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Wie Mütter ihre Töchter für eine gleichberechtigte Zukunft stärken können

Mädchen in Freiheit wachsen zu lassen, bedeutet, selbst Freiheit als Mutter und Frau zu erlangen – sagt unsere Autorin.

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Gerade in der Corona-Pandemie wurden Frauen und Mütter schnell wieder in alte Rollenvorstellungen gedrängt.
Gerade in der Corona-Pandemie wurden Frauen und Mütter schnell wieder in alte Rollenvorstellungen gedrängt. © www.plainpicture.com

Von Susanne Mierau

Die wohl häufigste Frage, die mir während meiner ersten Schwangerschaft gestellt wurde, war die nach dem Geschlecht des Kindes. Der Grund, warum die Neugierde an den Intimorganen zwischen den Beinen eines Kindes so groß ist, ist durchaus interessant, denn kaum eine andere Zuordnung am Anfang des Lebens bestimmt so folgenreich, wie sich das Kind weiterentwickeln wird.

Egal, mit welcher Person unser Kind im Lauf der Jahre in Kontakt kommt, immer wird diese Geschlechtszuschreibung die Beziehungen zu anderen prägen: Familienmitglieder, Nachbarn, Erzieherinnen, Lehrer, Freundinnen und deren Eltern, selbst die Verkäuferinnen im Supermarkt, die meine Tochter im Kleinkindalter „na, Süße“ und meine Söhne später „kleiner Mann“ nannten, reagieren unterschiedlich, je nachdem, welchem Geschlecht sie ein Kind zuordnen, und bilden ein Klima, in dem das Kind sich als Mädchen oder Junge wahrnimmt und darüber hinaus weitere Bilder von sich ausbildet.

Aufgrund angeborener und erworbener Privilegien kann ich selbst auf einen von außen erfolgreichen Lebenslauf zurückblicken, während andere Frauen hier und weltweit verschiedensten Diskriminierungen gleichzeitig ausgesetzt sind. Je mehr ich mich damit beschäftigte und der Frage nachging, welche Ungleichheiten sich irgendwann auf meine Tochter auswirken könnten und welche es überhaupt gibt, wurde mir bewusst, wie sehr wir im Hier und Jetzt etwas verändern müssen.

Gerade in der Corona-Pandemie haben wir erlebt, wie schnell wir als Frauen und Mütter in alte Rollenvorstellungen zurückgedrängt werden: Dass wenn, dann eben doch eher die Frauen ihre Arbeitszeiten zugunsten der Familie reduzieren und mehr Sorgearbeit leisten. Gerade Familien mit geringerem Einkommen und Frauen, die im schlecht bezahlten Care-Arbeits-Sektor beschäftigt sind, sind dazu gezwungen, mit langfristigen Gefahren für die Erwerbsarbeitsverläufe und ihre Rente. Aber auch auf Mädchen hat sich die Krise ausgewirkt: Sie müssen eher im Haushalt mithelfen, was sich nachteilig auf andere Aktivitäten und auf die Schule auswirken kann. Auch in Deutschland sind, wie weltweit, überdurchschnittlich viele Frauen in der Pflege beschäftigt, da ihnen dieser Arbeitsbereich soziokulturell besonders zugewiesen wird. Weibliche Jugendliche beginnen darin ihre Ausbildung und tragen somit ein höheres Infektionsrisiko. Nicht zuletzt sind Kinder durch die Verlagerung von Freizeit und Schule in die eigenen vier Wände und an den Computer einem höheren Risiko für digitale Gewalt ausgesetzt, welche besonders Mädchen betrifft. Die letzte Krise war und ist auch eine geschlechtsspezifische Krise. Und dass es in Krisenzeiten zu einem solchen Rückschritt kommen kann, liegt besonders auch daran, wie weit (oder wie wenig) unsere Gesellschaft in den letzten Jahren Gleichberechtigung gestaltet hat.

Rollenklischees abbauen

Es gibt viele gute Gründe, Mädchen heute zu stärken, Stereotype und Rollenklischees abzubauen und die Welt, in der sie leben, zu verändern: Jede dritte Frau in Deutschland ist mindestens einmal in ihrem Leben von physischer und/oder sexueller Gewalt betroffen. Wir erleben Stigmatisierung und Benachteiligung, beispielsweise im beruflichen Bereich. Diese Erfahrungen können zu (unbewussten) Ängsten führen, die wir auf unsere Töchter übertragen. Wenn wir uns aber jetzt mit den Problemen unserer Gesellschaft und Erziehung auseinandersetzen, sie ansehen und jene Punkte entdecken, an denen wir selbst etwas ändern können, dann sind wir aktiv, nicht mehr machtlos, sondern handlungsfähig. Wir stellen uns dem Problem, statt uns ausgeliefert zu fühlen.

Natürlich müssen wir auch die patriarchale Prägung von Männern und Jungen sowie toxische Maskulinität, die sowohl für Frauen als auch Männer schädlich ist, in den Blick nehmen. Aber insgesamt sollten wir nicht „nur“ etwas an der Bildung und Wertevermittlung von Jungen ändern, sondern auch dahin sehen, wo uns als Frauen und Müttern Idealvorstellungen vermittelt wurden, die wir nun an unsere Töchter weitergeben. Das können beiläufige, kleine Bemerkungen sein wie ein „Ich geh mich erst mal schön machen für den Tag“ oder ein „Ach, ich Dummchen, ich hab …“. Diese Sätze habe ich in meinen 41 Lebensjahren wirklich noch niemals aus dem Mund eines Mannes gehört.

