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Via Lewandowsky: "Für mich begann das Leben 1989"

Kunstszene Ost, Teil 10: Via Lewandowsky über das Aufwachsen im kirchlichen Umfeld, Performances in der DDR und die Ankunft im Westen kurz vorm Mauerfall.

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Via Lewandowsky lebt in Berlin. Er mag das Absurde und Paradoxe, legt künstlerisch absichtsvoll falsche Fährten, so dass seine Werke häufig kontrovers diskutiert werden.
Via Lewandowsky lebt in Berlin. Er mag das Absurde und Paradoxe, legt künstlerisch absichtsvoll falsche Fährten, so dass seine Werke häufig kontrovers diskutiert werden. © Thomas Kretschel

Sie wurden zwei Jahre nach dem Mauerbau in Dresden geboren. Wie präsent war die Mauer in Ihrer Kindheit?

Es gibt im Zuge des „Prager Frühlings“ ein zentrales Erlebnis: Wir kamen im August 1968 spätabends von einem Sonntagsausflug zurück. Wenige Hundert Meter vor unserem Haus mussten wir mit dem Auto halten, weil eine Militärkolonne vorbeifuhr. Im Scheinwerferlicht sah ich Mannschaftstransporter und Fahrzeuge mit Kriegsausrüstung vorbeirollen. Es war unheimlich.

Welches Bild der DDR haben Ihre Eltern Ihnen mitgegeben?

Meine Eltern haben immer versucht, uns zu erklären, was gerade passiert. Irgendwann begriff ich, dass es Verwandte und Freunde außerhalb des Landes gab. Zwischen der einen Realität, dem Umfeld in der Schule und mit den Freunden, und der anderen, der Familie zu Hause, entstand ein Zwiespalt. Als Kind habe ich schnell gelernt, damit umzugehen.

Inwiefern?

Bestimmte Dinge hat man am Telefon nicht gesagt und man hat auch nicht mit jedem über alles geredet. Oder erst einmal codiert geredet. Das war wie eine zweite Muttersprache. Ich bin in einem kirchlichen Umfeld aufgewachsen und gehörte dadurch per se zu den anderen. Es gab in der DDR Religionsfreiheit, verbunden mit einer gewissen Rücksichtnahme. Dass sich damals nur wenige offen zum Glauben bekannten, lag allerdings auch daran, dass man sie stets argwöhnisch beobachtete. Als jüngster von drei Söhnen hatte ich Glück. Die politische Situation entspannte sich und ich habe weniger Konflikte erlebt als meine älteren Brüder. In den Klassenbüchern stand hinter jedem Namen ein „I“ oder „A“ für „Arbeiterkind“ oder „Intelligenz“, aber es gab keinen offenen Hinweis auf die Zugehörigkeit zu einer Religion.

Waren Sie dennoch bei den Pionieren und in der FDJ?

Ja, meine Eltern sind irgendwann zweigleisig gefahren. In dem einen Jahr wurde man jugendgeweiht und in dem anderen konfirmiert. Für die Jugendweihe haben meine Eltern mich auffällig seltsam angezogen. Es gab immer kleine Nadelstiche und Provokationen durch dieses abweichende Verhalten. Mir hat das gefallen. Das Zweigleisige wurde für mich Normalität.

Waren Flucht oder Ausreise zu Hause ein Thema?

Mehr im Sinne von flapsigen Sprüchen, nach dem Motto: „Dann hau ich eben ab!“ oder „Dann stellen wir eben einen Ausreiseantrag!“ Das war für uns eine Art – wenn auch eher unrealistische – Exit-Option, die ich heute nicht mehr habe. Das hat vieles erleichtert, das Leben erträglicher gemacht. Man hörte immer wieder von Leuten, die es geschafft hatten. Schon als Kind träumte ich regelmäßig davon zu fliehen.

Wie kam die Kunst in Ihr Leben?

Zwei Künstler, Erna Lincke und Hans Christoph, wohnten neben uns. Lincke war während des Krieges im politischen Widerstand. In der DDR arbeitete sie im Künstlerverband, erhielt Aufträge und Auszeichnungen. Christoph ist unter die politischen Räder gekommen, weil seine Art von Engagement mit einer gewissen Freiheit der Kunst verbunden war, die man auf offizieller Seite nicht sehen wollte. Mir erschienen beide wie Exilkünstler im eigenen Land. Als Jugendlicher haben sie mir Aufgaben gegeben. Einmal sollte ich nur Nasen malen. Ich habe zig Blätter mit Nasen gemalt, eine schlimmer als die andere.

1982 haben Sie dann an der Hochschule für Bildende Künste Dresden Ihr Bühnenbild-Studium begonnen.

