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Görlitzer Schloss: Was verdeckt der Glanz des Wiederaufbaus?

Seit sieben Jahren saniert eine Familie Schloss Ober-Neundorf. Dafür ist sie hoch angesehen. Doch lange gibt es einen Verdacht: dass hier Anhänger einer rechtsesoterischen Bewegung zugange sind.

Von Susanne Sodan
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Familie Kuhn hat ein ruinöses Schloss saniert. An der Fassade ist jetzt ein Montagsdemo-Spruch zu lesen. Den Verdacht, dass hier etwas nicht stimmt, gibt es schon länger.
Familie Kuhn hat ein ruinöses Schloss saniert. An der Fassade ist jetzt ein Montagsdemo-Spruch zu lesen. Den Verdacht, dass hier etwas nicht stimmt, gibt es schon länger. © Martrin Schneider, SZ-Bildstelle

Ein älterer Mann kämpft sich die Stufen in Schloss Ober-Neundorf hinauf. Es ist der Tag des offenen Denkmals vorigen September. Am Absatz oben steht Simone Kuhn, entschuldigt sich. Der Handlauf an der Treppe fehle noch. Doch das, sagt der Mann, würde Familie Kuhn ganz sicher auch noch schaffen.

Sie haben viel geschafft. Schloss Ober-Neundorf in seiner heutigen Form stammt aus dem Ende des 16. Jahrhunderts. 1945 wurde die letzte private Eigentümerin enteignet, nach der politischen Wende übernahm die damals noch eigenständige Gemeinde Ludwigsdorf die Verwaltung. 2001 kaufte die Familie Dahmen-Wassenberg aus der Nähe von Düsseldorf das Schloss. Doch es verfiel weiter. Und dann kam Dietrich Kuhn, kaufte 2015 das Schloss. Die SZ berichtete damals darüber, wie er es nicht mehr mit ansehen konnte, wie das Schloss immer ruinöser wurde, das Notdach selbst ein Notdach gebraucht hätte. Er hatte es regelmäßig vor Augen. 1993 gründete er in Ober-Neundorf die Kuhn Kies + Sand GmbH.

Doch um die unbestrittene Sanierungsleistung der Familie Kuhn geht es diesmal nicht. Es ist die Geschichte eines Unternehmers und seiner Familie, der man in Ober-Neundorf einerseits äußerst dankbar ist für die Rettung des Schlosses. Und die andererseits seit Jahren im Verdacht steht, Anhänger der Anastasia-Bewegung zu sein. Diese kann mit in die völkische Siedlungsbewegung gezählt werden. Über Monate recherchierte die SZ dazu, verfolgte aktuelle Veranstaltungen auf dem Schloss und ging Hinweisen nach. In vier Beiträgen fragt die SZ, was es mit der Anastasia-Bewegung auf sich hat - und wie ein Dorf damit umgehen kann: Denn die Anastasia-Bewegung gilt als völkisch, rechtsesoterisch, antisemitisch - verboten aber ist sie nicht.

Querdenker-Motto ziert jetzt Schloss Ober-Neundorf

In einer Ortschaftsratssitzung im Herbst 2015 schilderte Dietrich Kuhn, was er mit dem Schloss vorhat. Vielleicht würden er, Frau Simone und Tochter Lea-Marie irgendwann einziehen, sagte er damals, aber ein reines Wohngebäude solle daraus nicht werden. Auch eine Flüchtlingsunterkunft sollte es nicht werden. Das Schloss würde für die Öffentlichkeit zugänglich bleiben. So laden Kuhns seit Jahren zu Tagen der offenen Tür ein, wie vorigen September, als sich mehrere hundert Gäste zum Beispiel das restaurierte Renaissance-Sgraffito der Fassaden ansahen.

Neuerdings gibt es an der Fassade etwas Neues zu bestaunen: An einer der Giebelwände prangt die Aufschrift "Frieden, Freiheit, Selbstbestimmung". Was sich so unverfänglich anhört, ist einer der Sprüche der "Montagsdemos", die während der Corona-Pandemie ein breites Spektrum von Esoterikern bis hin zu Rechtsextremen vereinten, um gegen die Corona-Politik auf die Straße zu gehen. Es gibt weitere Anlässe, einen Blick nach Ober-Neundorf zu richten. Vor wenigen Tagen hatte das Oberlausitzer Recherchekollektiv 15Grad-Research gemeinsam mit dem Else-Frenkel-Brunswik-Institut Leipzig eine Studie zur Rolle von Unternehmern in rechtsextremen Strukturen Ostsachsens veröffentlicht. Es geht auch um völkisch-esoterische Strukturen - und Dietrich Kuhn. Und bereits voriges Jahr wurde ein Recherchekollektiv in der Schweiz, das sich mit der Anastasia-Bewegung befasst, aufmerksam auf Schloss Ober-Neundorf.

