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Die Kirchen in Deutschland schrumpfen

Der Exodus aus den beiden großen Kirchen hält an. 2019 traten noch mal deutlich mehr Menschen aus als vorher - auch ganz ohne aktuellen Skandal.

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Es gibt aktuell in Deutschland noch 22,6 Millionen Katholiken und 20,7 Millionen Protestanten.
Es gibt aktuell in Deutschland noch 22,6 Millionen Katholiken und 20,7 Millionen Protestanten. © Franziska Kraufmann/dpa

Von Christoph Driessen

Berlin/Gent/Dresden. Eine Gruppe von flämischen Erstklässlern steht vor der Haupttafel des Genter Altars von Jan van Eyck, einem der bedeutendsten Kunstwerke des Mittelalters. "Was ist darauf zu sehen?", fragt der Lehrer. "Ein Opferlämmchen!", ist die prompte Antwort. "Und wofür steht das Lämmchen?", fragt der Lehrer weiter. "Für unseren Herrn Jesus!" - "Und warum ist Jesus als Lamm dargestellt?" Ein besonders helles Stimmchen erwidert ohne Zögern: "Weil er für unsere Sünden gestorben ist!"

Diese zufällig beobachtete Szene vom Ende des vergangenen Jahres aus dem Museum für Schöne Künste in Gent beweist: Es existiert noch, das durch und durch christliche - in diesem Fall katholische - Milieu. Allerdings kaum mehr in Deutschland. Dort sind vergangenes Jahr mehr als eine halbe Million Menschen aus der Kirche ausgetreten. Bei den Katholiken waren es 272.771, 26 Prozent mehr als 2018. Bei den Protestanten kehrten mit rund 270.000 Austritten etwa 22 Prozent mehr Menschen der Kirche den Rücken als im Vorjahr

Vor allem evangelische Kirche verliert in Sachsen

Auch in Sachsen ist die Zahl der Mitglieder in den großen christlichen Kirchen erneut zurückgegangen. Ende 2019 lebten knapp 815.000 Christen im Land - etwa 14.000 weniger als im Jahr zuvor. Besonders hoch ist demnach die Zahl der Austritte aus der evangelischen Kirche (7.727). Dies entspricht einer Steigung von 19 Prozent zu 2018. Insgesamt hat die evangelische Kirche in Sachsen 663.000 Mitglieder. Aus der katholischen Kirche waren im vergangenen Jahr knapp 2.200 Menschen ausgetreten. Hier lag die Mitgliederzahl Ende 2019 bei gut 151.000.

"Der Mitgliederrückgang erfolgt ziemlich kontinuierlich und ist relativ unabhängig von aktuellen Ereignissen", analysiert der Religionssoziologe Detlef Pollack. "In den 50er Jahren war zum Beispiel noch über die Hälfte der Bürger der Bundesrepublik evangelisch." Nach den am Freitag veröffentlichten neuesten Zahlen sind es nun in Gesamtdeutschland nur noch 25 Prozent. Die Katholiken machen noch 27 Prozent der Bevölkerung aus.

Immer weniger Menschen kommen in ihrer Kindheit und Jugend überhaupt noch mit Religion in Kontakt. "Von den über 65-Jährigen im Westen Deutschlands sagen 70 Prozent von sich, dass sie religiös erzogen worden sind", erläutert Pollack. "Bei den 16- bis 25-Jährigen sind es weniger als 30 Prozent. Ein erdrutschartiger Zusammenbruch der religiösen Erziehung! Im Osten ist das noch viel dramatischer. Die Weitergabe des Glaubens von einer Generation zur nächsten ist nahezu kollabiert."

Auffällig ist daneben die Passivität der meisten Mitglieder. Bei den Katholiken etwa ging der Gottesdienstbesuch im vergangenen Jahr nach Angaben der Deutschen Bischofskonferenz auf neun Prozent zurück. Bei den Protestanten beteiligen sich laut Pollack 70 Prozent der Mitglieder in keiner Weise mehr am kirchlichen Leben.

Corona könnte Mitgliederschwund verschärfen

Weitgehend aufgelöst hat sich damit das traditionelle katholische oder evangelische Milieu, wie es zum Beispiel Harald Schmidt (62) noch erlebt hat: "Da wurde getauft, da wurde erstkommuniziert, da wurde gefirmt", erzählte der einstige Late-Night-Talker und praktizierende Katholik einmal im Kölner Domforum. Die Kirche sei damals aber auch die "Partyzentrale im Dorf" gewesen, alles spielte sich dort ab.

In Ostdeutschland könne man beobachten, wohin die Reise gehen könnte, sagt Pollack: Dort sind nur noch 30 Prozent der Bevölkerung Mitglied einer Kirche. Die bestärkende Kraft eines konfessionell geprägten Umfeldes habe sich dort weitgehend aufgelöst.

Der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm will sich mit einer solchen Perspektive allerdings nicht abfinden. Er wehrt sich auch dagegen, die heutigen Zahlen mit jener Zeit zu vergleichen, als man noch schief angeguckt wurde, wenn man sonntags nicht zur Kirche ging. "Ich trauere diesen Zeiten nicht nach", versichert er. "Heute schließen sich Menschen aus Freiheit Gemeinschaften oder Organisationen an." Für die Kirche bestehe die Herausforderung darin, deutlich zu machen, warum unter vielen Optionen gerade der christliche Glaube die richtige Basis für das eigene Leben sei.

Durch Corona könnte sich die Situation der Kirchen in diesem Jahr allerdings noch einmal verschärfen. Die evangelische Kirche erwartet aufgrund der Pandemie einen Rückgang der Kirchensteuereinnahmen in Höhe von zehn bis 25 Prozent. Die katholische Kirche befürchtet für das Corona-Jahr 2020 eine Rekordzahl von Austritten. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, sagte diesen Monat im "Kölner Stadt-Anzeiger", viele Menschen fragten sich, ob die Kirche es noch wert sei, dass sie ihr Monat für Monat Geld gäben. "Das wird sich durch den wirtschaftlichen Druck im Zuge der Corona-Krise mit Sicherheit noch verstärken, gerade in der mittleren Generation."

Bedford-Strohm will Corona allerdings auch als Chance begreifen: "Viele Menschen machen jetzt die Erfahrung, dass die plötzliche Unterbrechung des bisherigen Lebens und die Ungewissheit, wie es weitergehen wird, schwer auszuhalten ist. Der Glaube gibt Kraft dazu."(dpa)