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Hinter all den Protesten steckt derselbe Geist

Von Pegida bis zu Corona-Protesten und „Spaziergängern“: Was sie in Sachsen verbindet. Ein Gastbeitrag von Piotr Kocyba.

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Eine Teilnehmerin einer Demonstration gegen Corona-Einschränkungen.
Eine Teilnehmerin einer Demonstration gegen Corona-Einschränkungen. © dpa/Daniel Bockwoldt

Von Piotr Kocyba*

Ende 2014 war die Überraschung groß, als sich mehr und mehr offenbarte, welche Mobilisierungswucht die selbst ernannten Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes (Pegida) in Sachsens Landeshauptstadt entwickeln würden. Das ist bald zehn Jahre her und deshalb vielleicht ein wenig in Vergessenheit geraten. Beeindruckend war damals, dass sich die Zahl der Teilnehmenden wöchentlich etwa verdoppelte und Anfang Januar 2015 weit über 10.000 erreichte. Erschreckend muteten hingegen die teilweise wüst vorgetragenen fremden- und politikfeindlichen Inhalte oder die offene Aggressivität an, mit der damals Protestierende Journalisten begegneten.

Beides zusammen führte zu einem immensen medialen, politischen und nicht zuletzt wissenschaftlichen Interesse und in der Folge zu einer beispiellosen öffentlichen Aufmerksamkeit, die den Erfolg Pegidas weiter befeuerte. Pegida wurde aber auch zu einer der am häufigsten befragten Protestbewegung Deutschlands. Insgesamt wurde den Protestierenden elf Mal von fünf verschiedenen Forschungsteams angeboten, an einer Befragung teilzunehmen. Dabei hat sich gezeigt, wie groß die Ablehnung gegenüber der Wissenschaft schon damals war. Bis zu zwei Drittel der angesprochenen „Spaziergänger“ wollten mit den Befragenden nicht kooperieren. Die Absagen waren dabei häufig aggressiv im Ton, es kam nicht selten zu physischen Übergriffen, und die so gewonnenen Daten waren alles andere als repräsentativ.

2022 in Bautzen: Eine Menschengruppe durchbricht eine Polizeiabsperrung und wird dabei von Einsatzkräften mit Pfefferspray besprüht.
2022 in Bautzen: Eine Menschengruppe durchbricht eine Polizeiabsperrung und wird dabei von Einsatzkräften mit Pfefferspray besprüht. © B&S/Bernd März

Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung wäre eine Befragung der aktuellen Proteste risikoreich und folglich wenig ratsam. Dies hat vor allem mit der Verantwortung für das Forschungsteam zu tun. Es kann aus bis zu 30 Personen bestehen, wobei jede und jeder der Befragenden Kontakt mit bis zu 100 Protestierenden hat. Es handelt sich also um eine äußerst interaktionsnahe Forschung während einer dynamischen und unvorhersehbaren Situation, die im Kontext der Corona-Proteste Gefahren mit sich bringt. Das betrifft nicht nur das Infektionsrisiko, sondern den nicht selten gewalttätigen Verlauf der Demonstrationen.

Ein böses Déjá vu

Wenn nun die Teilnehmenden solcher Veranstaltungen den Einwand formulieren, sie würden eine friedliche wie herzliche Atmosphäre untereinander erleben, empfehle ich, in der Rolle einer Journalistin, eines Journalisten oder Befragenden eine solche Veranstaltung aufzusuchen. Schnell würde klar werden, welcher Stimmung man ausgesetzt ist, wenn man als vermeintlicher Feind einen Corona-Protest betritt. Nicht ohne Grund kann in Sachsen (und darüber hinaus) kaum mehr ohne Personenschutz von den Protesten berichtet und können diese in der Konsequenz auch nicht wissenschaftlich befragt werden. Ohne entsprechendes Datenmaterial bleiben Diskussionen über die Zusammensetzung der gegenwärtigen Proteste spekulativ. Aber im Vergleich zu Pegida scheinen sie ein Déjá-vu-Erlebnis hervorzurufen.

Zunächst fällt auf, dass bei den Corona-Protesten wie auch schon im Falle Pegidas lange darüber debattiert wurde, ob es sich um Protest der äußersten Rechten oder um Bürger handelt, deren Proteste von einschlägigen Rechtsextremistinnen und Rechtsextremisten unterwandert würden. Ich könnte hier auf die Januar 2015 gesammelten Daten verweisen, die zwar zeigen, dass sich die überwiegende Mehrheit der Anhängerschaft Pegidas in der politischen Mitte, nicht selten sogar links davon verortet. So war man auch schnell empört ob der Bezichtigung, rechtsextrem zu sein oder sich mit Rechtsextremisten gemein zu machen.

