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"Vernichten" im Staatsschauspiel Dresden: So verfallen westliche Kultur und Werte

Die Bühnenversion des Houellebecq-Romans „Vernichten“ dreht sich im Dresdner Schauspielhaus um Pflegenotstand, Flüchtlingselend, Gier und Hass.

Von Rainer Kasselt
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Optisch und
erzählerisch
herausfordernd ist Sebastian Hartmanns Dresdner Inszenierung der
„Vernichtung“ von Michel Huellebecq.
Optisch und erzählerisch herausfordernd ist Sebastian Hartmanns Dresdner Inszenierung der „Vernichtung“ von Michel Huellebecq. © Sebastian Hoppe

Dieses Bild wird man so schnell nicht vergessen. Ein nackter toter Mann liegt auf der Bahre. Menschen stehen schweigend um ihn herum. Eine Frau beugt sich über ihn. Saftige Orangen umranken die Szene. Die Frau, gespielt von Gast-Schauspielerin Linda Pöppel, bittet die Anwesenden, sie allein zu lassen. Unendlich behutsam streichelt sie die Haut des Toten, tastet zärtlich über seinen Körper, als salbe sie ihn.

Der Todesmoment wird zum Liebesakt. Das Bild erinnert an biblische Pieta-Gemälde, auch an die „Beweinung Christi“. Plötzlich erhebt sich der Tote, wird Zeuge seiner irdischen Auferstehung. Unsicher geht er ein paar Schritte, fällt nieder. Und schreit, und schreit, und schreit. Ein Mensch in seiner Qual, in seinem Schmerz. Eindringlich gespielt von Torsten Ranft.

Hartmanns Theater ist Zumutung und Zauber in einem

Diese Szene gibt es im Roman „Vernichten“ des französischen Autors Michel Hoeullebeqc nicht. Sie ist eine Erfindung des Regisseurs Sebastian Hartmann. Das überrascht nicht. Literarische Vorlagen sind ihm ohnehin Material für Eigenes. Die Dresdner Fassung von „Vernichten“ ist bei Licht betrachtet ein Gerücht vom Original. Hartmann bleibt seiner Art von Theater treu. Er setzt auf äußere Aktion, verrätselte Szenen, viel Bühnennebel, lange Monologe, Live-Kameras, riesige Videowände, Überblendungen.

Vor allem aber setzt er auf Emotionen, Stimmungen, Gefühle und Ausbrüche. Hartmanns Theater ist Zumutung und Zauber in einem. Er spaltet das Publikum. Die einen sind hingerissen von seinen fantasievollen Ideen, die anderen vermissen Klarheit und Inhalt. Ihm wird nachgesagt, dass er ganze Theater leer spielen kann. Leipzig weiß ein Lied davon zu singen.

Beschwörung des Verfalls westlicher Kultur und Werte

So weit kam es am Donnerstag zur Premiere im Dresdner Staatsschauspiel nicht. Dennoch verließen nach der ersten Pause einige Besucher das Haus, nach der zweiten Pause etliche mehr. Michel Houellebecq gehört zu den wichtigsten und umstrittensten Autoren der Gegenwart, wird weltweit gelesen. Sein bekanntester Roman „Unterwerfung“ (2015) stürmte die Bestsellerlisten, wurde verfilmt. Er beschwört den Verfall westlicher Kultur und Werte, die Sinnentleertheit des menschlichen Daseins, an deren Ende oft Verzweiflung und Suizid stehen.

Umso mehr verblüffte er Leser wie Kritiker in „Vernichten“ mit seinem Plädoyer für die Institution Ehe, für die Abkehr von Politik und Gesellschaft. Im Zentrum des Romans steht das Ehepaar Paul und Prudence Raison. Sie hatten zehn Jahre keinen Sex mehr und kamen sich durch die Krankheit von Pauls Vater wieder näher.

Zum Auftakt geht es mitten hinein in den deutschen Wald

Dieser Handlungsstrang findet sich in der Dresdner Version wieder. Andere Themen wie französische Präsidentschaftswahlen 2027, Schein-Hinrichtung, Elitehochschulen, Terroranschläge, Prostitution bleiben draußen. Regisseur Hartmann konzentriert sich in seinem schwarz-weißen Bühnenbild auf drei Elemente: Wald, Traum und Tod. Die erste Abteilung ist dem deutschen Wald gewidmet.

Romantische Klaviermusik erklingt, Pianistin Friederike Bernhardt stimmt minutenlang auf den vierstündigen Abend ein, unterstützt von Nebel- und Wolkenvideos, die an Bilder Caspar David Friedrich erinnern. Im Hintergrund wurzeln drei alte, kräftige Bäume. Sie werden von einem hohen betonartigen Quader bedroht, der ihnen das Licht nimmt. Mehrere Personen bewegen sich zeitlupenhaft über die Bühne, wie Schatten. Sie schreiten ins Irgendwo, dem eigenen Ende entgegen.

Pflegenotstand, Flüchtlingselend, Gier, Hass, Ausbeutung

In der zweiten Abteilung wird das neunköpfige, gut agierende Ensemble, in dem jeder mehrere Rollen verkörpert, von Träumen und Albträumen heimgesucht. Paul leidet an einem Kiefertumor. Die Ärzte raten zur OP. Paul lehnt ab. Seine Schwester bittet: „Ich möchte nicht, dass du stirbst.“ Er sagt: „Ich möchte nicht, dass man mir die Zunge herausschneidet.“ Ein Rieseninsekt, ein Skorpion, verbreitet Angst und Schrecken. Symbol für die schwere Krankheit wie für den Ballast, den jeder mit sich herumschleppt.

Unbilden der Gegenwart werden angeprangert. Pflegenotstand, Flüchtlingselend, Gier, Hass, Ausbeutung. Ein Ende ist nicht abzusehen. Für die meisten Menschen, so heißt es, ist die Durchquerung ihres Lebens „vom Anfang bis zum Ende eine einsame Angelegenheit“. Vor der dritten Abteilung werden 3D-Brillen verteilt. Farben verdrängen die Dunkelheit. Friede, Freude, Frohsinn sind angesagt.

Erlösung kommt von oben, der Sex macht Spaß

Friede, Freude, Frohsinn sind angesagt. Erlösung kommt von oben, der Sex macht Spaß, die Animationen von Tilo Baumgärtel malen einen Garten Eden. Die Videos lassen fast vergessen, dass wir alles durch die rosarote Brille sehen. Das letzte Wort, gesungen und gesprochen, hat die famose Nadja Stübiger.

Sie interpretiert einen hintersinnigen, witzigen Song über den Streit zwischen Kugel und Quadrat, wer wichtiger sei. Die Kugel meint selbstzufrieden, sie sei ohne Ecken und Kanten. Das Quadrat findet, nichts gehe über seine schöne Rechtwinkligkeit. Auf die Idee, sich zu respektieren, kommen sie nicht. Das kommt uns bekannt vor.

Wieder am 29. April sowie am 8. und 21. Mai. Kartentelefon 0351 4913 555