Dieses Fresko ist jetzt an der Nordfassade des Schlosses zu sehen.
Dieses Fresko ist jetzt an der Nordfassade des Schlosses zu sehen. © Martin Schneider

Was ist die Anastasia-Bewegung?

Die Anastasia-Bewegung beruht auf einer zehnreihigen Romanreihe des russischen Esoterikers Wladimir Megre, erschienen zwischen 1996 und 2010. Es geht dabei um eine Frau, Anastasia - blond und blauäugig, allwissend und ausgestattet mit übernatürlichen Fähigkeiten. Sie lebt allein in einem Wald in der Taiga im völligen Einklang mit der Natur. Aber so nett bleibt die Geschichte nicht: Es gebe dunkle - moderne - Kräfte, die die Menschen von einem Leben und den Fähigkeiten wie den ihren abhalten. Eine Lösung: sogenannte Familienlandsitze, Selbstversorgung, eigene Schulen zum Beispiel - eigene Strukturen.

Experte der Anastasia-Bewegung ist der Sektenbeauftragte der evangelisch-lutherischen Kirche Bayern, Matthias Pöhlmann. "Ich denke, dass die Anastasia-Bewegung ein ganz großes Bedürfnis in unserer Zeit bedient", sagte er etwa 2020 gegenüber der ARD. "Es ist die Sehnsucht nach einer Naturnähe, nach ökologischem Wirtschaften, nach einem Ausstieg aus dieser modernen Gesellschaft". Doch das sei nur die äußere Fassade. "Die Nebenwirkungen und Risiken dürfen nicht unterschätzt werden."

So zeichnen die Anastasia-Bücher ein sehr rückschrittliches Frauenbild, vermischt mit rassenideologischen Annahmen. Gegenüber dem MDR sagte kürzlich der Rechtsextremismus-Forscher Matthias Quent dazu: "Die Anastasia-Mythologie basiert auf einer antisemitischen, einer rassistischen und antimodernen Weltanschauung. Und da haben wir schon drei ganz zentrale Elemente des Faschismus wiedergefunden."

Nicht verboten, aber voller Hass

Im deutschsprachigen Raum wächst etwa seit knapp zehn Jahren die Zahl der Anhänger der Ideologie und Lebensweise - vor allem auch in der Corona-Krise: Es lassen sich Schnittmengen in den Ideologien von Querdenkern, Impfgegnern und Anastasia-Anhängern finden.

Sie wisse nicht, was mit Anastasia-Bewegung gemeint ist, antwortet Familie Kuhn auf SZ-Anfrage. Doch alle Bücher habe sie gelesen, "und sie haben mir gefallen", heißt es in einer schriftlichen Antwort der Familie. "Sie wurden übrigens sogar auf israelisch herausgegeben. Könnte das sein, wenn es antisemitische Inhalte hätte?" Wahrscheinlich meint sie Hebräisch, die Sprache, die neben dem Arabischen am häufigsten in Israel gesprochen wird.

Zu den antisemitischen Inhalten gibt es inzwischen sogar Diplomarbeiten, wie die von Jakob Gruber: Im Grunde wird über die zehn Bände eine Verschwörungstheorie aufgebaut. Einst lebte das wedische Volk, die Vorfahren der Anastasia, in einem Idealzustand. Doch dann kamen "dunkle Mächte", die die Menschen beeinflussen, sie zu "Biorobotern" machen. Zunächst ist noch nicht direkt von jüdischen Menschen die Rede, aber es finden sich immer wieder alte antisemitische Stereotype. Später tauchen die "Priester" auf, die Macht im Hintergrund. Schließlich: Die Juden seien „kodiert und in ein priesterliches Heer verwandelt“, um für die Priester die Weltherrschaft zu erringen.

Angesprochen werden auch Pogrome bis hin zur Auslöschung des europäischen Judentums in der Shoah. Anastasias Erklärung für das Leid der Juden ist eine Täter-Opfer-Umkehr. Das "jüdische Volk" habe "vor den Menschen Schuld". Historiker würden davon sprechen, "dass sie Verschwörungen gegen die Macht anzettelten. Sie versuchten alle zu betrügen, vom jungen bis zum alten."

