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Die 496 Tage eines Holländers in Heidenau

Jan Deremaux war 1944/45 Kriegsgefangener. Einer wie viele. Doch nur er hat ein umfangreiches Tagebuch hinterlassen, das nun auf Deutsch vorliegt.

Von Heike Sabel
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Charles und Jerome Deremaux, Sohn und Enkel des Holländers Jan Deremaux, der über seine Heidenauer Zeit als Kriegsgefangener Tagebuch schrieb.
Charles und Jerome Deremaux, Sohn und Enkel des Holländers Jan Deremaux, der über seine Heidenauer Zeit als Kriegsgefangener Tagebuch schrieb. © Norbert Millauer

Große Geschichte findet manchmal ganz unspektakulär statt. Es können zum Beispiel 163 bedruckte Seiten in einem orangen Schnellhefter sein. Schon wie diese Seiten zustandekamen, ist eine Geschichte. Noch viel mehr das, was auf ihnen steht. Es ist das Tagebuch eines holländischen Kriegsgefangenen, der darin seine Zeit in Heidenau vom 21. Januar 1944 bis 31. Mai 1945 beschreibt. Der erste Eintrag stammt vom Tag seiner Ankunft in Heidenau.

21. Januar 1944: Die Nacht verbrachten wir in einem Güterwaggon auf einem Bahnhof in Dresden... Wenig später wurde unsere Gruppe von 15 Mann aufgerufen und wir sind gegen 13 Uhr mit dem Zug nach Heidenau gefahren. Das Lager dort war in der Nähe der Radrennbahn... Die Führung hier ist sehr streng und kurz nachdem wir das Tor durchquert hatten, mussten wir uns in einer Reihe zur Inspektion anstellen und uns wurde gesagt, was wir tun dürfen und was verboten ist... Alles, was uns interessiert, ist Essen. Wir sind alle so hungrig, denn das letzte Brot haben wir schon vorgestern gegessen. Während der Reise haben wir nichts zum Essen erhalten. Am Abend nehmen wir ein schönes Bad und gehen spät ins Bett, weil wir sehr viel organisieren mussten.

Diese 163 Seiten der Geschichte von Jan Deremaux haben ihre eigene Geschichte. 52 Jahre nachdem er Heidenau verlassen hatte, kam er 1997 noch einmal zurück. Damals brachte er die ersten abgetippten Seiten seines Tagebuches mit. Es war der erste und ist bis heute der einzige so umfassende Bericht über die Zeit 1944/45 in Heidenau. Noch unvollständig und nicht übersetzt, doch der damalige Stadtarchivar Dietmar Diener ahnte, das ist es ein besonderer Schatz. 24 Jahre sind vergangen, bis er nun vollständig vorliegt.

496 Tage auf 163 Seiten in einem orangen Schnellhefter: das Heidenauer Tagebuch von Jan Deremaux.
496 Tage auf 163 Seiten in einem orangen Schnellhefter: das Heidenauer Tagebuch von Jan Deremaux. © Heike Sabel

Der erste Geburtstag der Tochter

Als Jan Deremaux starb, riss der Kontakt ab. Doch sein Sohn Charles fühlte sich dem Erbe seines Vaters verpflichtet. Er, der in England lebt, übersetzte die Erinnerungen des Vaters zunächst vom Holländischen ins Englische. Das dauerte bis Ende 2018. Schrittweise folgte die nächste Übersetzung, die vom Englischen ins Deutsche. Sechs Frauen und Männer aus Heidenau, Jena und Moritzburg sowie Heidenauer Gymnasiasten beteiligten sich daran. Am 3. Januar 2021 schließlich hat Dietmar Diener, längst im Ruhestand, das Werk vollendet. Nun liegen die 496 Tage im Leben des Jan Deremaux in einem orangen Schnellhefter. Die Seiten vom Lesen vieler schon gezeichnet.

22. Mai 1944: Heute ist mein 350. Tag als Kriegsgefangener. Das Gleiche wieder bei Funke, jetzt von 7 bis 13 Uhr. Es regnet sehr stark, und obwohl wir uns beim Entladen der Waggons sehr beeilt haben, sind wir vollständig durchnässt. Zum Glück wurden wir von Herrn Fritzsche, von der Nudelfabrik, abgeholt. Fünf von uns haben Kisten mit Nudeln in Lange-Lastwagen geladen, die die Kisten in ein weites Gebiet verteilen werden.

27. Oktober 1944: Heute bin ich das Geburtstagskind. 32 Jahre alt und der zweite Geburtstag als Kriegsgefangener. Der Erste, der mir gratuliert, ist Joop de Lange, die anderen folgen schnell. Wird dies mein letzter Geburtstag in Deutschland? Mit sechs Männern zur Makkaronifabrik. Bei der Arbeit singen sie das Geburtstagslied "Long shall he live". Dann trinken wir ein Bier auf meine Gesundheit und die der anderen.... Am Abend spielen wir Karten. Wir genießen ein Bier, Kuchen und eine Zigarette, wir haben einen herrlichen Abend.

