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Darum ist das neue Stones-Album das Beste, was sie seit 40 Jahren vorgelegt haben

Nach Rentnerband klingen die 76 bis 80 Jahre alten Rolling Stones auf „Hackney Diamonds“ wahrlich nicht. Ganz im Gegenteil.

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Da waren’s nur noch drei: Die verbliebenen Rolling Stones Keith Richards, Mick Jagger und Ron Wood stellten in London ihr neues
Album „Hackney Diamonds“ vor.
Da waren’s nur noch drei: Die verbliebenen Rolling Stones Keith Richards, Mick Jagger und Ron Wood stellten in London ihr neues Album „Hackney Diamonds“ vor. © Universal/Mark Seliger

Von Philip Dethlefs

Auf ihrem neuen Album legen die drei verbliebenen Rolling Stones Mick Jagger (80), Keith Richards (79) und Ron Wood (76) eine Energie und Spielfreude an den Tag, die vielen halb so alten Musikern fehlt. „Lass die Alten weiter glauben, dass sie jung sind“, singt Jagger in einer Strophe der hervorragenden Blues-Ballade „Sweet Sound Of Heaven“. Es klingt wie das inoffizielle Motto dieser legendären Rockband.

Ganze 18 Jahre sind seit „A Bigger Bang“ vergangen, dem letzten Studioalbum mit neuen Songs. Seitdem tourten die Stones um den Globus, veröffentlichten das Covers-Album „Blue & Lonesome“ und ein paar Singles. „Wir haben viel aufgenommen, aber es fehlte der Druck“, sagt Jagger. „Es gab weder eine Deadline, noch hat der Produzent es vorangetrieben.“ Irgendwann verlor der Sänger, der sich trotz tiefer Falten eine jugendliche Aura bewahrt hat, die Geduld.

"Lasst uns so arbeiten, wie wir das früher getan haben"

„Ich hab zu Keith gesagt: Lass es uns anders machen, weil das nicht in die richtige Richtung zu laufen scheint“, erzählt Jagger, der seit den 1970er-Jahren hinter den Kulissen de facto der Boss ist. „Lasst uns eine Deadline festlegen. Lasst uns ins Studio gehen, das mit einem anderen Produzenten machen und dann so arbeiten, wie wir das früher getan haben, sodass wir es zu einem bestimmten Zeitpunkt fertig haben.“ Wenige Monate später war „Hackney Diamonds“ im Kasten und der Frontmann zufrieden. „Wir waren nur eine Woche zu spät dran, das war also nicht schlecht.“

Nach dem Tod von Schlagzeuger Charlie Watts ist „Hackney Diamonds“ das erste Album mit dessen Nachfolger Steve Jordan. Watts hatte ihn noch selbst empfohlen, als es ihm gesundheitlich schon nicht mehr so gut ging. Menschlich wiegt der Verlust von Watts schwer. Musikalisch ist der Wechsel am Schlagzeug aber zugleich eine Chance. Denn der 66-jährige Jordan, der für die TV-Studiobands von Saturday Night Live und Talkmaster David Letterman und in Keith Richards‘ anderer Band X-Pensive Winos trommelte, bringt frischen Schwung rein.

Fast 60 Jahre ist das her: die Ur-Stones Mick Jagger, Brian Jones und Charlie Watts anno 1967.
Fast 60 Jahre ist das her: die Ur-Stones Mick Jagger, Brian Jones und Charlie Watts anno 1967. © dpa

Der verstorbene Charlie Watts ist noch einmal zu hören

„Es ist ein ganz anderes Gefühl, mit einem anderen Schlagzeuger in der Band zu spielen. Er verändert die Dynamik maßgeblich“, bestätigt Jagger. „Er trommelt viel härter als Charlie, lauter, deutlich lauter.“ Das fiel schon bei der Tournee zum60. Bandjubiläum auf und bei der ersten Single „Angry“ mit ihrem kernigen Gitarrenriff. Auch bei den treibenden Rock’n’Roll-Nummern „Bite My Head Off“ (mit Paul McCartney am Bass) und „Whole Wide World“ spürt man es. So viel Dampf auf dem Kessel hatten die Rolling Stones zuletzt vor fast 40 Jahren auf „Dirty Work“.

Charlie Watts ist auf „Hackney Diamonds“ ebenfalls zu hören. Zwei Tracks wurden vor seinem Tod aufgenommen. Das mitreißende, tanzbare „Mess It Up“ besticht mit kräftigem Groove. Und „Live By The Sword“ reist in der Zeit zurück. Neben Watts spielt nämlich der ehemalige Stones-Bassist Billy Wyman mit, der bis 1993 zur Band gehörte. Obendrein klimpert Elton John am Klavier; ein kleiner Gefallen unter alten Musikerfreunden.

Vor sechs Jahren startete die Band in Hamburg ihre Europatour. Geht es nach ihnen , sind sie bald noch einmal unterwegs.
Vor sechs Jahren startete die Band in Hamburg ihre Europatour. Geht es nach ihnen , sind sie bald noch einmal unterwegs. © dpa

Mit Paul McCartney, Elton John, Stevie Wonder, Lady Gaga

Nicht der Einzige, denn bei „Sweet Sound Of Heaven“ sitzt Stevie Wonder an den Tasten. Die soulige Blues-Ballade ist ein Highlight des Albums. Doch wenn Lady Gaga zu singen beginnt, emanzipiert sich die neue, siebeneinhalb Minuten lange Single vom alten Stones-Klassiker aus dem Jahr 1969. Im Finale liefern sich der 80-jährige Jagger und die 37-jährige Lady Gaga ein unterhaltsames Stimmen-Duell.

Füllmaterial gibt es auf „Hackney Diamonds“ nicht. Die Stones haben laut Jagger viele Songs aufgenommen und dann aus der Masse die Klasse sondiert. Mit Erfolg. „Wenn du genug Zeug aufnimmst, wirst du auch genug mögen“, sagt der Sänger wie selbstverständlich. Das von Keith Richards gesungene „Tell Me Straight“ ist wohl der schwächste Song, und trotzdem ganz nett. Der coolste Gitarrist der Welt ist bekanntlich nicht mit einer großartigen Stimme gesegnet.

Ans Aufhören denken sie noch immer nicht

Mit dem letzten der zwölf neuen Songs schließt sich gewissermaßen der Kreis. Der „Rolling Stones Blues“ ist eine Coverversion von Muddy Waters’ „Rollin’ Stone“, jenem Lied, das der Band vor 61 Jahren ihren Namen gab. Jagger singt und bläst die Mundharmonika, Richards spielt Gitarre. Mehr nicht. Sollte dies das letzte Studioalbum der Stones sein, wäre es ein würdiges Finale: vielseitig, mitreißend, zeitlos und wahrscheinlich das beste Studioalbum der Rolling Stones seit 30 Jahren.

Allerdings hat das Trio nach eigener Aussage so viele Songs aufgenommen, dass ein weiteres Album keine Überraschung wäre. Ans Aufhören denken die Rolling Stones jedenfalls nicht, solange ihre Gesundheit mitspielt. Mick Jagger, der nach eigener Aussage jeden Tag im Fitnessstudio trainiert und regelmäßig tanzt, plant schon weiter. „Wir hoffen, auf Tournee zu gehen“, verrät der 80-Jährige. (dpa)

The Rolling Stones: Hackney Diamonds (Universal)