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Wow: Großenhain im russischen Fernsehen

Am Montag zeigte der Sender Rossija1 eine Dokumentation anlässlich der Wiedervereinigung: Der Flugplatz als Dreh- und Angelpunkt der Wendegeschichte.

Von Catharina Karlshaus
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Der Großenhainer Militärhistoriker erklärt im russischen Dokumentarfilm, wie der Rückzug der russischen Truppen erfolgte. Über die Bunkeranlage wird auch jetzt noch nicht gesprochen.
Der Großenhainer Militärhistoriker erklärt im russischen Dokumentarfilm, wie der Rückzug der russischen Truppen erfolgte. Über die Bunkeranlage wird auch jetzt noch nicht gesprochen. © Foto/Screenshot: Norbert Millauer

Großenhain. Es ist ein Wunder zur rechten Zeit. Gerade jetzt, wo der Abstand jeden Wunsch nach Nähe schlagen muss, die Koffer ungepackt im Schrank verbleiben und sich nur Gedanken sehnsuchtsvoll auf den Weg in die Ferne begeben dürfen, macht sich ausgerechnet das kleine Großenhain auf in die weite Welt. Mehr noch, wird der Name jener sächsischen Stadt an der Röder wieder einmal zum Sinnbild für Geschichte.

Es ist Montagabend, als der russische Sender Rossija 1, zur besten Fernsehzeit, mit der Ausstrahlung seiner Dokumentation über ehemalige Garnisonsstandorte in Mitteldeutschland beginnt. Von 96 Prozent der russischen Bevölkerung empfangen und mit einem Großaufgebot von 80 regionalen Studios arbeitend, darf sich der staatliche Sender in diesem Moment durchaus sicher sein, unterm Strich von mehr als 135 Millionen Zuschauern eingeschaltet worden zu sein - und Großenhain und seine Einwohner, dass der Name möglicherweise im Gedächtnis von Menschen auf der halben Erdkugel hängenbleibt.  

Menschen, die an diesem 5. Oktober 2020 gemeinsam mit Regisseur Andrej Kondraschov eine gut anderthalbstündige Zeitreise unternehmen. Unter dem Titel "Die Mauer" erzählt der aufwendig gedrehte Streifen über die Ereignisse ab Ende der 1980er Jahre in der Bundesrepublik und den Staaten der einstigen Sowjetunion. Selbstverständlich auf seine eigene Weise und eine - so darf unterstellt werden - die dem staatlich unterstellten Sender auch ganz angenehm sein dürfte. 

Interessierten, die nicht der russischen Sprache mächtig sind, wird durch das Einblenden des Brandenburger Tors, Russlands Präsident Wladimir Putin, dem vielzitierten Vater der deutschen Einheit, Michael Gorbatschow, natürlich der Berliner Mauer selbst und anderen bekannten Plätzen anschaulich auf die geistigen Sprünge geholfen. Eines ist dabei schon nach wenigen Bildern klar: Weder politisch noch organisatorisch war die Wiedervereinigung beider deutscher Staaten einfach zu bewältigen. Erst recht nicht für den deutsch-sowjetischen Freund, dem immerhin bis 1994 Zeit gegeben worden war, die 687 Standorte der russischen Streitkräfte auf dem Gebiet der ehemaligen DDR zu räumen. Gewissermaßen besenrein. 

Eine Mammutaufgabe, so wird ab der 50. Minute des Films deutlich. Ab der 50. Minute, in welcher die untermalte Musik bewusst eine Nuance lauter und eine Spur dramatischer wird. Davon fliegende Militärflugzeuge, Start- und Landebahnen sich mit Sequenzen der Kontrolltürme und Unterstände für Flugzeuge abwechseln. Ab der 50. Minute, in der schließlich ein Schwenk in das Allerheiligste führt. Gezeigt wird eine lichtdurchflutete, scheint´s riesige, halbrunde Röhre aus Stein.

Nur Insider und natürlich die Bewohner der Röderstadt selbst wissen jetzt, dass es sich um jenen Bunker handelt, über den bis zum heutigen Tag nur hinter vorgehaltener Hand - in Russland am besten aber gar nicht - geredet werden sollte. "Großenhain" sagt der Sprecher mit russischem Akzent, und die Bilder von Technik, Mobiliar, Funkerausrüstungen und Ersatzteilen lassen das ganze Dilemma dieser einzigartigen Zeit erahnen. Wohin bloß mit all dem, was 47 Jahre in das deutsche Bruderland gebracht worden ist?

Diese Originalaufnahmen zeigen, wie Flugzeuge über das Großenhainer Land fliegen. Einmalig: Selbst der Zugverkehr musste sich mit einer sogenannten "Beeinflussungsanlage" danach richten.
Diese Originalaufnahmen zeigen, wie Flugzeuge über das Großenhainer Land fliegen. Einmalig: Selbst der Zugverkehr musste sich mit einer sogenannten "Beeinflussungsanlage" danach richten. © Foto/Screenshot: Norbert Millauer

Dass ausgerechnet Großenhain wie sonst keiner der insgesamt 27 russischen Flugplätze zur Lösung dieser berechtigten Frage beitragen kann, weiß der nun eingeblendete Mann nur allzu gut. Marcel Reichel, Militärhistoriker und passionierter Hobbyforscher. Der 42-jährige Großenhainer hatte sich 1998 den Traum erfüllt und die 2004 unter Denkmalschutz gestellte Bunkeranlage vom Typ "Granit" gekauft. Er ist es, der Besucher durch das knarzende grüne Stahltor leitet und ihnen jenen Aha-Moment beschert. Dann nämlich, wenn sie tatsächlich drin stehen. Drin im vermeintlichen Sonderwaffenlager der Russen. 

