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Ausgaben für Arzneimittel steigen auf Rekordniveau

Immer teurere Arzneimittel kommen nur wenigen Patienten zugute, zeigt eine Analyse. Vor allem Patente und eine Krankheit treiben die Kosten.

Von Kornelia Noack
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Immer mehr Verordnungen: Automatisiertes Medikamentenlager einer Apotheke in Leipzig.
Immer mehr Verordnungen: Automatisiertes Medikamentenlager einer Apotheke in Leipzig. © Jan Woitas/dpa

Rund 70.000 Frauen in Deutschland erkranken jedes Jahr neu an Brustkrebs. Für viele von ihnen heißt die letzte Hoffnung Keytruda. Das Medikament hemmt das Wachstum von Krebszellen und wird auch bei anderen Krebsarten verschrieben.

Mehr als 1,3 Milliarden Euro haben die gesetzlichen Krankenkassen im vergangenen Jahr allein für dieses eine Medikament ausgegeben. Ein Plus von 16 Prozent. Keytruda ist damit das umsatzstärkste Arzneimittel des Jahres, gefolgt von Eliquis und Xarelto, beide eingesetzt bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Alle drei Arzneimittel stehen unter Patentschutz. „Patentarzneimittel sind Preistreiber“, sagt Marius Milde, Geschäftsführer der AOK Plus. „Zwar verschreiben die Ärzte nicht mehr davon, sie werden aber immer teurer.“

Das belegt auch eine Analyse des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO), die am Dienstag vorgestellt wurde. Insgesamt haben die Gesetzlichen Krankenkassen demnach im vergangenen Jahr 52,9 Milliarden Euro allein für Arzneimittel ausgegeben – ein neuer Rekord. Ausgewertet wurden dazu die in öffentlichen und Krankenhausapotheken eingelösten Verordnungen der rund 70 Millionen Patienten, die gesetzlich krankenversichert sind. Im Vergleich zu 2013 sind die Nettokosten damit um 88 Prozent gestiegen. Die Anzahl der Verordnungen hat in diesem Zeitraum lediglich um 12,6 Prozent zugenommen.

Pharmaunternehmen bestimmen Verkaufspreis

Die Wissenschaftler sehen die Ursachen für die höheren Kosten vor allem in den jährlich wachsenden Packungspreisen. So kosteten laut Analyse verschreibungspflichtige Fertigarzneimittel im Dezember 2022 im Schnitt 1.763,32 Euro. Ein Plus von fast 40 Prozent zum Vorjahresmonat. Bei patentgeschützten Arzneimitteln, sogenannten Originalpräparaten, stieg der durchschnittliche Preis pro Packung im selben Zeitraum um 44,4 Prozent auf 20.631,41 Euro. Damit entfiel mehr als jeder zweite Euro auf patentgeschützte Arzneimittel.

„Der langjährige Trend, dass patentierte Arzneimittel immer mehr kosten, jedoch gleichzeitig immer weniger zur Versorgung beitragen, hat sich im vergangenen Jahr fortgesetzt“, erklärt Helmut Schröder, Geschäftsführer des WIdO. So machten Originalpräparate im vergangenen Jahr nur 6,8 Prozent der verordneten Tagesdosen aus. 2013 seien es noch 12,2 Prozent gewesen.

Auch Sachsens größte Krankenkasse, die AOK Plus, muss immer mehr Geld für Arzneimittel ausgeben – im vergangenen Jahr mehr als 692 Euro pro Versicherten – ein Plus von 4,5 Prozent zum Vorjahr. „Wir brauchen neue Preismechanismen. Sonst kann die Zahlungsfähigkeit der gesetzlichen Kassen gefährdet werden“, so Marius Milde. Denn Pharmaunternehmen können ihren Verkaufspreis für ein Arzneimittel zunächst frei bestimmen. Erst später können Krankenkassen Rabatte beziehungsweise Preisnachlässe mit den Herstellern aushandeln und die Einsparungen an ihre Versicherten weitergeben.

Relativ hohe Kosten entfallen laut der WIdO-Analyse auf neue Arzneimittel, die keinen Zusatznutzen gegenüber bereits verfügbaren Mitteln vorweisen. Allein im Jahr 2021 hätten die Gesetzlichen Kassen 3,8 Milliarden Euro dafür ausgegeben. „Die 2011 eingeführten gesetzlichen Regelungen zur frühen Nutzenbewertung und zu nachgelagerten Preisverhandlungen haben ganz offensichtlich nur begrenzten Einfluss auf die Preisgestaltung der Hersteller patentierter Arzneimittel“, sagt Schröder. Durch eine Vielzahl dieser neuen Mittel werde offenkundig keine Verbesserung der Versorgungsqualität erreicht.

Hausärzte verordnen am meisten Arznei

Rund 15,2 Prozent aller Arzneimittelkosten entfallen laut WIdO-Analyse auf patentgeschützte Krebstherapien, die aber gerade 0,4 Prozent aller Verordnungen ausmachen. Insgesamt haben die gesetzlichen Kassen bei Krebserkrankungen rund 8,1 Milliarden Euro für Originalpräparate ausgegeben – etwa 2.500 Euro je Verordnung. Patentfreie Mittel, sogenannte Generika, kosteten mit 450 Euro pro Verordnung nur knapp ein Fünftel des Preises der patentgeschützten Mittel. Nach Patentablauf sinken die Preise aufgrund des Wettbewerbs mit den Generika-Anbietern meist stark.

Die Analyse zeigt auch, dass die meisten Arzneimittel – gemessen in Tagesdosen – im vergangenen Jahr von Hausärzten verordnet wurden, gefolgt von den hausärztlich tätigen Internisten. Die höchsten durchschnittlichen Kosten fielen bei den Fachärzten für Hämatologie/Onkologie an. Bezogen auf die Patienten erhielten die 80- bis 84-Jährigen die meisten Medikamente. Für Frauen wurden etwa 15 Prozent mehr Arzneimittel verschrieben als für Männer.

AOK Plus-Chef Marius Milde fordert angesichts weiter steigender Arzneimittelausgaben eine transparentere Preisgestaltung. Es müsse ausgewiesen werden, welcher Anteil auf Forschung und Entwicklung, Vertrieb, Personal und Gewinn entfalle. Milde: „Derzeit gilt: Was die Gesellschaft bereit ist zu zahlen, wird aufgerufen.“

Problematisch sei auch die Preisgestaltung für Einmalarznei wie Zolgensma gegen Muskelatrophie. Nach einiger Zeit stelle sich oft heraus, dass die Einmalgabe nicht reiche oder die Wirkung nachlasse und auf andere Medikamente umgestellt werden müsse. Die Preise seien für eine Wirksamkeit von etwa 30 Jahren gemacht, aber nur für drei Jahre nachgewiesen.