Kunstszene Ost, 14. Teil: "Die Euphorie von 1989 hielt nicht lange"
Im großen SZ-Interviewprojekt „Kunstszene Ost“: Die Kunstwissenschaftlerin Gabriele Muschter leitete in Dresden die Galerie Mitte.
Von
Sarah Alberti
12 Min.
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Frau Muschter, Sie haben ein Buch darüber herausgebracht, was Menschen in der Nacht vom 9. November 1989 getan haben. Wo waren Sie?
Ich habe in West-Berlin einen Vortrag über Fotografie gehalten. Als ich anfing, kam eine Frau und rief: „Die Mauer ist offen!“ Darauf hat keiner reagiert. Ich bin danach mit einigen essen gegangen. Plötzlich sagte einer: „Mensch, du musst doch schon längst drüben sein, es ist schon nach Mitternacht, ich bring dich an die Grenze!“ Da stand Walter Momper und hielt Reden. Das war ein großes Erlebnis für viele, auch für mich. In der Nacht waren erst mal alle voller Seligkeit. Das hatte nichts mit dem zu tun, was später kam.
Wie lange hielt die Euphorie an?
Nicht sehr lange. Viele hatten uns zum Beispiel gesagt, dass wir sie jederzeit besuchen kommen können. Als es dann so weit war, sah es schon anders aus. Es wurde schnell klar, dass man sich im Laufe der Jahrzehnte auseinandergelebt hat.
Sie sind in Berlin aufgewachsen. Erinnern Sie den Tag des Mauerbaus?
Ja! Wir wohnten damals nahe am Brandenburger Tor. Mit meiner Mutter bin ich jeden Sonnabend ins Kino nach West-Berlin gegangen. Am Sonnabend vor dem Mauerbau schauten wir einen Film mit Götz George. Meine Tante, die in West-Berlin wohnte, sagte: „Ich habe gehört, die wollen eine Mauer bauen. Um Gottes willen, bleibt hier!“ Aber meine Mutter antwortete: „Nee, nee, meine beiden Söhne sind drüben, ich gehe zurück!“
1970 wurden Sie Redakteurin der Mitteilungen des Verbandes bildender Künstler. Wie viel Freiheit hatten Sie?
Das war ein internes Blatt des Verbandes. Ich sollte vor allem über das Verbandsleben berichten. Wen ich im Atelier besuchte, durfte ich mir aussuchen. Der Chef war der Erste Sekretär des Verbandes. Der entschied darüber, was erschien. Einmal hatte ich Bernhard Heisig nach einer seiner West-Reisen interviewt. Er schimpfte, dass die Künstler keinen oder zu wenig Zugang zu internationaler Fachliteratur hätten und überhaupt mehr Zugang zu internationalen Kunstereignissen haben müssten. Das Interview durfte nicht in den Verbandsmitteilungen erscheinen. Ich habe es dann dem Sonntag angeboten, und die haben es gern gedruckt. Diese Eigenmächtigkeit wurde mir übel angerechnet. Da ich aber ohnehin zum Studium Kunstwissenschaft/Ästhetik an die Humboldt Universität wollte, kam mir das gelegen.
Spielte Kunst aus dem Westen im Studium eine Rolle?
Nein, die mussten wir uns selbst erschließen. Es gab auch mal was über Picasso, aber nicht in dem Maße, wie wir uns das wünschten und wie es angemessen gewesen wäre. Es ging viel um russische Kunst, aber weniger um Kunst der Gegenwart.
Sind Sie, weil Sie für den Verband arbeiteten, automatisch Mitglied geworden?
Nein, erst als ich meinen Abschluss als Kunsthistorikerin gemacht hatte. Wenn man nicht im Verband war, hatte man quasi keine Berechtigung künstlerisch zu arbeiten.
Wie viele Kunstwissenschaftler waren im Verband?
Circa 360, über die Bezirke verteilt.1988 haben Sie sich mit anderen Kunstwissenschaftlern zusammengetan und mehr Eigenverantwortlichkeit, keine Zensur und keine Kürzung von brisanten Stellen gefordert.
Wie oft sind Ihre Texte inhaltlich verändert worden?