In der Nase ein Gemisch aus Maschinenöl, die Augen nach vorn gerichtet ins 33 Meter lange halbrunde Gebilde und im Kopf ein Stummfilmmix aus Thriller und Geschichtsepos. Hier soll es also wirklich gewesen sein! Irgendwo haben sie gestanden. Sechs Holzkisten, in denen womöglich alles lagerte, was es brauchte, um eine funktionsfähige Atombombe zusammenzubauen. Oder doch nicht?

"Keiner wird Ihnen darauf jemals eine eindeutige Antwort geben! Auf jeden Fall wurde hier drinnen etwas aufbewahrt, das niemals nach draußen gelangen durfte! Mehr noch! Niemand sollte überhaupt auf die Idee kommen, dass hier etwas ist", erzählt Marcel Reichel. Nicht grundlos seien die Betonwände der von 1972 bis 1974 in aller Heimlichkeit errichteten Gebäude schließlich 70 Zentimeter dick. Ein Vorraum und zwei Türen sorgten nicht durch Zufall dafür, dass kein Licht nach draußen dringt. Aus dem Inneren des unsichtbaren Vollkreises, in welchem das Thermometer stets zwölf Grad anzeigt - egal, zu welcher Jahreszeit. Gleich wofür.

Im Allerheiligsten: Militärhistoriker Marcel Reichel in der ehemaligen russischen Bunkeranlage „Granit“ auf dem Flugplatz in Großenhain. Hier drehte 2018 das russische Fernsehen eine Dokumentation.
Im Allerheiligsten: Militärhistoriker Marcel Reichel in der ehemaligen russischen Bunkeranlage „Granit“ auf dem Flugplatz in Großenhain. Hier drehte 2018 das russische Fernsehen eine Dokumentation. © Norbert Millauer

Ein Thema, welches Regisseur Andrej Kondraschov indes mit keinem Wort erwähnt. Redakteure, Kameramänner und Toningenieure sind sich bereits zu den Dreharbeiten im Dezember 2018 einig darüber, dass über all das, was bis zum Oktober 1989 im streng abgeschirmten Areal passiert und stets vom Kreml in Moskau höchst selbst überwacht worden ist, auch weiterhin nichts ans Licht der Öffentlichkeit dringen soll. 

Stattdessen erzählt Marcel Reichel über die Strapazen des friedlichen Abzugs aus Deutschland. Denn abgesehen von den 338.800 Soldaten und ihren 207.400 Familienangehörigen, - in der Röderstadt sind es gut sechstausend - welche nun in alle Teile der einstigen Sowjetunion, jenes riesige Land, heimbefördert werden müssen. 

Weitaus komplizierter gestaltet sich da der Transport von über 4.000 Panzern, 106.000 Lkw, 700 Hubschraubern und Tausenden Waffen. "Man muss sich darüber hinaus vorstellen, das allein jeder der Flugplätze über ein eigenes Treibstofflager verfügte! Aber wie sollte man diesen Treibstoff zurückführen, wollte man nicht mit zig Tankwagen auf der Straße unterwegs sein oder Polen in seiner Eigenschaft als Transit-Land für jede Eisenbahnachse mit beträchtlichen Dollarforderungen entlohnen", gibt Marcel Reichel zu bedenken.

Treibstoff, der in Großenhain letztlich für das genutzt werden sollte, worüber sich Generäle und hochrangige Offiziere auch auf Seiten der Nationalen Volksarmee (NVA) im stillen Kämmerlein die Köpfe zerbrechen. Soldaten wie Wolfgang Wehner, der als  Geschwaderkommandeur 23 Jahre Überschallflugzeuge geflogen hat. Inzwischen 80-jährig, steht der Radebeuler den Russen ebenfalls Rede und Antwort. 

Auch er weiß: Aus der Not wurde kurzerhand eine Tugend gemacht. Der Treibstoff musste weg, also sei er dafür genutzt worden, um alles, was zu verladen ging, auszufliegen. Mehrmals am Tag starteten und landeten Anfang der 1990er Jahre die in Großenhain stationierten Transportflugzeuge. Nicht unbedingt leise. Aber ganz unbedingt heimlich brachten sie all das weg, was künftig nicht mehr benötigt würde oder in irgend einer Weise überhaupt an den Aufenthalt der Russen im neuen Ostdeutschland erinnern sollte.

5. Oktober 2020, 21.30 Uhr. Spätestens als der farbenfrohe Abspann von Rossija 1 über den Bildschirm flimmert, dürfte dem aufmerksamen Zuschauer bewusstgeworden sein, dass dieses Ansinnen gescheitert ist. Auch nach 30 Jahren vermag die Geschichte jener Tage, wieder lebendig zu werden. Wacher denn je. Durch Erzählungen und Erinnerungen und ohnehin durch Menschen wie Marcel Reichel, der sie in Großenhain für die Nachwelt sorgsam aufbewahrt - in der ehemaligen Bunkeranlage der Russen. 

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