Ein Treffen mit Kuhns

Die Anfrage der SZ zu den Verbindungen Kuhns in die Anastasia-Bewegung verbreitete die Familie kürzlich in den sozialen Medien. Vorangegangen war ein Gesprächstermin auf Schloss Ober-Neundorf. Simone und Dietrich Kuhn hatten dafür nicht nur eine der erwachsenen Töchter hinzugezogen, sondern auch den Markersdorfer Abrissunternehmer Thomas Köhler - ein auf den Görlitzer "Montagsdemos" bekanntes Gesicht.

Auf die SZ-Fragen wollten sie bei dem Termin offensichtlich ungern eingehen. Lieber fordert Dietrich Kuhn, die SZ solle um Verzeihung bitten für angebliche Verfehlungen in der Corona-Zeit - seit Monaten ein gängiges Motiv der Corona-Maßnahmen-Gegner. "Die Medien sollten eigentlich die Leute objektiv und ehrlich unterrichten und nicht solche Lügenmärchen erfinden". Und lieber positiv solle die SZ berichten. Auf Rückfrage, welcher Bericht ihm in der aktuellen Ausgabe negativ aufgefallen sei, gibt es keine Antwort. Als Kuhn die SZ-Reporter vom Hof eskortiert, sagt er: "Sie schaden sich doch selber. Uns können sie nicht schaden. Wir sind hier integriert und sehr gut bekannt."

Bekannte Anastasia-Anhänger waren schon 2018 zu Gast

Doch den Verdacht, dass hinter der schönen Fassade des Schlosses mehr stecken könnte, haben auch andere derweil geschöpft: Im September 2018 fand auf dem Hof das "Kulturgut"-Fest statt. Bilder auf der Schloss-Website zeigen singende Frauen in Trachten, andere in altertümlicher Kleidung sitzen an Spinnrädern. Mehrere Stände sind auf dem Gelände aufgebaut. Einer ist Weda Elysia - eines der bekanntesten Anastasia-Siedlungsprojekte - zuzuordnen. Im Hintergrund, aber deutlich zu erkennen: Maik Schulz, der als Anführer der Gruppe gilt, die laut Medienberichten Kontakte in die rechtsextreme Szene hat. Vor einigen Jahren kaufte sie in Wienrode im Harz den einstigen Gasthof. Ein Kulturzentrum solle daraus werden.

"Hier wird der Eindruck erweckt", so Matthias Pöhlmann gegenüber Spiegel TV, "hier würde das kulturelle Leben eines kleinen Ortes belebt". Man wisse oft zunächst nicht, mit wem man es zu tun hat. Das ahnten einige Wienroder laut der Spiegel-Reportage aber wohl bei einem von der Gruppierung organisierten Jul-Markt. In der Nacht zuvor wurden Reifen zerstochen - ausgerechnet bei Autos von Anwohnern, die zuvor Weda Elysia kritisiert hatten. Wer es war, ist bis heute offen.

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Ob Kuhns heute noch Kontakt haben nach Wienrode? "Wir als Schloss Ober-Neundorf-Projekt haben keine Verbindungen zum Projekt Weda Elysia", schreibt die Familie auf SZ-Anfrage. Ob es beispielsweise persönliche Kontakte gibt, bleibt damit offen. Das Programm vom "Kulturgut" 2018 liest sich teils unverdächtig: Das Jugendsinfonieorchester spielte, Ortsvorsteher Karsten Günther-Töpert hielt eine Begrüßungsrede, Franziska Schubert, damals im Görlitzer Oberbürgermeister-Wahlkampf, war zu Gast.

Und gibt es Programmpunkte wie: russische Kreistänze mit Wlada Ruggle, die der Anastasia-Szene und der rechtsesoterischen Szene zugeordnet wird. Ein Vortrag über die Waldschule Tekos steht auf dem Programm. Eine andere Bezeichnung lautet Schetinin-Schule. In der Anastasia-Szene ist das Schetinin-Konzept beliebt. Wladimir Putin soll die Schulen in Russland über Jahre unterstützt haben. In Deutschland war von ihnen mehr zu hören, als Querdenker nach Wegen suchten, die Corona-Maßnahmen an staatlichen Einrichtungen zu umgehen. Matthias Pöhlmann ordnet die Schetinin-Bewegung dem rechtsesoterischen Spektrum zu. Wie Kuhns gegenüber der SZ bestätigen, war eine der Töchter zeitweise an einer Schetinin-Schule.

