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„Ich finde Corona bescheuert“

Es ist wahrlich nicht einfach Arbeit, Schule, Freizeit und Haushalt zu organisieren, wenn es zur Quarantäne kommt.

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Wenn auf einmal alles an einem Ort stattfindet: Wohnen, Essen, Arbeiten, Hausaufgaben. Es braucht Organisation, Nerven und vor allem gegenseitiges Verständnis.
Wenn auf einmal alles an einem Ort stattfindet: Wohnen, Essen, Arbeiten, Hausaufgaben. Es braucht Organisation, Nerven und vor allem gegenseitiges Verständnis. © Foto: privat

Von Angela Donath

Es ist der 5. November, ein Donnerstag, gegen 11.30 Uhr. Bei Familie S. klingelt das Telefon – die Schule ist dran. „Bitte holen Sie Ihr Kind ab. Eine Lehrerin wurde positiv getestet.“ Kurt (9) muss in „häusliche Absonderung“ so heißt der nun folgende Stubenarrest in Amtsdeutsch. Die Schule hatte Glück jemanden zu erreichen: Kurts Eltern arbeiten gerade im Homeoffice.

Der Papa hat gerade seine Quarantäne beendet, arbeitet wegen Corona-Vorsichtsmaßnahmen zu Hause. Die Mama arbeitet an drei Tagen der Woche sowieso zuhause, weitere zwei Tage in der Firma in der Oberlausitz, nahe der Grenze zu Tschechien. Natürlich gibt es auch Arbeitstage, da ist die Anwesenheit beider Eltern in der Firma unumgänglich. Urlaubstage gibts für dieses Jahr nicht mehr, der Lockdown vom Frühjahr hatte schon einige gefordert.

Viele Fragen, späte Antworten

Das alles geht der Mutter durch den Kopf, als sie in die Schule eilt. Die Kinder kommen heraus, die Hälfte aus Kurts Klasse ist betroffen. Zwei Jungs lächeln unsicher, ein Mädchen weint bitterlich. Kurt verdrückt sich tapfer ein Tränchen, er ist sehr gern in der Schule und war froh, als er im Frühsommer wieder gehen durfte. Und nun schon wieder zuhause? Wie lange? Zwei Wochen! Darf ich nie raus? Hab‘ ich schon jemanden angesteckt? Vielleicht den kleinen Bruder, der ist drei! Bin ich selber krank? Fragen über Fragen, nicht alle kann die Mama sofort beantworten. Sie selbst hat auch Fragen: Drei Leute tagsüber in der Wohnung. Noch kann der Kleinste in die Kita. Zwei Computerplätze gibt es – ab jetzt fast einer zu wenig. Wer hat die Zeit, die Schulaufgaben zu betreuen? Denn wenig werden es nicht sein. Die Omas, der Opa? Die fallen wegen der Absonderung aus. Mittagessen kochen – auch wieder täglich! Kollegen rufen dienstlich an. Kurt hat 100 Fragen. Doch bald kommt sicher der Bescheid vom Landratsamt, der bringt vielleicht ein paar Antworten! Zum Beispiel auch auf die Frage: Darf ein Elternteil zur Betreuung zuhause bleiben?

Der Bescheid kommt am Dienstag der Folgewoche. Adressiert ist er an die Eltern, die betroffene Person, von der ab Punkt 2 nur noch die Rede ist, ist das Kind Kurt. Die Person muss Kontakte meiden, sogar häusliche minimieren. Die Person muss zweimal täglich Fieber messen, und unter Punkt 5 heißt es: „Wird den Anordnungen nicht Folge geleistet, wird die Durchsetzung im Wege der Verwaltungsvollstreckung angedroht.“ Oder ein Gericht „kümmert“ sich um die zwangsweise Absonderung. Kinderfreundlich geschrieben ist das nicht, kann es auch nicht. Das Infektionsschutzgesetz berücksichtigt keine Kinder.

