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Jung, ostdeutsch, Arbeiterkind - und erfolgreich

Wer „von unten“ kommt, hat in Deutschland kaum Aufstiegs-Chancen, sagt die Sächsische Autorin Marlen Hobrack, denn Herkunft spaltet die Gesellschaft. Ein Interview.

Von Oliver Reinhard
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Marlen Hobrack in Dresden, wo sie studierte, Mutter wurde und den Hemmschuh ihrer Herkunft abstreifen konnte.
Marlen Hobrack in Dresden, wo sie studierte, Mutter wurde und den Hemmschuh ihrer Herkunft abstreifen konnte. © Amac Garbe, www.amacgarbe.de

Ein Arbeiterhaushalt, einfach und bildungsfern – so beschreibt die 1986 in Bautzen geborene Marlen Hobrack ihre Herkunft. Wie es ihrer Mutter zu DDR-Zeiten erging, wie sie selber als eine der wenigen ihrer gesellschaftlichen Klasse Abitur machen und studieren konnte und Journalistin wurde, beschreibt die Wahl-Leipzigerin im Buch „Klassenbeste“. Wir sprachen mit Marlen Hobrack darüber, wie Herkunft unsere Gesellschaft spaltet und wie sich dabei Ost- West-Unterschiede auswirken.

Frau Hobrack, wir reden viel über die Diskriminierung zum Beispiel von Menschen anderer Herkunft. Warum sprechen wir so wenig über die Diskriminierung von Arbeiterinnen und Arbeitern?

Weil in Deutschland die nivellierte Mittelschicht dominiert und unser Leben und unsere Art zu konsumieren davon abhängen, dass andere prekär beschäftigt sind. Menschen, die in Schlachtbetrieben arbeiten, am Fließband, als Erntehelfer, Servicekraft, Paketbote. Nur weil es sie gibt, können wir billiges Fleisch essen und billiges Gemüse kaufen und billig online bestellen. Wenn wir uns ernsthaft für die Arbeiterklasse interessieren würden, die hart arbeitet für wenig Lohn, müssten wir ja ein schlechtes Gewissen haben. Da ist das Ignorieren oder eben das Stigmatisieren als faul, einfach und bildungsfern schon bequemer.

Heißt es vielleicht deswegen immer noch ständig über Arbeitslose und Billig-Arbeiter: „Die müssen sich halt mehr anstrengen und weiterbilden, jeder ist seines Glückes Schmied“?

Ja, das ist diese bequeme Erzählung von der Gerechtigkeit und Möglichkeit zur Teilhabe. Dieses bequeme Versprechen, dass sich Leistungsbereitschaft lohnt und man sich nur Mühe geben muss. Dabei zeigen alle Studien: Es hängt in Deutschland massiv vom Einkommen und vom sozialen Status der Eltern ab, welche Bildungschancen und schulische Erfolge die Kinder haben. Arbeiterkinder mit Abitur sind die Ausnahme, die Klassen- und Schichtgrenzen sind extrem undurchlässig.

Weil Nachhilfe und sportliche und musische Förderung Geld kosten, das viele Eltern nicht haben?

Zum einen deshalb, zum anderen ist auch der Ehrgeiz von Mittelschicht-Eltern größer, dass ihre Töchter und Söhne unbedingt aufs Gymnasium gehen, wie sie selber. Viele Kinder müssen immer Höchstleistungen abliefern. Dabei ist es ein Irrglaube, dass jeder, der studiert hat, automatisch ein besseres Los hat. Das können wir am Beispiel der gut verdienenden Automobilarbeiter sehen und an den Gegenbeispielen der Massen an Akademikern, die in prekären Existenzen landen.

Sie und ihre Geschwister haben es trotz Arbeiterklassenherkunft geschafft, Sie sind aufgestiegen. Woran lag’s?

An drei Gründen. Meine beiden älteren Geschwister waren kurz nach der Wende mit der Realschule fertig und sind dann aufs Gymnasium gewechselt. Die alte Klassenschichtung der DDR wirkte noch in die Neunziger hinein, die neue hatte sich noch nicht etabliert. Es war eine Zeit der gesellschaftlichen Verwirbelung und der Umbrüche, in der die Grenzen durchlässiger waren. Viele sind sozial abgestiegen, andere konnten aufsteigen, gerade im Bereich der Bildungsmöglichkeiten. Obwohl ich zehn Jahre jünger war, konnte ich davon noch profitieren, bevor sich dieses Fenster wieder geschlossen hat. Ein zweiter Punkt: Unsere Mutter hat uns darin sehr unterstützt.

Dann entsprach sie nicht dem Klischee der Arbeiterin, die sagt: Meine Kinder brauchen keinen höheren Abschluss?

Ich glaube: Gerade weil sie selbst keine höhere Schule besuchen durfte und man immer auf sie herabgeblickt hat, war es für meine Mutter wichtig, dass wir Kinder eine bessere Bildung bekommen sollten. Dafür ist sie neben ihrem Beruf noch Putzen gegangen; mein Vater hat nach der Trennung keinen Unterhalt zahlen können, wir haben in ziemlicher Armut gelebt. Dass sie das auf sich genommen hat, war für uns Kinder das absolute Glück. Der dritte Faktor: Uns fiel das Lernen sehr leicht. Wir haben nie teure Nachhilfe gebraucht.

Haben Sie wegen Ihrer Herkunft an der Schule Stigmatisierungen erfahren?

