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Görlitz ist die große Chance des Landkreises

Eine neue Studie beleuchtet den Bevölkerungstrend. Die Rede ist von Wachstumsstädten – und von Sterbebegleitung.

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© EZG/Sabine Wenzel

Von Sebastian Kositz und Sebastian Beutler

Berlin ist arm – aber sexy. Und der Landkreis Görlitz? Der ist in großen Teilen alles andere als sexy. Zu diesem zunächst wenig überraschenden Ergebnis kommt eine neue Studie des Forschungs- und Beratungsinstituts Empirica. Im Auftrag der landeseigenen Aufbaubank sowie der beiden sächsischen Verbände der Wohnungsgenossenschaften und der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft haben Fachleute die Wanderungsbewegungen innerhalb Sachsens näher beleuchtet. Doch die Experten haben auch Ecken mit Charme und Chancen ausgemacht – vor allem setzen sie auf Görlitz. Und: Die Forscher liefern verblüffende Erklärungsansätze und stellen drastische Forderungen auf. Die Sächsische Zeitung stellt die Kernaussagen der Studie vor.

Schrumpfung und Wachstum im Landkreis Görlitz im Überblick
Schrumpfung und Wachstum im Landkreis Görlitz im Überblick © SZ

Die komplette Studie steht auf den Seiten des Verbandes Sächsischer Wohnungsgenossenschaften.

Studie zum Bevölkerungstrend im Landkreis Görlitz

Die allgemeine Lage: Die ländlichen Regionen verlieren, die Städte wachsen

Beinah flächendeckend kehren die Menschen der Region den Rücken, kaum ein Ort, der in den vergangenen Jahren in der Summe Boden gutgemacht hat. Insoweit unterscheidet sich der Landkreis Görlitz nicht von anderen Gebieten in Sachsen.

Die Kreise verlieren im großen Stil Einwohner – zugunsten der großen Städte Leipzig und Dresden, die unaufhaltsam wachsen. Als begehrte Zuzugsorte gelten mit Abstrichen indes auch Chemnitz und Freiberg.

Die spezielle Situation im Kreis: Starke Unterschiede zwischen Nord und Süd

Zwar verliert der Landkreis insgesamt Einwohner – doch die Situationen in den einzelnen Teilen der Region sind sehr verschiedene. Vor allem Görlitz hat alle Chancen, sich von der negativen Entwicklung abzukoppeln. Zwar verliert auch Görlitz Einwohner an die großen Städte, gewinnt aber zugleich andere, die aus dem Kreis in die Stadt gezogen sind. Das hatten schon Ende vergangenen Jahres Wissenschaftler des Leibniz-Institutes für Regionalkunde in Leipzig festgestellt. Auch Zittau hat Chancen, kann als Hochschulstadt vor allem viele junge Leute anziehen. Doch nach Abschluss des Studiums gehen wieder viele weg. Für die anderen Gegenden des Landkreises, vor allem für den Kreisnorden, sehen die Forscher dagegen rot wie in unserer Grafik. Es handele sich um „absterbende Regionen“, die über alle Altersgruppen Menschen verlieren.

Die Erklärung: Das Problem im Kreis Görlitz sind nicht die Arbeitsplätze

Oft ist das Ausbluten der Region bisher mit dem geringen Arbeitsplatzangebot begründet worden. Um die Abwanderung, insbesondere der jüngeren Menschen, zu erklären, taugt das aber aus Sicht der Forscher nicht. Dieses Schwarmverhalten, so heißt es in der Untersuchung, ist dabei überraschenderweise nicht durch das Vorhandensein oder Fehlen von Arbeitsplätzen begründet. Vielmehr gewinnen Großstädte „mehr Beschäftigte hinzu als Arbeitsplätze entstehen, während es in den Abwanderungsregionen gegensätzlich ist.“ Selbst wenn stetig neue Jobs im Gewerbegebiet Kodersdorf oder in Zittau entstehen, ziehen die Menschen deswegen nicht in diese Gemeinden, sondern dahin, wo sie Gleichgesinnte treffen oder sie es einfach schön finden. Im Zweifel nehmen sie auch lange Anfahrtswege in Kauf. Die Entwicklung wird noch verschärft durch den Pillenknick: Der habe dazu geführt, dass in den jüngeren Generationen zunehmend weniger Gleichaltrige in einem Dorf oder einer Stadt wohnen. So werde es für sie schwieriger, Menschen mit gleichen Interessen zu treffen, zudem verschwinden vor Ort immer mehr Angebote wie Kinos, Kneipen, aber auch Sportvereine. Für die Fachleute ist daher klar: Die dünn besetzten Generationen „rotten“ sich deshalb in den Großstädten zusammen, abgeschwächt profitieren auch Städte wie Görlitz.

Die Forderungen: Experten raten, alles auf Görlitz zu konzentrieren

Die Experten sind sich einig: Die Entwicklung mit aller Macht aufhalten zu wollen, ist ökonomisch nicht vertretbar. Görlitz gilt den Wissenschaftlern dagegen als Wachstumsstadt, Zittau und Weißwasser erfüllen ihre Funktionen als Anker im ländlichen Raum nicht. Der Rat an die Politik: Um die Schrumpfungsregionen zu stabilisieren, sollen Zentren wie Görlitz zu solchen Ankerpunkten entwickelt werden. Hier sollen zentrale Einrichtungen vom Landratsamt über Krankenhäuser bis zu Einkaufscentern etabliert werden, hier müssen die Innenstädte besonders gefördert und entwickelt werden, hier sollte es eine Eigenheimzulage geben. „Alles auf einen Haufen“, fordert Professor Harald Simons von Empirica. Und Mitautor Lucas Weiden erklärt gegenüber der SZ: „Görlitz lebt, deswegen muss alles auf diese Stadt konzentriert werden.“ Auf keinen Fall sollte sich Görlitz als Pensionopolis oder Studentenstadt positionieren, auch wenn die Stadt von beiden Altersgruppen besonders profitiert. Bei den ausblutenden Orten plädiert Harald Simons für eine „Sterbebegleitung“: Wenn die Dorfstraße kaputt ist, „muss ich sie nicht mehr ausbauen, es genügt zu schottern.“ Es gehe darum, die Härten, die mit dem Aussterben der Gemeinden für die verbleibenden Bewohner verbunden sind, zu mindern – ohne dabei falsche Hoffnungen zu wecken.

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