27. Dezember 1944: Meine Tochter Joke hat Geburtstag - ein Jahr alt und ich habe sie noch nicht gesehen. Happy Birthday.

Wiedersehen auf der Straße und Dresden-Bombardement

Die 163 Seiten zu lesen, ist nicht ganz einfach. Sie sind eng beschrieben, ohne Fotos, vieles wiederholt sich in den Tagesabläufen von Arbeit, Essen, Lager, Freizeit, mit detaillierten Angaben über Essensportionen, Arbeitszeiten und tägliche Gewohnheiten. Doch genau in dieser Genauigkeit liegt auch der Wert der Aufzeichnungen. Die Heidenauer Erlebnisse schlagen den Bogen zwischen der Geschichte von Jan und der Welt, die nicht voneinander zu trennen sind.

1. August 1944: Das Wetter ist prima, die Stimmung ist gut und einige Jungs machen Witze und sagen lustige Dinge. Ab und zu kommen ein paar Einheimische vorbei und wenn eine hübsche Frau vorbeiläuft, kann man "dezente" Bemerkungen einiger Jungs hören. Einmal läuft eine junge Frau vorbei und hält für einen Moment an. Eine Person bemerkt (auf Holländisch), dass er nichts dagegen hätte, mit ihr auszugehen. Dann antwortet sie in Holländisch: "So, würde dir das gefallen?" Wir wachen alle auf mit einem Knall, ein bisschen erschrocken. Es stellte sich heraus, dass die Frau mit einem Reichsdeutschen verheiratet ist, der an der Front ist. Sie lebt zusammen mit ihrer Schwiegermutter in Heidenau.

12. Oktober 1944: Mitten in der Nacht +-3 Uhr ertönt der Luftangriffsalarm. Alle sind sehr besorgt, denn alle Türen und Fenster sind verschlossen! Wir sind eingeschlossen! Glücklicherweise ist der Alarm kurz und wir schlafen schnell wieder ein...

13. Februar 1945: Wir hören eine riesige Menge von Flugzeugen über uns... Bei dem Bombardement begannen von dem Schock meine Knie zu schlottern. Es ist schrecklich...Ich liege total starr auf dem Bauch im Schützengraben und kann mich nicht bewegen, meine Pobacken sind zusammengepresst, meine Beine sind wie Stöcke und ich kann nichts mit ihnen anfangen. Ich sende alle möglichen Gebete nach oben!... Ich hoffe, dass ich das nicht noch einmal durchmachen muss...

Abschied von Heidenau

Am 13. Mai 1945 verlässt Jan Deremaux Heidenau. Er wird 18 Tage brauchen, bis er am 31. Mai zu Hause ankommt. Auch diese Tage hat er genau beschrieben, sagt sein Sohn Charles. Er hat diese Tage im aktuellen Bericht gekürzt. Aber er will es noch nachholen. Auch die Zeit von Den Haag nach Heidenau soll folgen. Das sind noch einmal 132 mit der Maschine geschriebene Seiten. "Diese Zeit zeigt ein bisschen die andere Seite der Medaille", sagt Charles. Die Arbeit geht weiter. Doch ihm war wichtig, die Heidenauer Episode zu Ende zu bringen. "Es war eine harte Arbeit, aber sie hat Spaß gemacht und war mir wichtig."

13. Mai 1945: 4 Uhr klingelt der Wecker... Voller Hoffnung machen wir uns auf den Weg zu den Amerikanern. Uns wurde gesagt, dass wir Dresden meiden sollen, die Russen würden uns aufhalten und unser Essen stehlen... Unser Ziel ist Chemnitz... Wir haben einen guten Plan für den Transport gemacht... Die Reise geht über Lockwitz, Kreischa, Oelsa, Höckendorf, das wir 22 Uhr erreichen... Entlang der Straßen kann man alles Kriegsgerät finden: Munition, kleine Bomben, Panzerfäuste, zerbrochene Panzer, Kanonen... Was mich besonders ärgert, sind die eilig errichteten Soldatengräber an beiden Seiten der Straßen. Ein Gewehr oder Bajonett steckt in einem kleinen Hügel, auf dem Stumpf ein Helm mit Einschusslöchern. Ich finde das sehr traurig. Viele Kriegsgefangene treffen wir mit Karren am Fahrrad hängend. Alles gestohlen...

Was geht es weiter mit dem Tagebuch?

Was wird nun mit dem Leben im orangen Schnellhefter? Es soll im Heidenauer Stadtarchiv lesbar sein. Als Dokument ist es dort gut aufgehoben. Doch hat es sich für ein Vergessen im Archiv gelohnt, gelebt und übersetzt zu werden? Ein Buch, wer bezahlt das? Eine Übertragung in ein Online-Format, wer macht das? Dietmar Diener sieht seine Aufgabe als erfüllt an. Er hat dafür gesorgt, dass das Tagebuch weiterlebt. Nun muss jemand anderes den Staffelstab der Erinnerung übernehmen. Vielleicht ist es für Firmen, in den die Kriegsgefangenen arbeiteten, ein Stück aufarbeiten der eigenen Geschichte, sich damit zu befassen.

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