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72-jährige Ladendiebin gibt der Dresdner Justiz seit DDR-Zeiten Rätsel auf

Manchmal übermannt sie ihre alte Schwäche – und dann packt sie ein, was sie tragen kann: Eine Dresdnerin steht seit Jahrzehnten immer wieder wegen Ladendiebstahls vor Gericht. Auch jetzt wieder - mit 72 Jahren.

Von Alexander Schneider
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Eine Dresdner Rentnerin hat immer wieder Lebensmittel in Supermärkten gestohlen. Es ging ihr nicht um den finanziellen Vorteil, sagt sie. Manchmal werde sie schwach.
Eine Dresdner Rentnerin hat immer wieder Lebensmittel in Supermärkten gestohlen. Es ging ihr nicht um den finanziellen Vorteil, sagt sie. Manchmal werde sie schwach. ©  Symbolfoto: Claudia Hübschmann

Dresden. Man könnte meinen, es geht um Beschaffungskriminalität. Sieben Anklagen sind im Prozess gegen eine Frau angekündigt, immer wegen Ladendiebstahls. Es gibt Drogenabhängige, die schaffen es in ihren Hauptverhandlungen auf ein gutes Dutzend und mehr einzelne Anklagen. Das ist nicht allein der Sammelwut der Strafverfolger geschuldet, sondern auch dem Versteckspiel der Junkies. Wenn man sie dann einmal am Wickel hat, drohen ihnen erdrückende Strafen. Das ist der Nachteil der Sammelei. Doch in diesem Fall ist das anders.

Die Angeklagte ist 72 Jahre alt und hat mit Crystal und anderen berauschenden Substanzen wohl noch nie etwas am Hut gehabt. Es ist eine Frau, die ihr Leben lang als Krankenschwester gearbeitet hat, vertrauenswürdig, professionell, hat Familie, ist sozial integriert, ganz ohne finanzielle Sorgen. Selbst im Ruhestand hat die Rentnerin noch als Krankenschwester gejobbt. Erst die Corona-Pandemie zwang sie zum Innehalten.

Hortensien, Gurken, ein T-Shirt

Die Dame hat jedoch ein anderes Problem, das sie zeitlebens nicht in den Griff bekam. Manchmal, wenn sie einkauft, bekäme sie einen Tunnelblick und stehe unter einer seltsamen Anspannung, sagt sie selbst. Und dann geht es wieder los. Sie stopft sich ihre Tasche mit Lebensmitteln voll oder stellt sich am Eingang einen Blumentopf auf die Seite. Sie zahlt nicht und macht sich mit der Beute aus dem Staub.

Seit 1992 hat sie es auf inzwischen 15 Vorstrafen und mehrere Wochen im Chemnitzer Frauenknast geschafft. Das ist zwar bemerkenswert, liegt verglichen mit gestandenen Karrieren von Drogensüchtigen aber eher im unteren Durchschnitt.

Sieben Anklagen sind es nun. Der Staatsanwalt hat "nur" vier dabei: Lebensmittel für 70 Euro beim Konsum und Hortensien für 26 Euro im Juli 2018, außerdem Pflanzenzubehör bei Dehner im April 2022 und wieder ein Konsum-Besuch für 99 Euro im März 2023. "Und?", fragt die Richterin. Der Staatsanwalt zuckt mit den Schultern. Dann verliest er vier weitere Anklagen, die ihm die Richterin gibt: ein T-Shirt und zwei Gurken auf einem Markt in Pirna im März 2019, Lebensmittel für 29 Euro bei Netto im September 2019 und nochmal Ware aus dem Biomarkt für 30 Euro im März 2022.

Am fehlenden Geld liegt es nicht

Die Angeklagte gibt alle Vorwürfe ohne Wenn und Aber zu. Es sei ihrer Mandantin nie um eine Bereicherung gegangen, sagt Verteidigerin Ines Kilian. Sie hätte immer genug Geld dabeigehabt, um die Sachen zu bezahlen. Seit 24 Jahren vertrete sie die Frau nun schon, aber was mit ihr los sei, habe nie geklärt werden können. 2019 habe das Gericht eine Therapie angeregt und die sei auch erfolgversprechend eingeschätzt worden, so Kilian. Es sei nicht mehr dazu gekommen, weil das Verfahren damals ausgesetzt worden sei. Ihre Mandantin wolle jetzt aber die damals vorgeschlagene Therapie angehen.

Der vom Gericht eingesetzte psychiatrische Gutachter toppt lässig Kilians langjähriges Engagement. Die Angeklagte habe die Medizin schon in den 80er-Jahren, in tiefsten DDR-Zeiten also, vor ein Rätsel gestellt. Und auch nach der Wende hat sich das nicht geändert. Es gebe bei der Patientin "ein Sammelsurium an Impulsen", so der Forensiker, aber kein klares Bild für ihre Stehlerei. Die Frau sei manchmal depressiv, auch vermindert steuerungsfähig. Sie wisse jedoch, dass es so nicht gehe. Der Psychiater hält die Frau, mit der sich schon viele Ärzte befasst hätten, für "austherapiert".

Das Gericht verurteilt die 72-Jährige nach der kurzen Beweisaufnahme zu einer Geldstrafe von 4.000 Euro für nur noch drei der insgesamt acht angeklagten Ladendiebstähle. Die Uralt-Fälle fielen im Hinblick auf die Verurteilung der übrigen Taten nicht ins Gewicht. Man könne nicht alles auf die Krankheit schieben, sagt die Richterin, die dem Plädoyer des Staatsanwalts folgt. Verteidigerin Kilian hatte eine geringere Geldstrafe beantragt. Die meisten Junkies kommen nicht so schnell davon.