Wenn man für die Zeitung geschrieben hat, kam das oft vor. Während meiner Zeit als Leiterin der Galerie Mitte in Dresden war es mit der Kontrolle durch die Funktionäre über die Jahre immer schlimmer geworden. Ich habe versucht, das irgendwie zu umgehen. Zuletzt hatten sie sich ausgedacht, dass die Reden vor der Eröffnung beim Rat des Stadtbezirks vorgelegt werden sollten. Da habe ich gesagt: „Das ist ein Redner, der redet frei, der hat kein Manuskript!“ Wenn es anders war, habe ich gesagt: „Der ist noch nicht fertig, der bringt den Text erst zur Eröffnung mit.“ Aber wenn es um den Druck von Texten ging, musste man doch irgendwann was vorlegen, und das war schwierig.
Wie viel Einfluss hatten Sie auf das Programm der Galerie Mitte?
Offiziell geplant waren acht Ausstellungen pro Jahr. Ich habe zehn, manchmal auch zwölf Ausstellungen vorbereitet, inklusive Ausweichausstellungen. Es kam ja vor, dass ein Künstler den geplanten Termin nicht einhalten konnte. Diese Ausweichausstellungen waren die, die ich eigentlich präsentieren wollte. Die wurden bei der Bewilligung des Programms nicht so genau angeschaut. Dadurch konnte ich zum Beispiel Angela Hampel und Peter Herrmann ausstellen.
Wurde mit der Zeit registriert, dass das Ihre Strategie war?
Na ja, sicher. Die waren zwar beschränkt, aber so beschränkt waren sie auch nicht.
Ist die Stasi aufmerksam geworden?
Das waren in Dresden meine ersten Gäste überhaupt. Vor der Tür stand ein Herr und fragte, ob er was kaufen dürfe. Ich sagte: „Wir verkaufen hier gar nichts.“ Das war ein Test. Eine Woche später klingelte das Telefon und jemand sagte „Ministerium des Innern“. Die haben sich ja nie mit „Staatssicherheit“ gemeldet. Dann stand der gleiche Mann vor der Tür, der in der Woche zuvor in seiner Mittagspause mal reingucken wollte.
Er meinte: „Vor Ihrer Galerie stehen West-Autos!“, und dass ich das melden müsste. Dann war erst einmal wieder Ruhe. 1981 habe ich von der Ständigen Vertretung der BRD in der DDR eine Einladung zur Ausstellungseröffnung von Joseph Beuys in Ost-Berlin bekommen. Ich bin natürlich hin, auch wenn ich wusste, dass ich das eigentlich nicht durfte.
Gab es Konsequenzen?
Ich bekam ein Disziplinarverfahren. Dann kam wieder dieser Herr von der Stasi zu mir in die Galerie und meinte, dass ich doch, wenn ich das nächste Mal zu einer solchen Veranstaltung gehen möchte, vorher fragen könne und dann wäre alles in Ordnung. Bei der nächsten Einladung hieß es, ich könne fahren, müsse aber einen Bericht schreiben und der ginge an den Stadtrat für Kultur.
Worüber sollten Sie berichten?
Über die Eröffnungsrede, den Inhalt der weiteren Reden und die Teilnehmer. Ich habe mich nach der Eröffnung hingesetzt und Folgendes aufgeschrieben: „1) Eröffnungsrede – Ich kam zu spät und konnte die Eröffnungsrede nicht hören. 2) Inhalt von Reden – Es fanden keine Reden statt, die Gespräche verliefen in kleinen Gruppen, 3) Teilnehmer – Der Kreis der Dresdner Teilnehmer setzte sich, wie auch der aus den anderen Bezirken, aus Kunst- und Kulturschaffenden zusammen.“ Das habe ich abgeschickt und nie wieder eine Frage gestellt bekommen.
Sie beschreiben Ihren Umgang damit sehr spielerisch und unerschrocken.
Ich hatte schon auch Angst. In dem Moment, wo ich diesen Zettel abgegeben habe, wussten die ja genau, was ich denke. Aber es war mir egal.
Sind Sie später in Ihren Stasi-Akten auf dieses Dokument gestoßen?
Ich denke, ja.
Wann haben Sie Ihre Akte eingesehen?