Hätte ich mich für Malerei oder Bildhauerei beworben, wäre ich krachend gescheitert. Schon politisch wäre ich nicht durchgekommen. Die familiären Rahmenbedingungen waren dafür viel zu diffizil.

Warum hatte Bühnenbild einen anderen Stellenwert?

Der Fokus der Schule lag auf Malerei und Bildhauerei. Da waren alle Kräfte konzentriert. Auch alle Abwehrkräfte. Bühnenbild wurde eher stiefmütterlich behandelt. Wir waren für die die Typen, die später eh bloß am Theater abhängen würden. Sie hatten uns schon aufgegeben, bevor wir überhaupt anfingen. Das war die Chance. Ein paar Studierende fanden sich, die sagten: „Kommt, wir machen hier mehr draus!“ Wir waren am Anfang acht Leute, von denen drei bis zum Diplom gekommen sind. Für uns war es ein großes Glück im Grundstudium Günther Hornig zu begegnen. Das hat die entscheidenden Weichen gestellt.

Via Lewandowsky bei der Performance "Spitze des Fleischbergs" 1986 in der HfBK Dresden
Via Lewandowsky bei der Performance "Spitze des Fleischbergs" 1986 in der HfBK Dresden © Andreas Rost, APA-Archiv Micha B

Im Osten ging es nie darum, mit Kunst Geld zu machen

Sie haben sich gleich zu Beginn des Studiums mit Else Gabriel und Micha Brendel zusammengetan und die Autoperforationsartisten gegründet.

Ja, wir saßen in dieser Euphorie zusammen, redeten und tranken. Die Schule begrüßte die neuen Klassen und man konnte sich mit eigenen Arbeiten vorstellen. Das war ein Ritual. Wir haben da eine erste Performance gemacht. Sie hieß das „Tapfere Schneiderlein“. Es passierten lauter merkwürdige Dinge und kleine Tricks. Wir hatten seltsame Verkleidungen an, das Publikum war verwirrt, auch im Sinne von Fremdschämen. Die konnten nicht einordnen, was da passiert. Leider wurde das nicht dokumentiert.

Warum? War Ihnen das nicht wichtig?

Wir dachten nicht daran, daraus einen Mehrgewinn zu erzielen. Künstlerisch war das im Osten ein Riesendefizit. Es ging nie darum, damit Geld zu machen.

Wie frei konnten Sie sich an der Schule entfalten?

Die Schule war erstaunlich liberal. Die jungen Hochschulprofessoren Johannes Heisig oder auch Hubertus Giebe ahnten damals schon, dass es so nicht weitergehen kann. Abgesehen vom Professor für Marxismus-Leninismus gab es an der Schule eine ungewöhnliche Freiheit. Die großen Faschingsfeiern zum Beispiel waren wie Ventile. Hier sind Dinge passiert, die waren für die sonst streng kontrollierte Situation im Osten unfassbar. Das waren quasi Sonder-Kunst-Zonen. Trotzdem wurden wir überwacht und haben vermutet, dass dieser und jener für die Stasi schrieb. Aber das hatte im Alltag keine Präsenz. Wir entwickelten natürlich auch Strategien zur Tarnung. Wenn wir unsere Performances zur Abnahme vorführen mussten, machten wir das ohne Sound, ohne Kostüme und Requisiten. Die Leute schauten also auf ein Pantomimespiel, das sie nicht verstanden. Das wurde durchgewunken. Als wir es dann richtig aufgeführt haben, fragten sich alle, wie das genehmigt werden konnte.

Via Lewandowsky in "panem et circensis", 1988 an der HfBK Dresden
Via Lewandowsky in "panem et circensis", 1988 an der HfBK Dresden © Ernst Goldberg, APA-Archiv Micha

Ist einer von Ihnen je gefragt worden, ob er für die Stasi arbeiten würde?

Ich nicht. Von den anderen weiß ich es nicht. Wir haben nie darüber geredet. Wahrscheinlich stand ich kurz vor einer solchen Befragung. Ich hatte mich nach dem Studium beim Fernsehen beworben. Aber das hieß, du musstest 100 Prozent auf Linie sein! Ich muss immer lachen, wenn ich Bücher von ehemaligen Funktionärskindern lese, die ein bisschen blauäugig darstellen, wie sich Ende der 80er-Jahre alles aufgelöst hätte. So ein Quatsch! Rundfunk und Fernsehen waren bis zur letzten Minute und auch noch über 1989 hinaus komplett abgeriegelt. In diese Berufe durften nur Gesinnungsgleiche. Es gab einen Mitarbeiter vom Fernsehen, der mich fast vier Stunden verhört hat. Der war wahrscheinlich von der Stasi. Ein scharfer Hund und ein dunkler Geselle.

Hat es geklappt mit dem TV-Job?

Nein, natürlich nicht!

