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Sozialhilfe früher: In Görlitz bekamen Arme Hilfe nur gegen Arbeit

Görlitz hatte schon sehr früh verschiedene Einrichtungen der Sozialfürsorge. Dabei halfen Vereine und auch Bürger. Dass für Hilfe gearbeitet werden musste, war selbstverständlich.

Von Ralph Schermann
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Auf der Natural-Verpflegungsstation Lunitz in Görlitz erhielten Arme Kost und Logis gegen Holzarbeiten, die von der Straffälligenhilfe initiierte Einrichtung galt aber auch als Arbeitsstätte für Wanderer.
Auf der Natural-Verpflegungsstation Lunitz in Görlitz erhielten Arme Kost und Logis gegen Holzarbeiten, die von der Straffälligenhilfe initiierte Einrichtung galt aber auch als Arbeitsstätte für Wanderer. © Ratsarchiv Görlitz/Robert-Schol

Die Stadt Görlitz hat sich schon sehr frühzeitig mit Sozialeinrichtungen verdient gemacht. „Stätten für Armen- und Krankenbetreuung“ hieß das einst, wobei mit Krankenbetreuung nicht die praktizierenden Ärzte oder die Hospitäler und späteren Krankenhäuser gemeint sind. Finanziert wurden soziale Leistungen aus städtischen Mitteln, vor allem aber durch Spenden aus der Bürgerschaft. Bekannt sind dabei sehr umfangreiche Engagements mit wohlbekannten Namen wie Richard Raupach, Martin Ephraim oder Albert Alexander-Katz, Größen aus dem Görlitzer Wirtschaftsleben, die unter anderem einen Kinderhort in Rauschwalde oder in Kunnerwitz ein Heim zur Erholung von Tuberkulosepatienten komplett finanzierten. Für eine Reihe von Betreuungseinrichtungen jähren sich runde Gründungsdaten, woran ein kurzer Überblick hier erinnern soll.

Grundlagen schuf ein Gesetz von 1855, nach dem auch in Görlitz ein sogenanntes Arbeitslosenhaus eingerichtet wurde. Als eine Art Obdachlosenasyl wurde dafür 1861 ein Haus auf der heutigen Hugo-Keller-Straße (damals Jüdenring) bereitgestellt. Auch die Görlitzer Straßenreinigung bezog dort ihr Quartier, was durchaus von Vorteil war: Das Arbeitshaus hieß schließlich so, weil es Sozialleistungen nur gegen Arbeit gab, und da war die manuelle Straßenreinigung ein weites Feld. Vor 145 Jahren wurde der Arbeitshausbetrieb eingestellt, als Pendant öffnete 1898 ein Armenasyl auf der Breslauer Straße (heute in Zgorzelec). In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es in Görlitz zudem noch eine Armenbeschäftigungsanstalt, deren verarmte Nutzer Arbeiten für die Görlitzer Wollengarn-, Haargarn- und Flauschfabrik ausführten. 1856 eröffnete die Stadt überdies noch eine Blindenanstalt.

Die Kinderbewahranstalt auf der Kränzelstraße gehörte zu den wichtigen Sozialeinrichtungen der Stadt Görlitz.
Die Kinderbewahranstalt auf der Kränzelstraße gehörte zu den wichtigen Sozialeinrichtungen der Stadt Görlitz. © Ratsarchiv Görlitz/Robert-Schol

Erste Görlitzer Kinderbewahranstalt öffnete vor 180 Jahren

Noch weiter zurück geht die Kinderbetreuung, die mit einsetzender Industrialisierung erforderlich wurde. Genau vor 180 Jahren wurde die erste Kinderbewahr- und Verpflegungsanstalt eröffnet, für die dann auf der Großen Wallstraße 16 vor 135 Jahren ein kompletter Neubau geschaffen wurde. Mit Zinsen aus einer Stiftung des Großkaufmanns Schrickell öffnete die Stadtverwaltung 1857 eine Schulkinder-Beschäftigungsanstalt auf der Kränzelstraße 25. Schrickell hatte das Ziel dafür vorgegeben: „Gewöhnung der Kinder an Arbeitsamkeit“. Daher mussten die hier betreuten Schulkinder allerlei Textilien verarbeiten sowie Papierklebearbeiten erledigen. Eine dritte Kinderbewahranstalt schließlich öffnete die Stadt 1880 an der Zittauer Straße. Eine in Reichenbach entstandene „Anstalt zur Besserung sittlich verwahrloster Kinder“ wurde vor 90 Jahren nach Görlitz auf die Hennersdorfer Straße (heute Zgorzelec) verlegt.

Auf dem Jüdenring 16 (heute Hugo-Keller-Straße) richtete die Stadt mit Vereinsunterstützung die erste Säuglingsfürsorgestelle ein, die Aufnahme entstand vor hundert Jahren.
Auf dem Jüdenring 16 (heute Hugo-Keller-Straße) richtete die Stadt mit Vereinsunterstützung die erste Säuglingsfürsorgestelle ein, die Aufnahme entstand vor hundert Jahren. © Ratsarchiv Görlitz/Robert-Schol

Nach 1900 folgten weitere Einrichtungen. Auf der Jahnstraße 17 entstand der erste Mädchen-Kinderhort, der zweite folgte kurz darauf auf der Reichenberger Straße (heute Zgorzelec). Der erste Kinderhort für Jungs startete vor 115 Jahren auf der Lutherstraße 11, der zweite ebenfalls 1909 auf der Berliner Straße 63. Den ersten Kindergarten nach Fröbelschem Vorbild errichtete die Pädagogin Martha Vogt in jenen Jahren auf der Hartmannstraße 2, und 1912 nahm ein städtisches Waisenhaus auf dem Landhausweg (heute Zgorzelec) seine Betreuungstätigkeit auf. Als gemeinnütziger Verein geführt wurde anfangs auch die Säuglingsfürsorgestelle, die ins einstige Arbeitshaus auf dem Jüdenring mit einzog.