Ich glaube, schon 1991. Das, was drin stand und wer das war, das konnte ich mir vorher denken. Was mich interessiert hat, habe ich als Kopie mitgenommen. Es sind immerhin 1.500 Seiten, aber nur zur Dresdner Zeit. Aus Berlin ist alles weg.
Hatten Sie Ausreisepläne?
Als Lutz Dammbeck ging, dachte ich: Jetzt ist wirklich Schluss, jetzt muss ich auch ausreisen! Aber als Ungarn die Grenze aufgemacht hat, war mir klar, dass es nicht so weitergehen würde, wie es ist.
Waren Sie 1989 demonstrieren?
Nein, ich kann mich nicht so gut in Menschenmassen bewegen. Aber ich war am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz. Und ich war wütend, als Christa Wolf verkündete: „Stell dir vor, es ist Sozialismus, und keiner geht weg!“ Sie und die anderen Intellektuellen konnten jahrelang auch in westliche Länder reisen und verlangten nun von den Leuten, in der DDR zu bleiben.
1984 durften Sie eine Woche nach Wien reisen. Wie kam es dazu?
Wenn man im Verband Bildender Künstler neu in eine Sektionsleitung aufgenommen wurde, in meinem Fall 1979 in die Kunstwissenschaft, durfte man einmal ins Ausland reisen. Ich überlegte, nach West-Berlin zu fahren. Der von mir sehr geschätzte Erhard Frommhold vom Verlag der Kunst sagte: „Bist du verrückt? Du fährst für uns nach Wien und machst ein kleines Heft über Egon Schiele!“ Erst durfte ich nicht fahren, aber dann bekam ich die Genehmigung.
Haben Sie überlegt, zu bleiben?
Nein. Ich hätte meine Kinder auf gar keinen Fall alleine in der DDR gelassen. Aber ich hatte im Sommer 1989 überlegt, mit ihnen über Ungarn abzuhauen.
Von 1984 bis 1987 hatten Sie an der Humboldt-Universität eine Aspirantur zum Thema Fotografie. Gab es dazu in der DDR schon wissenschaftliche Forschung?
Nein, dazu gab es noch gar nichts. Ich wollte über Fotografie der 70er- und 80er-Jahre in der DDR schreiben. Man hatte zwei Jahre Zeit und bekam 60 oder 80 Prozent des vorherigen Gehalts. Das war nicht schlecht. So was gab es im Westen nicht.
Das Interesse an Fotografie begleitet Sie bis heute …
Ja, im September 2022 habe ich die „Lausitzer Fototage“ mitgemacht und im Haus am Kleistpark mache ich mit Uwe Warnke in diesem Jahr eine Ausstellung zu Fotografie der 70er- und 80er-Jahre. Wir zeigen Positionen aus beiden Teilen Deutschlands, ohne das explizit auszuweisen.
Neben der Aspirantur haben Sie seit 1987 freiberuflich gearbeitet. Wie hat das in der DDR funktioniert?
Damals war alles überschaubar und meist wurde man gefragt. Es gab nur wenige Leute, die für bestimmte Aufgaben überhaupt infrage kamen. Selbst wenn man nichts zu tun gehabt hätte, hatte man immer noch andere Möglichkeiten, sich irgendwie Geld zu besorgen. Es gab ja immer Arbeitskräftemangel. Und unter den Menschen, die sich kannten, gab es große Solidarität, sich gegenseitig Arbeit zu besorgen oder jemanden zum Schein anzustellen.
Haben Sie sich nach der Maueröffnung Sorgen darum gemacht, wie es beruflich für Sie weitergehen würde?
Eigentlich nicht, weil wir ja auch einiges zu bieten hatten. Ich war erst mal ganz aufgeregt und habe mich gefragt: Wie geht es jetzt weiter? Ich habe an meiner Doktorarbeit geschrieben, hatte aber schon das Gefühl, dass mich das jetzt nicht mehr so weiterbringen würde.
Im Mai 1990 wurden Sie Staatssekretärin im Ministerium für Kultur der DDR, in der ersten demokratisch gewählten und zugleich letzten DDR-Regierung. Wie kam es dazu?
Wir hatten einen kleinen Fernseher, den habe ich mir in die Küche geholt und beim Abwaschen angemacht. Eines Tages wurde die neue Regierung vorgestellt. Kulturminister wurde Herbert Schirmer. Den kannte ich vom Verlag der Kunst. Am nächsten Tag rief er mich an und fragte, ob ich Staatssekretärin werden möchte.