Wie präsent waren westliches Kunstgeschehen und Kunstgeschichte?

Die wenigen Momente, in denen Bildwelten, Konzepte und Ideen über Kataloge oder Zeitschriften in diese Grauzone eingedrungen sind, hatten eine verheerende Wirkung. Selbst kleine Krümel der Gegenwartskunst im Westen konnten schon Denkrevolutionen auslösen. Die waren wie Drogen. Ich ging während des Studiums ins Kupferstich-Kabinett und habe mir die Kataloge aus dem sogenannten Giftschrank angeschaut. Dafür brauchte es ein offizielles Schreiben eines Professors. Gerade diese Enthaltsamkeit in Dresden, dieses zusätzliche Ausgehungertwerden, weil dort medial nichts hinkam, hat später für eine Explosion gesorgt.

Wann waren Sie zum ersten Mal im Westen?

Im April 1989. Im BASF-Feierabendhaus in Ludwigshafen wurde „Neue Kunst aus Dresden“ gezeigt. Ich habe für diese Ausstellung einen Pass bekommen und hatte damit auch die Möglichkeit, wegzugehen.

War es die Einlösung eines Versprechens?

Das war ein unfassbares Gefühl, aus der grauen Zone in eine Welt zu treten, die bunt war, lebendig, voller Gerüche und voller unbekannter Dinge. Alle dachten, ich komme nicht zurück. Aber ich bin zurück, auch wegen meiner Familie. Ich weiß noch, wie ich dann im Sommer 1989 in Leipzig am Tisch saß, auf das Ziegeldach gegenüber guckte und dachte: Was mache ich hier? Erst im September bin ich endgültig in West-Berlin geblieben.

Wie ist Ihnen die Flucht gelungen?

Es war sehr dramatisch. Ich habe meine Familie mit einem One-Way-Ticket nach Budapest geschickt, in dem guten Glauben, dass ein ungarischer Kommilitone ihnen helfen würde. Der stellte sich als zu ängstlich heraus. Sie mussten dann in ein Lager und kamen mit einem der ersten Busse in der BRD an. Ich bin parallel nach Berlin gefahren und über den Tränenpalast raus. Im Vergleich zu dem, was heute zum Beispiel in der Ukraine passiert, war das ein Spaziergang. Für uns war es eine bewusste Entscheidung. Als wir in West-Berlin waren, setzte bei mir ein Dauerglücksgefühl ein. Wir mussten noch für zehn Tage mit unserem Laufzettel ins Durchgangslager in Marienfelde, um alle Stationen und Behörden für die Einbürgerung zu absolvieren. Hier saßen auch Flüchtlinge aus anderen Ländern. Als Ostdeutsche waren wir privilegierte Flüchtlinge, wir fühlten uns eher wie zu Gast.

Fanden Sie in West-Berlin Unterstützung?

Es gab alles. Die politischen Ereignisse führten dazu, dass West-Berlin aus seinem Dornröschenschlaf erwachte. Das erzeugte eine ganz neue Konkurrenzsituation. Es gab Menschen, die mich damals behindert haben, um ihre eigenen Leute zu fördern.1990 gab es im Westen zunächst großes Interesse an den Autoperforationsartisten.

Via Lewandowsky: "Wir sind wie alle", 1990 im Parc de La Villette, Paris
Via Lewandowsky: "Wir sind wie alle", 1990 im Parc de La Villette, Paris © APA-Archiv Micha Brendel

Leichtigkeit gab es erstmals in Amerika

Sie waren in Paris, Köln, Düsseldorf, Stuttgart, 1991 in Nürnberg.

Wir wären sicher noch viel präsenter gewesen, hätten wir alle Veranstaltungen zugesagt, um da die exotischen Vögel zu spielen. Wir waren in einem Dilemma: Sagten wir ab, wurden wir nicht gesehen. Sagten wir zu, bekamen wir einen Stempel aufgedrückt. Wir waren wie Pioniere, die Speerspitzen, die da auch abgebrannt wurden. Wir hatten danach nur noch wenige Gelegenheiten zu zeigen, dass wir auch bei anderen Themen auf Augenhöhe waren.

1991 waren Sie mit einem Stipendium des Berliner Senats in New York. War das die ultimative Freiheit?

Ich hatte eine großartige Zeit! Die Frage, die ich mir damals oft stellte und die ich mir manchmal auch heute noch stelle, ist: Was passiert, wenn du nirgends eine Heimat hast? Ich habe meine Herkunft radikal abgelehnt, schon in der Zeit, als ich im Osten lebte. Das Wort „DDR“ kam nie aus meinem Mund. Langsam geht es. Damals habe ich immer nur von der „Zone“ geredet. Eine Leichtigkeit gab es zum ersten Mal in Amerika. Dort war man einfach nur der Deutsche. Das war eine Linderung meiner Schmerzen. Oder vielleicht eher meiner Phantomschmerzen.