Der von den Eltern erwartete Hinweis auf mögliche Freistellung oder Ersatzvergütung wegen Kinderbetreuung befindet sich schließlich auf Seite 4, der letzten: Auf Antrag kann eine Entschädigung gezahlt werden, (sie beträgt 67 Prozent), zunächst muss sie vom Arbeitgeber gezahlt werden. Dazu war der Bescheid notwendig, der Antrag kann heruntergeladen werden. Später soll die zuständige Behörde, die Landesdirektion Chemnitz, dem Arbeitgeber die Summe erstatten. Auf eine Hotline wird hingewiesen. O-Ton von Kurts Mama: Diese Hotline blieb für mich kalt, da ging nie einer ran.

So weit, so schlecht. Die Familie arrangiert sich schließlich irgendwie. „Ruhe bitte!“ ist der häufige Ausruf dieser Tage. Kurt macht seine Aufgaben, er ist fleißig und lieb – und guckt sehnsüchtig in die Sonne. Am Sonntag darf er telefonieren, da kommen keine Firmenanrufe für die Eltern. Das Gespräch mit Kumpel Jonathan, ebenfalls in Absonderung, dauert über eine Stunde, aber es wird gelacht.

Abstand und Nähe aushalten

Ebenso geht es Paula, sie ist acht und geht in die 2. Klasse. Bei ihr änderte ein Anruf an einem Mittwochabend, kurz vor 20 Uhr den künftigen Tagesablauf – und ebenfalls den der ganzen Familie. Um Paula nicht zu beunruhigen, erfuhr sie erst am nächsten Morgen, dass ab jetzt „schulfrei“ ist. Paula freute sich nur kurz. „Gott sei Dank wohnen wir auf dem Dorf“, sagt die Mama. „Da ist draußen immer was zu tun.“ Am Wochenende ist das in Ordnung, da sind auch die Eltern draußen. Aber in der Woche? Papa ist auf Arbeit, Mama im Homeoffice. „Ruhe bitte!“ auch bei Paula zuhause.

Ein Schreiben des Landratsamtes hatten die Eltern am darauffolgenden Montag noch nicht. Sie sind jedoch auch nicht gespannt, denn sie wissen: Der Arbeitgeber der Mutter stellt diese nur frei, wenn sie nicht im Homeoffice arbeiten kann. Kann sie aber!

Homeoffice, so wird es derzeit oft suggeriert, ist etwas ganz Wunderbares. Alle sind zuhause und nehmen sich Zeit füreinander. Das mag vereinzelt so sein. Viel öfter aber ist die Realität eine andere: Alle sind zuhause – und keiner hat Zeit für den anderen.

Die Arbeit muss gemacht werden, die dienstliche und die häusliche. Die Aufgaben für die Schule müssen überprüft werden. Die Arbeit für morgen muss geplant und mit den Kollegen koordiniert werden. Die Kinder, die abgesondert sind, brauchen Zuspruch, Verständnis, Liebe, saubere Sachen und etwas zu essen auch. Manchmal reichen Oma und Opa Mittagessen oder eine kleine Überraschung zum Fenster herein, das ist schön. Doch das ist nicht dasselbe, wie mit Oma und Opa spielen. Hinein dürfen sie nicht, die Kinder dürfen nicht raus. So vergehen die Tage. Alle Beteiligten sind froh, wenn die Absonderung vorüber ist, aber niemand weiß, wen es als Nächsten erwischt.

Zur Klarstellung: Dieser Text soll kein Jammerbeitrag sein. Die beschriebenen Familien sind keine Maskengegner, sie haben Verständnis für viele Maßnahmen. Sie wissen um die schweren Erkrankungen und Verläufe, inzwischen auch bei uns in unmittelbarer Nähe – und dass es schlimmer kommen kann.

Die Eltern funktionieren – für die Firma und für ihre Kinder. Sie halten das Leben am Laufen – und sie sind erschöpft.

Kurt sagt: Ich finde Corona bescheuert. Er soll eigentlich nicht schimpfen, aber diesmal widerspricht niemand. Er fühlt sich oft allein – und die Eltern sind ziemlich alleingelassen. Obwohl es so viele sind, auch in Hoyerswerda.