Um die Verpflegung sorgten sich meist private Vereine mit Rathausstellen gemeinsam. Oberjustizrat Starke gründete zum Beispiel vor 170 Jahren einen Speiseverein, der neben direkten Abgaben auch Arbeitshaus, Polizeigefängnis und Waisenhaus versorgte. Ein weiterer Görlitzer Armenspeiseverein entstand 1853 im Brauhof des Schönhofes. Am Eingang vom Fischmarkt aus blieb das Schild dafür auch nach mehreren Fassadenerneuerungen erhalten: „Kräftiges Mittagessen zu 20 Pfennig“. Erwerbslose und Kranke mit entsprechendem Nachweis zahlten sogar nur zehn Pfennige für eine Mahlzeit. Allerdings hält das keinem Vergleich mit Heute stand, denn selbst zehn Pfennige waren damals für manchen Mitbürger viel Geld.

Für billige Mahlzeiten sorgte ein Speiseverein.
Für billige Mahlzeiten sorgte ein Speiseverein. © Ratsarchiv Görlitz/Robert-Schol

Wer gar nichts hatte – bettelte. Das wiederum war staatlich nicht erwünscht, und so gründete sich auch in Görlitz vor genau 145 Jahren ein „Verein gegen Verarmung und Bettelei“. Und der Straffälligenhilfeverein, der damals „Verein zur Fürsorge für aus Strafanstalten Entlassene“ hieß, schuf am Karpfengrund eine Natural-Verpflegungsstation: Obdach und Essen gegen Arbeiten wie Brennholz spalten und bündeln.

Stadtmission kümmerte sich schon früher um Obdachlose

Der Obdachlosenfrage fühlte sich aber auch damals schon die Stadtmission verpflichtet und nannte das vor 150 Jahren „Verein für Asyl und Stadtmission“. Im gleichen Gebäude auf der Langenstraße 49 gab es auch eine Herberge für alleinstehende Frauen und Mädchen, das Frauenasyl. Evangelische wie katholische Kirche kümmerten sich aber ebenso um gut betuchte Unterbringungen, so entstanden Pflege- und Altenheime wie das Luisenstift, das Otto-Stift (beide Biesnitzer Straße) oder vor 160 Jahren eine Pflegeanstalt auf der Kahle (heute Johannes-Wüsten-Straße). Überhaupt hatte der am 1. Dezember vor 160 Jahren gegründete Verein für innere Mission für Görlitz immense Bedeutung.

Neben dem evangelischen Vereinshaus auf der Kahle betrieb er als Heimstätte für alleinstehende Arbeiterinnen das Marthaheim auf der Konsulstraße 25, unter dem Namen „Bethanien“ zudem Einrichtungen für Erwachsene und für Kinder an fünf Görlitzer Standorten sowie in Reichenbach.

Vor 120 Jahren organisierte das Rathaus die Armenfürsorge weiter, teilte die Stadt in bis zu 30 Armenbezirke auf. In jedem Bezirk wurde ein Vorsteher mit mehreren Armen- und Waisenpflegern bestellt. Alle Bezirke unterstanden einer neuen Armendirektion der Stadtverordnetenversammlung (Stadtrat), die wiederum fünf Armenärzte zur Betreuung verpflichten konnte. Gemeinnützige Vereine leisteten dazu das ihre – etwa der Verein für Volkshygiene, die freiwillige Sanitätskolonne des DRK, eine Wohlfahrtsstelle für Alkoholkranke oder der Verein für Gesundheitspflege, der an der Zittauer Straße am Weinberg Licht-Luft-Bäder betrieb.

Die Barmer Ersatzkasse geht auf eine spezielle Görlitzer Kaufmannsvereinigung zurück.
Die Barmer Ersatzkasse geht auf eine spezielle Görlitzer Kaufmannsvereinigung zurück. © Ratsarchiv Görlitz/Robert-Schol

Unterstützung in Notlagen zu gewähren war zudem auch Aufgabe der Krankenkassen, hervorgegangen aus entsprechenden Zünften der Handwerker oder aus Knappschaften. Ab 1883 gibt es für alle gewerblich Tätigen eine entsprechende Versicherungspflicht. In Görlitz wurde am 27. Oktober vor 140 Jahren eine Krankenkasse junger Kaufleute gegründet, die vor genau 110 Jahren mit dem Kaufmännischen Verein Barmen fusionierte und heute deutschlandweit bekannt ist – die Barmer Ersatzkasse. In jenen Fusionszeiten hatte Görlitz 16 Orts- und 24 Betriebskrankenkassen. Das Görlitzer Sozialwesen lag also einst auf breiten Schultern.