Als ich meine Tochter dann tatsächlich in den Armen hielt, merkte ich mit jedem weiteren Jahr, dass nicht nur die Welt um mich herum verändert werden muss, sondern dass auch die Welt in mir einer Reflexion und Überarbeitung bedarf, um mein Kind wirklich überzeugt und gestärkt stützen zu können. Ich merkte, wie ihr Wachsen mich mit immer neuen Fragen und verschiedensten, auch unangenehmen Gefühlen konfrontierte und ich nicht nur die Welt, sondern auch mich selbst infrage stellte: Warum tat/sagte/wollte ich dieses und jenes von meinem Kind? Welche Gedanken prägten meine reflexartigen Handlungen und Erklärungen? Warum wollte ich doch zu dem rosa „Hello Kitty“-Kleid greifen, das die anderen Mädchen im Kindergarten trugen?

Welche Eigenschaften sind angeboren?

Und ich merkte, wie ich viele Dinge falsch weitergab, weil ich sie einfach nicht besser wusste, da ich selbst anders aufgewachsen war. Die Nachricht beispielsweise, dass es das Jungfernhäutchen gar nicht gibt, sondern dass es ein patriarchales Märchen ist, das Mädchen vom vorehelichen Sex abhalten soll, traf mich als erwachsene Frau nach drei Geburten. Genauso wie das Nachdenken über die Herkunft der Worte „Schamlippe“ und „Scheide“.

Alles Liebe zum Muttertag!
Alles Liebe zum Muttertag! © Pixabay

Um die Welt zu verändern, müssen wir erst einmal viele gedankliche Altlasten loswerden, die ein kreatives, freies Denken behindern, und uns dem Neuen öffnen, um neue Denkstrukturen anzulegen. Zum Beispiel die Gedanken darüber, was für Persönlichkeitseigenschaften uns als Frauen angeblich angeboren sind. Welche Eigenschaften unserer Töchter sind angeboren, und wo genau fangen wir an, sie mit unserem Einfluss zu prägen? Gibt es nun „typisch Mädchen“ und „typisch Junge“, oder ist es nur unsere Gesellschaft, die festlegt, was „typisch“ ist?

Mädchen in Freiheit wachsen zu lassen bedeutet, zunächst selbst Freiheit als Mutter und Frau zu erlangen, um das Verständnis von Freiheit dann weitergeben zu können. Dazu müssen wir auf das blicken, was das Frau- und Muttersein in den vergangenen Jahrhunderten geprägt hat, was an Mutter-Tochter-Beziehungen so einzigartig sein soll und wo die vielen Probleme herkommen, mit denen Mütter und Töchter in ihrer Beziehung konfrontiert sind.

Mutter ist wichtigste Bezugsperson

Laut einer Studie aus dem Jahr 2006 geben 92 Prozent der 12- bis 13-jährigen Mädchen an, dass die Mutter ihre wichtigste Bezugsperson ist, und drei Viertel aller Mädchen schätzen diese Beziehung als sehr gut und vertrauensvoll ein. Das ist eine gute Basis, um ihnen Werte zu vermitteln, die sie durchs Leben tragen werden. Denn willentlich oder unwillentlich geben wir Werte und Haltungen weiter und erzeugen ein emotionales Klima, in dem unser Kind wächst. Als Mütter sind wir nie perfekt und müssen es auch nicht sein. Aber bei all den unterschiedlichen Wegen an Mutterschaft und Familienleben gibt es durchaus grundlegende Dinge, die uns im Muttersein vereinen können: Wir sollten unsere Kinder mit Selbstvertrauen und Sicherheit wachsen lassen, damit sie sich ihres eigenen Wertes bewusst sind, sich und ihre Bedürfnisse (be)achten und das Gefühl haben, die Welt gestalten zu können.

Leider haben viele Mütter als Töchter ganz andere Erfahrungen gemacht. Viele mussten sich ihren Weg schmerzhaft erkämpfen – oder sind noch immer in diesem Kampf gefangen, während sie eigentlich schon die nächste Tochtergeneration begleiten müssen, an die sie die eigenen Verletzungen nicht weitergeben wollen. Wenige Mütter wollen ihre Töchter aktiv schwächen oder offenen Auges in ein Problem hineinrennen lassen. Im Gegenteil: Wir wollen sie schützen, und dieses Schutzverhalten wird von unbewussten Bildern und Emotionen gesteuert. Wir sind nicht objektiv, unser Blick ist getrübt durch eigene Erfahrungen und eine Ordnung, die wir nicht infrage stellen. Dies verleitet zu einer Anpassung an die bisherigen „Spielregeln“, anstatt dagegen aufzubegehren und das eigene Kind darin zu unterstützen, andere Wege zu gehen, die Welt anders zu sehen und infrage zu stellen.Es mag an der einen oder anderen Stelle schmerzen, dahin zu schauen, wo wir bisher blind waren. Aber gerade jetzt und gerade heute ist es wichtig, dass wir uns dieser Herausforderung stellen und auf die Probleme blicken, die uns und unseren Töchtern aufgedrängt werden.

Unsere Autorin

Susanne Mierau ist Pädagogin und Autorin mehrerer Bestseller zu den Themen Bindung und moderne Elternschaft. Dieser Text ist ein gekürzter Auszug ihres neuesten Buches „New Moms for Rebel Girls“, das im Beltz Verlag erschien.

Susanne Mierau, Autorin und Pädagogin.
Susanne Mierau, Autorin und Pädagogin. © Ronja Jung