Wie erklären Sie sich diese Phantomschmerzen?

Ich habe das Land, das ich nicht wollte, verlassen, kurz bevor es sich auflöste. Und das West-Berlin, auf das ich mich gefreut hatte, gab es plötzlich nicht mehr. Ich wollte ins Exil, und das wurde mir genommen. Plötzlich standen sie alle wieder vor der Tür. Alles war wieder wie immer und ich dachte: So habe ich mir das nicht vorgestellt.2009 haben Sie als Beitrag fürs Lichtfest in Leipzig aus einer Konfettikanone Visitenkarten mit Decknamen und Berufen von ehemaligen Stasi-Mitarbeitenden regnen lassen.

Via Lewandowsky im Sommer 1990 bei der Übertragung des Mosaiks der Siegessäule auf Stoff für seine Arbeit "Zur Lage des Hauptes" innerhalb des Projektes "Die Endlichkeit der Freiheit".
Via Lewandowsky im Sommer 1990 bei der Übertragung des Mosaiks der Siegessäule auf Stoff für seine Arbeit "Zur Lage des Hauptes" innerhalb des Projektes "Die Endlichkeit der Freiheit". © Michael Harms, Archiv Sarah Albe

Haben Sie Ihre Stasi-Unterlagen angefordert?

Ich habe nie in meine Akte reingeschaut, aber ich bekam immer wieder Ausschnitte aus meiner Akte zugeschickt, weil andere reingucken wollten. Das musste ich dann absegnen. Dann liest du Maßnahmenprotokolle: „Wenn der bei der nächsten Polizeikontrolle auffällt, sofort festnehmen!“ Ich hatte acht verschiedene IM um mich. Es gab auch Listen von Leuten, die im Falle einer Krisensituation ins Lager sollten. Ich stand auf einer dieser Listen. Aber was das jetzt bedeutet und wie wichtig das ist, das habe ich nie wissen wollen.

Warum nicht?

Ich habe 1989 gesagt: Das war’s! Tschüss! Ich will mit dem Mist nichts mehr zu tun haben! Für mich begann das Leben 1989. Alles vorher war auf eine Art nicht mehr wert, angefasst zu werden. Es gibt schöne Erinnerungen und tolle Momente – ich hatte wirklich ein gutes Leben, von dem allgemeinen Druck abgesehen, dem jeder ausgesetzt war. Aber ich habe heute das Recht zu sagen: Das bleibt geschlossen im Karton in irgendeinem Archiv.

Warum?

Ich habe dafür keine Zeit und ich bin nicht bereit, im Nachhinein anzuerkennen, was ich damals abgelehnt habe. Ich will mich mit dem Müll nicht auseinandersetzen. Ich tue lieber so, als wäre das nicht geschehen. Und jetzt, wo meine Eltern tot sind, erst recht. Das hat auch damit zu tun, dass ich lange gebraucht habe, um zu akzeptieren, dass es das Land nicht mehr gibt, in das ich wollte. Ich fand das furchtbar, dass Berlin plötzlich keine Mauer mehr hatte. Das hat mich fertiggemacht.

Wie nehmen Sie Berlin heute wahr?

Die Stadt bekam für mich allmählich eine gewisse Normalität. Ab den Nullerjahren dachte ich: Berlin ist schon ok. Das hat sich gut zusammengefunden. In den Außenbezirken, im Grunewald und in Marzahn knallen die Extreme noch aufeinander, aber im Zentrum ist es gut geworden. Was mir auch hilft, ist, dass Generationen nachwachsen. Sie haben einen anderen Blick, sie sind nicht mehr so voreingenommen, kennen vieles nur noch als nostalgische Geschichten.

Interview: Sarah Alberti

Berliner Siegessäule 1990 mit der Arbeit von Via Lewandowsky "Zur Lage des Hauptes".
Berliner Siegessäule 1990 mit der Arbeit von Via Lewandowsky "Zur Lage des Hauptes". © Michael Harms, Archiv Via Lewand

Biografisches: Via Lewandowsky wurde 1963 in Dresden geboren und studierte von 1982 bis 1987 Bühnenbild an Hochschule für Bildende Künste Dresden, wo er mit Else Gabriel und Micha Brendel die Performancegruppe der Autoperforationsartisten gründete. Er ist Maler und Zeichner, Bildhauer und Objektkünstler, Fotograf und Performer. Im September 1989 ging er mit einem Visum nach West-Berlin. Stipendien führten in unter anderem in die Villa Massimo nach Rom und die Villa Aurora nach Los Angeles. Gastprofessuren hatte er an der Universität der Künste in Berlin und der Akademie der Künste in München.