Ortsvorsteher schöpfte Verdacht

Ortsvorsteher Karsten Günther-Töpert kann sich noch erinnern, dass an einem der Stände damals ein Modell präsentiert wurde: Wie ein Hektar Land mit Wasserquelle ausreiche, um eine Familie zu versorgen. Die Familienlandsitze - ein Grundelement der Anastasia-Bewegung. "Ich fand das System interessant", erzählt er. Die Idee sich selbst zu versorgen mit Obst und Gemüse, von dem man weiß, woher es kommt, was soll schlecht daran sein? "Im Nachhinein war ich erschrocken, von der dahinter stehenden Ideologie". Er kann sich auch erinnern, dass die Schetinin-Schule Thema war. "Mir hat das zu der Zeit aber noch nichts gesagt." Heute schüttelt er den Kopf. "In meiner Rede habe ich damals die Arbeitsleistung der Familie Kuhn gewürdigt, ihre Mühen, das Denkmal zu erhalten. Natürlich ist es ein Gewinn, dass jemand das Gelände gekauft und wirklich einen Plan hat, es zu sanieren."

Auch sie sei zum Fest gegangen, "weil das Schloss architektonisch eine Besonderheit ist", erzählt eine damalige Besucherin, die anonym bleiben will. Wie weit Kuhns vorangekommen sind, interessierte sie. Doch dann seien zum Beispiel Tänze aufgeführt worden, "die sehr volkstümlich waren. Dazu trugen manche Frauen Trachten. Das Ganze wirkte sehr germanisch angehaucht." Recht schnell sei sie wieder gegangen - nachdem sie eine Art Trödelstand gesehen hatte - auf dem rechtsextremistische Bücher auslagen.

Hoffest endet mit Strafanzeige

Fotos von diesem Stand, die Karsten Günther-Töpert am Abend erhielt, sorgten auch bei ihm für Entsetzen. Darunter sind mehr oder weniger unverdächtige Werke, aber genauso zum Beispiel "Ein anderes Drittes Reich" von Günter Kaufmann, herausgegeben vom Druffel-Verlag, der zur Verlagsgesellschaft Berg gehört - Deutschlands größter rechtsextremistischer Verlag.

Wegen der Auslage der Bücher ging damals eine Anzeige ein, bestätigt Christopher Gerhardi, Sprecher der Staatsanwaltschaft Görlitz. Doch die Ermittlungen führten zu keiner Anklage, schildert er. Zum einen: Der Stand habe quasi herrenlos auf dem Gelände gestanden. Es habe Vernehmungen gegeben, aber wer verantwortlich war, ließ sich nie ermitteln. Ausschlaggebend, dass die Ermittlungen eingestellt wurden, war: Mehrere Bücher waren von rechtsextremen Verlagen herausgegeben, sagt auch Gerhardi - auf dem Index, also strafrechtlich relevant, sei aber keines der Bücher gewesen.

Auch die Stadt Görlitz wurde damals aufmerksam, hielt es zumindest nicht für ausgeschlossen, dass Familie Kuhn zur Anastasia-Bewegung zählen könnte, teilt die Verwaltung mit. Nach dem Fest 2018 "sind Vorkommnisse bekannt geworden, die im Nachgang mit den Sicherheitspartnern der Stadt ausgewertet wurden".

Karsten Günther-Töpert begann zu recherchieren, was es mit den Familienlandsitzen und der Schetinin-Schule auf sich hat. Beim sächsischen Verfassungsschutz ist die Anastasia-Bewegung bislang nicht als erwiesene rechtsextremistische Bestrebung eingestuft. Auch der Verfassungsschutz in Sachsen-Anhalt hält sich bedeckt. Allerdings sind Siedlergruppen wie "Weda Elysia" dort schon länger Thema, erzählt Günther-Töpert. Einige öffentliche Einschätzungen gibt es, etwa die Antwort auf eine sogenannte Kleine Anfrage im Landtag: Völkische Siedlungsbestrebungen seien "mitunter von nationalistischen, rassistischen, antisemitischen oder homophoben Ansichten geprägt. Durch Landnahme versuchen sie, eine kulturelle Hegemonie zu gewinnen".

Günther-Töperts Sorge als Ortsvorsteher: Dass auch in Ober-Neundorf ein Netzwerk entsteht, "welches eine Parallelstruktur außerhalb der Rechts- und Werteordnung darstellt und menschenfeindlich ist". Nach 2018 wurde es ruhiger um Schloss Ober-Neundorf - aber nicht still.

Im zweiten Teil der Serie lesen Sie bald: Sie sind Unternehmer, Heilpraktiker, Schloss-Sanierer. Doch nun verewigt Familie Kuhn an Schloss Ober-Neundorf einen Montagsdemo-Spruch. Was hat es damit auf sich?