Großenhain. Mittwoch, um elf. Eigentlich würde Jan Dingfelder jetzt in seinem Laden stehen. Eigentlich würde er in Großenhains Kultgeschäft "Selectorz" Ware sortieren oder die angesagten Wintertrends in Sachen Mode und Accessoires in gewohnt freundlicher Art und Weise an die Kundschaft bringen. Ja, eigentlich würde der 44-Jährige das tun, was vor 20 Jahren mit vier T-Shirts und zwei Hosen begonnen hatte.
Stattdessen kuschelt Jan Dingfelder an diesem Vormittag mit seiner Tochter Anna, versucht sich gemeinsam mit der Dreijährigen am pädagogisch wertvollen Pinguinspiel und wird zuweilen dankbar sein für die Ablenkung, die das kleine Mädchen ihm schenkt. Während ihre Mama als Krankenschwester auf einer Corona-Station ihrem Dienst nachgehe und damit auch maßgeblich für das wirtschaftliche Einkommen sorge, kümmere er sich jetzt vorrangig um die Familie. "Es ist natürlich eine sehr belastende Situation zurzeit, und ich mache mir inzwischen große Sorgen, wie es in den kommenden Wochen weitergehen wird", bekennt Jan Dingfelder.
Umso mehr, nachdem nun auch Stimmen laut werden, die andeuten, es könne unter Umständen nun doch noch länger dauern. Erheblich länger. Die Worte des sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer, welcher am Dienstag auf Twitter infrage stellte, ob und welche Lockerungen es im Februar oder März geben könne, bereiten ihm Kopfzerbrechen. Angesichts dessen, dass Mieten, Nebenkosten und Kredite den Begriff Corona nicht kennen würden und weiter bedient werden müssten, stünde vielen Händlern bereits jetzt das Wasser bis zum Hals. Ganz zu schweigen von all der nicht verkauften Ware in den Lagern, deren Erlös eigentlich die finanzielle Grundlage für die neue Kollektion sein sollten. "Ich selbst kann mir die Miete für den Laden im Januar und Februar noch leisten. Darüber hinaus werde ich mit dem Hauseigentümer sprechen müssen, ob er die anfallenden Beträge stunden kann", verrät Jan Dingfelder.

Zukunftsängste, die den Großenhainer jetzt bewegten, das zu tun, wofür der sächsische Handelsverband geworben hat. Die Interessenvertretung fordert aus aktuellem Anlass eine verlässliche Perspektive für eine schnellstmögliche Wiedereröffnung der Geschäfte und endlich wirksame Wirtschaftshilfen. Andernfalls, so Verbandsgeschäftsführer David Tobias, drohten zahlreiche Gewerbeabmeldungen oder
Insolvenzanmeldungen sowie damit verbunden das endgültige Aus für viele Geschäfte
im Freistaat.
Im sächsischen Einzelhandel erarbeiten immerhin etwa 130.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte einen Umsatz von knapp 24 Milliarden Euro. Die volkswirtschaftliche Bedeutung ginge unterdessen über ihre Rolle als zweitgrößter Arbeitgeber und wichtigste Innenstadtbranche hinaus. Wie der Verband betont, sehe sich jeder zweite Händler in Sachsen wegen der Corona-Krise in existenzieller Not. In Frage stünden auch jahrzehntelange Traditionsunternehmen, die Herz und Heimat für Menschen und Städte sind. "Stirbt der Handel, stirbt nicht nur das Gesicht unserer Städte, sondern auch mit dem Handel verbundene Unternehmen", heißt es. Die Politik müsse jetzt unbedingt handeln, damit nicht alle Lichter ausgingen.
Um den Forderungen Nachdruck zu verleihen, sollten die Betroffenen an der Aktion "Der Handel gibt den Schlüssel ab" teilnehmen. Jan Dingfelder musste sich nicht erst lange bitten lassen und vereinbarte das väterliche Wirken im Homeoffice mit seinen unternehmerischen Interessen. Gemeinsam mit Anna und dem 13 Jahre alten Sohn Tim bastelte er einen großen Ladenschlüssel und schickte ihn samt öffentlichen Brief an Wirtschaftsminister Martin Dulig gen Landeshauptstadt.

In dem beigefügten Schreiben schildert der Großenhainer die prekäre Lage, welche natürlich auch gravierende Auswirkungen auf seine Angestellten habe. "Soweit ich weiß, haben alle meine Händlerkollegen entsprechende Hygienekonzepte für ihre Geschäfte entwickelt und in den letzten Monaten vorm zweiten Lockdown erfolgreich umgesetzt. Ich möchte Sie daher bitten, zu prüfen, ob eine so große Ansteckungsgefahr, welche die derzeitig gravierenden Maßnahmen rechtfertigt, in solch kleinen überschaubaren Geschäften wie dem meinen unter Einhaltung aller Hygieneauflagen überhaupt gegeben ist. Und somit eine Öffnung dieser Läden nicht erst ab einem Inzidenzwert von 50 - sprich März oder April - zu ermöglichen", ist im Brief zu lesen.
Ob Jan Dingfelder eine Antwort aus Dresden erhalten wird, bleibt abzuwarten. Wie auch immer, das Gedankenkarussell in seinem Kopf wird sich ohnehin weiter drehen. An jedem einzelnen Tag dieses Lockdowns, an welchem er sonst eigentlich im Laden stehen würde. In seinem eigenen Laden, für den er die letzten 20 Jahre hart gearbeitet hat.