sind Kinder, die vor der 32. Schwangerschaftswoche geboren werden. Diese Geburten machen etwa ein Prozent aller aus. Von Frühgeburten spricht man bei einer Geburt vor der 37. Woche. Etwa jedes zehnte Kind wird so zeitig geboren. In der Uniklinik werden jedes Jahr über 120 extrem unreife geborene Kinder behandelt. 95 Prozent von ihnen überleben. Auch Kinder, die in der 23./24. Woche auf die Welt kommen, weniger als 500 Gramm wiegen und noch vor fünf bis zehn Jahren keine Chance hatten. "Sachsen hat die niedrigste Säuglingssterblichkeit in Deutschland", sagt Rüdiger.

Wann darf das Frühchen nach Hause

Das ist auch auf die Erfahrungen aus den vielen Behandlungen zurückzuführen. Es sind Zahlen, die wichtig sind, wenn es um Forschungsgelder und Ähnliches geht. Für die Eltern zählt ihr Kind und da ist jedes, das stirbt, eine Tragödie. Dass eine Familie von zweimal Zwillingen gleich drei Kinder verliert, hat auch Rüdiger berührt. Die Pirnaer Familie Dausch kennt auf der Station von Prof. Rüdiger jeder. Auch jetzt noch verfolgen sie, wie der kleine Ubbe wächst. Im April haben Mutter und Sohn den nächsten Vorstellungstermin. Dann um den ersten und zweiten Geburtstag. Wenn dann alles gut ist, müssen sie nicht mehr regelmäßig zur Kontrolle.

Zur Person:

  • Prof. Dr. Mario Rüdiger ist 1969 in Berlin geboren.
  • Er absolvierte erst eine Ausbildung zum Krankenpfleger und studierte dann Medizin.
  • Anschließend war er zunächst an der Klinik für Neonatologie der Charité Berlin als Assistenzarzt tätig.
  • Nach der Facharztprüfung im Jahr 2000 erhielt er die Schwerpunktbezeichnung Neonatologie und die Lehrbefähigung für das Fach Kinderheilkunde.
  • Von 2004 bis 2008 arbeitete er als Klinischer Oberarzt sowie Leiter der Arbeitsgruppe „Pulmonary Research in Neonatology“ an der Klinik für Neonatologie der Medizinischen Universität Innsbruck.
  • Seit März 2008 leitet er als Professor den Fachbereich Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin an der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin des Universitätsklinikums Carl Gustav Carus in Dresden. Seit September 2021 hat er die deutschlandweit erste W3 Professur für feto-neonatale Gesundheit.
  • Prof. Dr. Rüdiger ist Gründungsdirektor des ersten Zentrums für feto-neonatale Gesundheit (www.ukdd.de/fetoneoZentrum).
  • Er ist Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Perinatale Medizin gewählt und eines von 14 Mitgliedern der Neonatal Task Force der ILCOR, in welcher die Empfehlungen für die Reanimation Neugeborener festgelegt werden.
  • 2014 war er Mitgründer der Deutsche Stiftung Kranke Neugeborene.
  • Rüdiger ist 52 Jahre, hat zwei Töchter und lebt in Dresden.

Die ersten Wochen und Monate sind auch bei der geringen Säuglingssterblichkeit ein Kampf. Doch in der Regel können die Kinder um ihren eigentlichen Geburtstermin nach Hause entlassen werden. "Und auch schon mal zwei, drei Wochen eher", sagt Prof. Rüdiger. Wichtig ist, dass das Kind allein trinkt, seine Temperatur hält, an Gewicht zunimmt und ohne Unterstützung regelmäßig atmet. Ubbe hatte das alles am 23. Dezember geschafft.

Das Gewicht ist nicht das Wichtigste

Frühchen von nicht einmal einem halben Kilogramm Geburtsgewicht, die überleben, sind ein Wunder und doch das Ergebnis von Forschung, Entwicklung, Betreuung. Doch das Gewicht ist für das Überleben gar nicht das Entscheidende, sagt Rüdiger. Es gibt vier Faktoren, von denen viel mehr abhängt, was aus einem Frühchen wird. Der erste ist die Reife des Kindes. Ist es schon reif, stark, kann es auch mit einer Infektion oder Sepsis fertig werden. Das ist der zweite Faktor. Und schließlich gehört dazu, wie erfahren ist das betreuende Team von Ärzten und Pflegern. "Eine Schwester sollte sich um ein Kind kümmern, das ist ideal aber leider nicht immer machbar", sagt Rüdiger. Diese drei Faktoren sind die medizinischen, der vierte ist der menschliche - die Eltern.

Hilfe für die Eltern

Eltern von Frühgeborenen sind oft besonders ängstlich, sagt Professor Rüdiger. Anschaulich erklärt er: "Wer laufen lernen will, muss hinfallen dürfen. Wenn die Kinder, nur weil die Eltern sie beschützen wollen, noch mit zwei Jahren getragen werden, lernen sie nie laufen." Um Eltern diese Angst zu nehmen und Vertrauen in ihr Kind zu geben, gibt es ein Betreuungsprogramm. Hier werden Familien psychologisch und praktisch gestärkt und zum Beispiel bei Anträgen unterstützt. "Leider wird das von den Kassen nicht richtig bezahlt, obwohl der Nutzen nachgewiesen ist", sagt Rüdiger. Es ist wie bei vielen begleitenden Maßnahmen, die relativ wenig kosten und so wichtig sind. Statt sie vernünftig zu finanzieren, gibt man später für die Heilung viel mehr Geld aus.

Treffen in 18 Jahren

Wenn alle vier Faktoren perfekt miteinander harmonieren, entwickeln sich etwa 80 Prozent aller Frühchen ohne Beeinträchtigungen. Mancher Entwicklungsschritt dauert vielleicht etwas länger, aber wenn die einstigen winzigen Lebewesen im Leben angekommen sind, haben sie ihren Nachteil vom Anfang aufgeholt. Viele gestandene Frauen und Männer erzählen von ihrem verfrühten Start, fühlen sich heute wohl und sind gesund.

Vor einiger Zeit traf Rüdiger einen Medizinstudenten, dessen Geburt er als Arzt miterlebt hatte. Es war damals kein Frühchen, aber trotzdem ein tolles Erlebnis, sagt Rüdiger. Nicht selten hingegen stehen 18-Jährige vor ihm, für die das Leben zeitiger als gedacht begann und die nun ihren Weg gehen. Katharina Dausch stellt sich schon vor, wie sie in 18 Jahren mit Ubbe zu Prof. Rüdiger geht. Der ist dann 70 und wird wahrscheinlich nicht mehr arbeiten, erinnern wird er sich trotzdem an das besondere Schicksal in seiner Laufbahn.