SZ + Feuilleton
Merken

Offener Prozess

Die Galerie für zeitgenössische Kunst in Leipzig zeigt eine bewegende Ausstellung zur Aufarbeitung der Verbrechen des NSU.

Von Sarah Alberti
 4 Min.
Teilen
Folgen
Filmstill aus der Dokumentation "Trauerdemonstration. Kein 10. Opfer" von Sefa Defterli aus dem Jahr 2006, Schnitt 2021.
Filmstill aus der Dokumentation "Trauerdemonstration. Kein 10. Opfer" von Sefa Defterli aus dem Jahr 2006, Schnitt 2021. © GfZK

"Warum ist es so schwer, eine ordentliche Ermittlung durchzuführen? Ich lade Sie ein, sich mehr zu engagieren. Ich verlange, dass die Mörder gefasst werden.“ Es sind die Worte von Ismail Yozgat, gesprochen auf einer Trauerdemonstration in Kassel am 6. Mai 2006, die am Beginn der Ausstellung „Offener Prozess. NSU-Aufarbeitung in Sachsen“ in Leipzig stehen. Kurz zuvor waren sein Sohn Halit und Mehmet Kubaşık ermordet wurden. „Kein 10. Opfer“ ist auf einem Transparent zu lesen. Statt von den Tätern erzählen 26 künstlerische, wissenschaftliche und aktivistische Beiträge in der Galerie für Zeitgenössische Kunst von Migration, Diskriminierung und dem Leben in Deutschland. Bewohner eines Hauses in München, viele von ihnen sogenannte Gastarbeiter, blicken 1976 im Treppenhaus in die Kamera von Želimir Žilnik und berichten von ihren Erfahrungen. Hito Steyerls Videoarbeit „Babenhausen 1997“ verdeutlicht am Beispiel der jüdischen Familie Merin antisemitische Hetze und Stimmungsmache – nach einem Brandanschlag blieb ihr leeres Haus als Mahnmal stehen.

Zuhören, Zeugin sein, verstehen wollen

Ayşe Güleç und Fritz Laszlo Weber haben die Ausstellung entwickelt, die bereits in Chemnitz, Berlin, Jena und Brüssel Station gemacht hat. Der Chemnitzer Trägerverein ASA-FF e. V. widmet sich in verschiedenen Bildungsformaten der Aufarbeitung des NSU-Komplexes. Zuhören, Zeugin sein, verstehen wollen. Das seien Voraussetzungen für eine produktive Auseinandersetzung mit der Frage, wie ein Gedenken aussehen kann. Allein der Besuch dieser Ausstellung ist eine Form des aktiven Erinnerns: Mit Kopfhörern kann man sich in die verschiedenen Videoarbeiten einstöpseln, auf Bänken sitzen, Musik von Gastarbeitern hören. Das leuchtende Rosa der Beschriftung steht im starken Kontrast zur Schwere des Themas.

Mareike Bernien und Alex Gerbaulet untersuchten Nürnberger NSU-Tatorte und ihre Umgebung. Die Kamera schwankt, der Himmel ist grau: „Dass hier ein Änderungsschneider ermordet wurde, wissen alle und haben es noch nie gehört.“ Das Forschungsinstitut Forensic Architecture überprüfte die Zeugenaussage des Verfassungsschützers Andreas Temme zum Mord an Halit Yozgat – die Familie fordert seit Jahren, Widersprüchen nachzugehen.

Einen dauerhaften Gedenkort schaffen

„Verstehe den Ort nicht falsch“: Eine Szene aus dem Kurzfilm „Babenhausen“ von Hito Steyerl, 1997
„Verstehe den Ort nicht falsch“: Eine Szene aus dem Kurzfilm „Babenhausen“ von Hito Steyerl, 1997 © GfZK

Ulf Aminde hat einen Gedenkort entworfen, dessen Modell nun in Leipzig steht: Eine Bodenplatte, die dem Grundriss des Friseurladens, dem Ort des Anschlags in Köln, nachempfunden ist, bildet die Grundlage für einen Gedenkort, der im Digitalen weitergeht. Auf dem Smartphone sind Filme über Rassismus zugänglich. Das Forschungsprojekt „Dokuzentrum“ nimmt in Kooperation mit der TU Dresden die Idee auf, einen dauerhaften Ort zu schaffen, der Stimmen und Geschichten weiterträgt.

So vieles an dieser Ausstellung ist überzeugend, etwa auch der freie Eintritt, ermöglicht vom Ministerium der Justiz und für Demokratie, Europa und Gleichstellung und die barrieresensible Vermittlung – für blinde Menschen stehen Audiodeskriptionen bereit und es gibt Rundgänge in Deutscher Gebärdensprache. Die Werke stehen in den Sprachen Türkisch, Arabisch, Englisch und in einfacher Sprache zur Verfügung. Die gesamte Ausstellung ist auch im Web zugänglich, Hashtags an den Werken verweisen auf ein digitales Archiv und für Schulklassen und Lehrkräfte gibt es ein kostenfreies Methodenhandbuch. An den Wänden lehnen Protestplakate. Sie sind Aufforderung, selbst aktiv zu werden und können ausgeliehen werden.

Korrekte Aussprache üben

Am Ende bringt uns Ülkü Süngün die korrekte Aussprache der Namen der Menschen bei, die zwischen 2000 und 2007 ermordet worden: Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter. Wenn Besuchende ihr im Chor nachsprechen, dann ist das eine Form der aktiven Erinnerung, die tief berührt und die möglicherweise dauerhaft im öffentlichen Raum präsent werden kann. Als im November 2011 in Zwickau eine Gedenkstätte eingeweiht wurde, bei der die Namen nicht ausgesprochen wurden und einige auf der Tafel falsch geschrieben waren, bildeten Aktivistinnen noch während der Veranstaltung einen Kreis und sprachen die Namen laut.

Die Leipziger Präsentation und ihr Vermittlungsprogramm sind Teil von YUNIK Konferenz für kulturelle Bildung, die Ende Mai in Leipzig stattfindet. Im Juli zieht der „Offene Prozess“ weiter nach Serbien. Ab 2025 soll er als Dauerausstellung in Chemnitz im Rahmen der Kulturhauptstadt gezeigt werden. Bis dahin macht er hoffentlich noch Station in Dresden.

Ausstellung „Offener Prozess. NSU-Aufarbeitung in Sachsen“ bis 22. Mai 2022 in der Galerie für zeitgenössische Kunst Leipzig, Karl-Tauchnitz-Str. 11, geöffnet Di – Fr 14 – 19 Uhr; Sa/So 12 – 18 Uhr

Thanh Nguyen Phuong (2017/2018) "Sorge 87" (Kurzfilm)
Thanh Nguyen Phuong (2017/2018) "Sorge 87" (Kurzfilm) © GfZK