Diese Selbstwahrnehmung bedarf aber einer Korrektur. Denn: Diese scheinbar politisch gemäßigte Personengruppe wollte zu 90 Prozent die Alternative für Deutschland wählen und lehnte zu beinahe 100 Prozent sichtbare Zeichen des Islam wie Minarette oder Lehrerinnen mit Kopftuch ab. Zusammenfassend zeigen die Daten, dass Pegida-Anhänger um ein Vielfaches rechtsextremer eingestellt waren als der bundesdeutsche Durchschnitt. Das zeigt, dass man nicht offen rechtsextrem sein muss, um menschenverachtendes und demokratiegefährdendes Gedankengut verinnerlicht zu haben. Offensichtlich gab es schon 2015 Milieus in der bürgerlichen Mitte Sachsens, die mit dem politischen System in Deutschland abgeschlossen haben und selbstbewusst genug waren, öffentlich dafür einzustehen. Mit den Corona-Protesten ist dies vollends sichtbar geworden, auch wenn die radikale Empathieverweigerung nun nicht mehr allein den Geflüchteten gilt, sondern der großen Gruppe all jener Bürger, die von einer Infektion akut gefährdet sind.

Wie der "besorgte Bürger" geboren wurde

Das macht die Corona-Proteste für Individuen (besonders aus Risikogruppen) wie auch für unser Gemeinwesen so gefährlich. Und dennoch: Wie bei Pegida wollten es viele Beobachterinnen und Politiker zunächst nicht wahrhaben, dass es sich hier um Personen handelt, die gar keine harten Rechtsextremisten sein müssen, um unsere Demokratie zu gefährden. Solche Personen aber sind in meinen Augen sogar gefährlicher als der extremistische Rand der Gesellschaft, weil sie eine größere Mobilisierungswucht entwickeln, demokratieverächtliches Gedankengut erfolgreicher normalisieren und von der Mehrheitsgesellschaft nicht ansatzweise vergleichbar ausgegrenzt werden wie offene Rechtsextremisten. Denn: Es fällt ungemein schwerer, eine klare Haltung gegenüber Menschen zu entwickeln, die nach dem äußeren Erscheinungsbild meist nicht wie Neonazis oder Hooligans wirken, sondern wie ganz „normale“ Bürgerinnen und Bürger aussehen. Und weil es ein großes Bedürfnis nach gesellschaftlicher Harmonie gibt, fällt es nicht leicht, sich von so vielen Menschen zu distanzieren. Zudem gibt es die Hoffnung, große Teile solcher Protestbewegungen könnten durch (verständigendes) Entgegenkommen wieder Teil des Demokratie-Spektrums werden.

Der Weg des Dialogs wäre auch richtig und wichtig. Problematisch wird es nur, wenn das demokratiefeindliche Gedankengut öffentlich nicht kritisch verhandelt, sondern ihm mit Verständnis begegnet oder es gar als berechtigte Sorge verharmlost wird. So geschah es nämlich vielfach bei Pegida. Insbesondere Dresdner Diskursgestalter entwickelten schnell eine Art Verteidigungsreflex. Die Mitläufer der Pegida-Proteste wurden vor Vorwürfen der Teilnahme an radikal rechtem Protest in Schutz genommen. Der Begriff der „besorgten Bürger“ wurde geboren – noch bevor erste Befragungsstudien einen Eindruck darüber verschaffen konnten, wer hier weshalb demonstriert.

Als dann die unter den Protestierenden gesammelten Daten beispielsweise den immensen antimuslimischen Rassismus offenlegten, sprach ein Dresdner Politikwissenschaftler von „kulturell begründeten Sorgen“. Entsprechend wurden in den von der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung organisierten öffentlichen Debatten die „Sorgen“ der Anhängerschaft Pegidas angehört und ein Gefühl der Solidarität mit den „zu Unrecht“ stigmatisierten Demonstrierenden zelebriert.

Wen die "Lügenpresse" an den Pranger stellt

Diese vermeintlichen Sorgen stellten aber häufig eine Mischung aus offen fremdenfeindlichen Parolen und der Ablehnung demokratischer Institutionen der Bundesrepublik Deutschland dar. Und sie wurden nicht als solche kontextualisiert, sondern wegen des Bemühens um Brückenschlag unkommentiert im Raum stehen gelassen. In der Konsequenz wurden die Anhänger Pegidas nicht in das demokratische Spektrum integriert, sondern in ihren Ansichten bestärkt. Immerhin haben angesehene sächsische Institutionen und Intellektuelle aufmerksam zugehört und damit etwa das Gefühl bestätigt, von der „Lügenpresse“ zu Unrecht an den Pranger gestellt zu werden.

Eine ähnliche Wirkung würden Anstrengungen zur Verständigung mit den heutigen Protestierenden entwickeln, wenn diesen keine ernsthafte wie sachliche Kritik folgen würde. Ein Blick zurück zu den Anfängen Pegidas lehrt, dass ein weiterer Wohlfühlmonolog mit den am lautesten Polternden fatal für die Qualität der Demokratie in Sachsen wäre. Das jetzige Déjà-vu-Erlebnis sollte uns ein Warnsignal sein, wenn wir uns der weiteren Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhalts und einer zunehmenden Radikalisierung gesellschaftlicher Konflikte wirksam entgegenstellen wollen.

  • *Unser Autor: Piotr Kocyba (*1980) ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur Kultur- und Länderstudien Ostmitteleuropas der Technischen Universität Chemnitz und Experte für Protestbewegungen.