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Der stumme Hilfeschrei

Tausende Jugendliche müssen wegen Angststörungen ins Krankenhaus, zeigt eine DAK-Analyse. Mediziner fordern mehr Hilfen – auch in den Schulen.

Von Kornelia Noack
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Ängste belasten die Psyche der Kinder und Jugendlichen stark.
Ängste belasten die Psyche der Kinder und Jugendlichen stark. © Nicolas Armer/dpa

Häufig leiden sie im Verborgenen: Seit der Pandemie haben viele Mädchen und Jungen in Deutschland mit Depressionen, Essstörungen und Ängsten zu kämpfen. Das geht aus dem Kinder- und Jugendreport der DAK hervor, der am Donnerstag veröffentlicht wurde.

Demnach kamen im vergangenen Jahr bundesweit rund 6.900 Mädchen zwischen 15 und 17 Jahren mit einer Angststörung ins Krankenhaus. Das entspricht einem Anstieg von 35 Prozent im Vergleich zum Vor-Corona-Jahr 2019 – ein neuer Höchstwert. Auch bei Essstörungen und Depressionen nahmen die Krankenhausbehandlungen jugendlicher Mädchen zu – um gut die Hälfte beziehungsweise um gut ein Viertel.

„Wir befinden uns mitten in einer Mental-Health-Pandemie, deren Auswirkungen erst nach und nach sichtbar werden. Das zeigt sich besonders bei Angst- und Essstörungen“, sagt Christoph U. Correll, Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der Berliner Charité. Die Therapien von missbräuchlichem Alkoholkonsum gingen dagegen um 41 Prozent zurück und erreichten 2022 einen neuen Tiefstwert seit fünf Jahren.

"Stiller Hilfeschrei" der Mädchen

Für die Analyse haben Wissenschaftler des Instituts Vandage und der Uni Bielefeld Daten von rund 786.000 DAK-versicherten Kindern und Jugendlichen von 2018 bis 2022 untersucht und hochgerechnet.

„Die Zunahme von schweren Ängsten und Depressionen bei Mädchen ist ein stiller Hilfeschrei, der uns wachrütteln muss“, sagt Andreas Storm, Vorstandschef der DAK-Gesundheit. „Die anhaltenden Krisen hinterlassen tiefe Spuren in den Seelen vieler junger Menschen. Wir müssen offen über die Entwicklung sprechen und den Familien Unterstützung anbieten.“

Die Politik habe bereits Impulse gesetzt, beispielsweise mit den sogenannten „Mental Health Coaches“, die besonders belastete Schulen unterstützen sollen. Der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) kritisierte jedoch bereits, dass das befristete Modellprojekt den Anforderungen keineswegs gerecht werde.

Viel zu wenige Schulpsychologen

Vielmehr müsse endlich der internationale Standard bei der Versorgung mit Schulpsychologen angestrebt werden. „Ideal wäre es, wenn ein Schulpsychologe auf höchstens 1.500 Schülerinnen und Schüler kommt, so wie in anderen europäischen Ländern“, sagt Andrea Spies, Vorsitzende der Sektion Schulpsychologie im BDP.

„Bei uns ist das Verhältnis 1 zu 5.400, in manchen Bundesländern sogar noch weit schlechter.“ Schulpsychologische Beratung werde derzeit so nachgefragt wie nie. „Die Psyche reagiert auf Krisen zeitversetzt und meist überdauernd“, sagt Spies.

Die Kinder- und Jugendlichentherapeutin Cornelia Metge aus Zschopau hat beobachtet, dass in den Schulen auch wegen des Lehrkräftemangels wesentliche Dinge zu kurz kommen. „Schule sollte auch ein Ort der Begegnung sein. Ein Ort, wo man auch erzählen kann, dass man Probleme und Schwierigkeiten hat zu Hause. Dafür ist viel zu wenig Zeit“, beklagt sie. Zudem müsse die Prävention einen höheren Stellenwert bekommen. „Psychische Gesundheit sollte ein fester Bestandteil des Unterrichts werden“, wünscht sich Metge.

Mädchen ziehen sich eher zurück

Wie die DAK-Analyse zeigt, leiden besonders jugendliche Mädchen. Sie werden insgesamt häufiger wegen psychischer Erkrankungen in Kliniken versorgt als Jungen. Drei Beispiele verdeutlichen den Geschlechterunterschied: Von hochgerechnet 8.500 Jugendlichen, die mit einer Angststörung behandelt wurden, waren 6.900 Mädchen. Von 4.300 Jugendlichen, die mit einer Essstörung ins Krankenhaus kamen, waren 4.200 weiblich. Von 19.500 Jugendlichen mit einer Behandlung wegen Depressionen waren drei Viertel Mädchen. Bei Kindern zwischen zehn und 14 Jahren zeigt sich ein ähnliches Bild.

„Mädchen neigen eher zu sogenannten internalisierenden psychischen Störungen als Jungen. Sie ziehen sich beispielsweise mit Depressionen und Ängsten eher in sich zurück. Bei Jungen sind externalisierende Störungen häufiger zu beobachten. Sie zeigen tendenziell häufiger ein Verhalten, das nach außen gerichtet ist, also zum Beispiel aggressive Verhaltensmuster. Dass dies durch die Pandemiesituation nochmals verstärkt worden ist, ist unbestritten,“ sagt Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ). „Depressionen, Angst- und Essstörungen sind häufig in stationärer Behandlung, während gerade die Verhaltens- und emotionalen Störungen im ambulanten Bereich versorgt werden.“

Fallen Jungen durchs Raster?

„Wo sind die Jungen?“, fragt auch Christoph U. Correll. „Wir müssen die Analyse der ambulanten Daten abwarten, um zu schauen, ob hier steigende Behandlungszahlen von Jungen zu finden sind und bei welchen Erkrankungen. Es liegt die Vermutung nahe, dass Jungen durch das Raster fallen“, sagt der Mediziner.

Häufig sind psychische Erkrankungen der Grund dafür, dass Mädchen und Jungen keinen Schulabschluss schaffen, auch wegen der langen Fehlzeiten in den akuten Phasen. Wenn eine Krankheit chronisch wird, hat dies negative Auswirkungen auf das ganze Leben.

Keine Entwarnung in Sicht

Die DAK-Auswertung für die vergangenen zwei Jahre gibt aber auch Hoffnung, denn es fallen in der Gruppe der Jugendlichen unterschiedliche Trends auf. Während die Angststörungen 2022 im Vergleich zu 2021 insgesamt weiter zugenommen haben (plus 11 Prozent), blieben Essstörungen nahezu konstant, Depressionen sanken sogar (minus 7 Prozent). Insgesamt wurden 2022 weniger Kinder und Jugendliche mit psychischen oder Verhaltensstörungen in Kliniken behandelt als 2019 – bei Jugendlichen sank die Zahl um 15 Prozent, bei Grundschul- und Schulkindern je um 23 Prozent.

Das sei laut Correll auf Corona zurückzuführen. „Wir hatten in deutschen Kliniken schlicht weniger Kapazitäten zur Verfügung“, so der Mediziner. Und: „Die Ergebnisse zeigen sich im Klinikalltag. Auch wenn sinkende Trends bei einigen Erkrankungen zu erkennen sind: Es gibt keine Entwarnung.“ (mit dpa)