Nicht vonseiten der Lehrerschaft, das ist ja nicht selbstverständlich. Aber in der Klasse ja, sogar heftig. Ich war halt eine typische unbeliebte Streberin und wollte keinen an mich heranlassen, weil ich mich wegen meinem Zuhause geschämt habe. Und als die finanzielle Situation nach der Scheidung meiner Eltern richtig schlimm wurde, musste ich die alten Klamotten von meiner Schwester oder der Tochter einer Nachbarin auftragen. Unsere Armut war mir anzusehen, das alles vermischte sich, ich war das perfekte Opfer für Mobbing und Bullying.

Und dann wurden Sie auch noch ganz klassenklischeehaft schwanger …

Genau, als es endlich besser lief und die Noten super waren, drohte schon wieder der Absturz. Aber meine Mutter hat mich wie selbstverständlich unterstützt, ohne große Worte zu machen. Sie hat den Kleinen betreut, als ich noch keinen Krippenplatz für ihn hatte – zusätzlich zu ihrer Arbeit!

Inwieweit prägen Sie diese Erfahrungen heute noch, fast 20 Jahre danach?

Ich bin sehr froh, dass ich zwei Welten kennengelernt habe. Eine war vor allem harte Arbeit, da blieb kein Platz für Freizeit, Kultur und Selbstentfaltung. Das war natürlich auch schade und traurig, aber heute erdet mich diese Erfahrung in meinem bequemen Mittelschichtleben am Schreibtisch sehr.

Fehlt ihnen diese Perspektive in den gesellschaftspolitischen Debatten?

Absolut, gerade in Diskussionen über soziale Gerechtigkeit merkt man es Menschen, die immer abgesichert waren, einfach an, dass sie gewisse Situationen nicht kennen und nicht beurteilen können. Sie haben keine Vorstellung davon, wie es ist, wenn dir der Strom abgeschaltet wird und du nicht weißt, wie du die Miete zahlen sollst, obwohl du doch einen Job hast und Geld verdienst. Geblieben ist mir auch eine große Traurigkeit darüber, dass ich schon als Kind gemerkt habe, wie hart meine Mutter arbeiten musste, ohne dass dabei irgendetwas übriggeblieben ist geschweige denn, dass wir mal Urlaub machen konnten. Das Risiko, dass Menschen in solchen Situationen resignieren und denken, die Gesellschaft, die Politik interessiert sich nicht für sie, das birgt schon auch große Gefahren.

Schreiben Sie deswegen in Ihrem Buch nicht streng soziologisch über die Arbeiterklasse, sondern auch biografisch über Ihre Mutter und sich selbst?

Es ist ja nur ein Buch von vielen, das diese Perspektive einnimmt. Aber ich finde, wir brauchen diese anderen Geschichten und diese Bilder, die uns zeigen, was es heißt, Arbeiterin und Arbeiter im 21. Jahrhundert zu sein. Und Zuhörerinnen und Zuhörer, ein breiteres gesellschaftliches Interesse und den Willen, zum Beispiel das Bildungssystem zu reformieren, damit es durchlässiger wird und mehr Chancengleichheit bietet. Und wir müssen aufhören, Geringverdiener in prekären Verhältnissen und Hartz4-Empfänger pauschal als alleinverantwortlich für ihre Situation hinzustellen und auch noch Keile zwischen sie zu treiben, nach dem Motto: Die Hartzer sind außerdem auch noch faul.

Sie nehmen ebenfalls eine Unterteilung vor: in die ostdeutsche Arbeiterklasse und die westdeutsche. Warum?

Weil die Prägungen der DDR schon noch einen Unterschied machen. Zum Beispiel dadurch, dass es anders als im Westen für Frauen im Osten überhaupt selbstverständlich war, dass auch sie arbeiten, auch hart und körperlich, was im Westen den Männern vorbehalten waren. Gleichzeitig wird oft vergessen: Im „Arbeiter- und Bauernstaat“ war der Arbeiter der dominierende gesellschaftliche Habitus. Unabhängig davon, dass es im Alltag oft ganz anders aussah und Arbeiter real nichts zu sagen und zu melden hatten: Diese symbolische Aufwertung führte zu einem anderen Selbstverständnis der Arbeiterklasse. Das war nie ein Stigma, darin lag nie eine Abwertung. Eine solche Aufwertung der Arbeiterinnen und Arbeiter wünsche ich mir heute auch. Allerdings darf die sich nicht in Lippenbekenntnissen oder Applaus erschöpfen. Sie muss sich niederschlagen in Lohnpolitik, in Rentenpolitik und Bildungspolitik.

Manche Menschen drehen den Spieß ja um und bezeichnen sich in trotzigem Herkunfts-Stolz selbst als „Arbeiterkind“. Was ist mit Ihnen?

Ich habe mit dem Begriff lange gefremdelt. Der war für mich wie eine fremde Jacke, von der man gar nicht weiß, ob sie überhaupt passt. Meine Mutter war in der DDR zwar Arbeiterin, wurde dann aber im Westen Sachbearbeiterin und später sogar verbeamtet. Deswegen habe ich das Wort Arbeiterkind nicht benutzt. Aber seit ich mich viel mit dem Thema beschäftige

…… passt die Jacke besser?

Naja, als Selbstbezeichnung benutze ich das Wort „Arbeiterkind“ immer noch nicht. Aber wenn ich jemandem schnell erklären wollen würde, wo ich herkomme, würde ich sagen: aus einem Haushalt einfacher Arbeiter, einfach und bildungsfern. Damit die Koordinaten geklärt wären.

Marlen Hobrack: Klassenbeste. Wie Herkunft unsere Gesellschaft spaltet. Hanser Berlin, 224 Seiten, 22 Euro