Wofür war das Ministerium zuständig?
In der DDR wurde in diesem Ministerium die Kultur des Landes gesteuert. Es hatte 800 Angestellte. Zuerst haben wir den Leiter der Abteilung Bildende Kunst entlassen. Ein fürchterlicher Kerl. Der gab uns den Schlüssel zu irgendeiner Kammer, sagte, da sei nichts weiter drin und ging. Das war wie bei Kafka. Der ganze Raum war voller Aktenordner: Der erste Ordner leer, der zweite leer, die ganze Kammer leer. Die hatten ja auch genug Zeit, alles verschwinden zu lassen.
Was waren Ihre Aufgaben?
Die Frage war, wie es mit der Kultur, mit den Theatern und Museen in der DDR und vor allem in Berlin weitergehen sollte. Die Stadt hatte plötzlich mehrere Opernhäuser, Theater und Orchester. Sollten sie abgewickelt werden? Wie könnte man das verhindern? Was wird aus der Defa? Wir hatten einen sehr guten Berater, Volker Hassemer von der CDU. Der war vorher Kultursenator in West-Berlin. Ohne den wären wir ganz und gar baden gegangen. Wir waren ja alle keine Politiker und hatten gar keine Ahnung. Aber wir haben die Zeit auch mit etwas Humor gefüllt. Wir hatten noch die Vordrucke der Urkunden, zum Beispiel für den Nationalpreis der DDR. Wir haben alle noch vergeben. Armin Müller-Stahl war gerade im Ausland, seine Frau hat die Urkunde bekommen und uns begeistert angerufen. Das schlug dann in eine gewisse Empörung um.
Wie lange meinten Sie, im Amt zu bleiben?
Wir haben schon gedacht, dass die Übergangsphase ein, zwei Jahre dauern wird und nicht nur ein halbes Jahr. Schlimm war das Ende: Am letzten Tag, am 2. Oktober 1990, hat Lothar de Maiziére alle Minister zusammengerufen und gesagt: „Ich habe Sie berufen und jetzt berufe ich Sie wieder ab!“ Jeder hat ein Glas Sekt bekommen und das war’s. Wir standen auf der Straße. Neben mir saß die Staatssekretärin von Angela Merkel. Die sagte: „Ich bin Lehrerin, wenn ich zurück an meine Schule muss, bringe ich mich um!“ Kein Schwein hat sich darum gekümmert, wie es mit uns weitergeht. Ich hatte nicht mit der großen Arroganz gerechnet, mit der man uns begegnet ist. Einige sind wieder in Amt und Würden gekommen, auch viele der wirklich schlimmen Leute, die mit der Stasi gearbeitet hatten.
Ihre Zeit als Staatssekretärin wird Ihnen nicht für die Rente anerkannt.
Das ist eine Unverschämtheit. Wenn man im Westen Staatssekretär war, bekommt man lebenslang 60 oder 80 Prozent der Bezüge. Wir haben 1990 noch für zwei Monate 60 oder 80 Prozent des Gehalts bekommen. Das war es dann. Wir haben mit Angela Merkel zusammen noch mal was versucht, und Lothar de Maiziére sollte unterschreiben. Das hat er aber nicht gemacht. Jetzt hat es sich biologisch erledigt, denn viele, die das betraf, sind nicht mehr da.
Gabriele Muschter wurde 1946 in Oranienbaum geboren.
Von 1970 bis 1974 gab sie die „Mitteilungen des Verbandes Bildender Künstler der DDR“ heraus. 1974 –1979 studierte sie Kunstwissenschaft/Ästhetik an der Humboldt-Universität zu Berlin und leitete danach die Galerie Mitte in Dresden. Von 1984 bis 1987 forschte sie zum Thema Fotografie der 70er- und 80er-Jahre in der DDR und war freiberuflich als Kunsthistorikerin tätig.
Von Mai bis Oktober 1990 war sie Staatssekretärin im Ministerium für Kultur der DDR und anschließend u.a. als Beraterin für Mittel- und Osteuropa für den Regierenden Bürger Berlins tätig.