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War die DDR das "Reich des Bösen"? Ein Streitgespräch aus der Reihe "Debatte in Sachsen"

Stasi, Mangel, Unterdrückung - manche Geschichten über die DDR sind nur finster. Viele sagen: Unser Leben darin war bunter! Wer hat die Deutungshoheit über die DDR?

Von Oliver Reinhard
 15 Min.
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Stasi-Hauptmann Gerd Wiesler (Ulrich Mühe) bei seiner Arbeit in einer Szene aus "Das Leben der Anderen". Auch in anderen Filmen und Serien über die DDR geht es nicht ohne die Stasi. Ist das dominierende DDR-Bild zu einseitig?
Stasi-Hauptmann Gerd Wiesler (Ulrich Mühe) bei seiner Arbeit in einer Szene aus "Das Leben der Anderen". Auch in anderen Filmen und Serien über die DDR geht es nicht ohne die Stasi. Ist das dominierende DDR-Bild zu einseitig? © The Walt Disney Company

Bevor wir darüber diskutieren, ob wir ein neues DDR-Bild brauchen: Wer ist dafür überhaupt zuständig? Einfach gefragt: Wer malt das Bild der DDR?

Sabine Rennefanz: Es gibt das private Bild von Millionen Deutschen in Ost und West, die die DDR erlebt haben und rückblickend auf sie schauen. Dann gibt es das öffentliche Bild in den Medien sowie in der Geschichtsschreibung. Beide Bilder, öffentliche und private, sind in den vergangenen 30 Jahren gewissen Änderungen unterworfen gewesen.

Anne Rabe: Naja, „die Malerei“ und „das Bild“ der DDR gibt es ja sowieso nicht.

Sabine Rennefanz: Das Bild ist sehr vielfältig, und ich finde es gut, dass diese Diversität langsam abgebildet wird.

Das gängige Bild in den Medien könnte man vielleicht ganz grob umschreiben mit „Diktatur und Unterdrückungsstaat, in dem die meisten Menschen trotzdem einen ganz normalen Alltag hatten und ein ganz normales Leben führen konnten.“ Frau Rennefanz, Sie sagen jedoch, es dominiere das Narrativ der DDR als Reich der Finsternis.

Sabine Rennefanz: Ich meine damit zugespitzt in einer Kolumne den medialen Blick auf die DDR. Da dominiert die Darstellung von Repression und Unterdrückung in der DDR. Viele Leute finden sich in dieser Darstellung vom „Reich der Finsternis“ nicht wieder, weil sie andere Erfahrungen gemacht haben. Das prägende Bild wird meistens von Historikern oder Publizisten vertreten, die zu DDR-Seiten Oppositionelle waren oder selbst stark negative Erfahrungen gemacht haben. Wenn wir über das Geschichtsbild reden, müssen wir auch über kommunikative und diskursive Macht reden. Wer entscheidet denn darüber, welche Debatten geführt werden und wie sie geführt werden? Die ökonomische Macht liegt in den Händen westdeutscher Verlage, ihnen gehören auch die Regionalzeitungen. Die bedeutenden Redaktionen der Leitmedien sitzen nicht unbedingt in Dresden, sondern in München, Hamburg und Frankfurt am Main.

Nun arbeiten dort aber heute wesentlich mehr ostdeutsche Kolleginnnen und Kollegen als vor 20 Jahren ...

Sabine Rennefanz: Das stimmt, es sind neue Stimmen hinzugekommen, und auch wenn es manchmal sehr polemisch zugeht, muss man sagen: Wir haben uns bewegt seit den Neunzigern.

Anne Rabe: Ich muss da mal widersprechen: Ich teile das Narrativ vom Reich des Bösen in den Massenmedien überhaupt nicht. Natürlich gibt es TV-Serien wie „Weissensee“, wo es mal intensiver um die Stasi geht. Aber ansonsten wird die Stasi massenmedial doch eigentlich eher lächerlich gemacht. Wenn man zum Beispiel daran denkt, wie im Film „Sonnenallee“ der Abschnittsbevollmächtigte dargestellt wurde, und mit welchen Schauspielern in anderen Filmen wie „Das Leben der Anderen“ Stasi-Rollen besetzt wurden. Es wurde immer auch versucht, die Diktaturelemente ins Lächerliche zu ziehen.

Die DDR war ein Teil ihres Lebens: Teilnehmer stehen und sitzen während einer Versteigerung in den Ausstellungsräumen des bereits geschlossenen Dresdner Museums "Welt der DDR"· und bieten um "Erinnerungsstücke".
Die DDR war ein Teil ihres Lebens: Teilnehmer stehen und sitzen während einer Versteigerung in den Ausstellungsräumen des bereits geschlossenen Dresdner Museums "Welt der DDR"· und bieten um "Erinnerungsstücke". © Sebastian Kahnert/dpa

Dennoch kommt kein Film und keine Serie über die DDR ohne die Stasi aus. Ist das nicht ein bisschen fett? Ist das nicht immer noch total der Aufarbeitungs-Gestus der Neunziger?

Anne Rabe: Es stimmt, dass wir in den Neunzigern auf eine gewisse Art und Weise viel zu schwarz-weiß unterwegs waren. Das hat sich seither aber sehr geändert, und heute neigt man verstärkt dazu, den Alltag von der Diktatur zu entkoppeln. Als hätte es auf der einen Seite diese finstere Stasi gegeben, die mit dem Alltag aber nichts zu tun hatte, die auch kaum jemand kannte, die von allem ganz fern war. Dieses Bild stimmt natürlich nicht, denn diese Diktatur hat nur so lange existieren können, gerade weil der Alltag für viele Menschen so gut funktioniert hat, aber nur dann, wenn sie sich aus allem raushielten und nicht mit dem Regime aneckten. Wir müssten viel mehr fragen, wie die Diktatur in den Alltag integriert war. Was sind eigentlich Täter? Was sind Mitläufer?

Sabine Rennefanz: Genau diese Dreiteilung finde ich zu stereotyp: Täter, Mitläufer oder Opfer. So funktioniert das Leben doch nicht, selbst in einer Diktatur. Und wenn zum Beispiel Wolf Biermann behauptet, alle Ostdeutschen seien chronisch krank – dann ist das diffamierend und verletzend. Über keine Personengruppe darf man so abfällig urteilen wie über Ostdeutsche. Für die Behauptung, heute würden bei der Betrachtung der DDR Alltag und Diktatur getrennt behandelt, sehe ich keine Belege. Es wäre absurd, weil Anne Rabe völlig zu Recht sagt, dass beides ineinander verschränkt war.

Anne Rabe: Aber wenn man sagt, Alltag und Diktatur waren ineinander verschränkt, dann kommt man nun mal zu solchen Kategorien. Dann sind die Menschen, die in dieser Diktatur leben – Alltag hin oder her, ob Urlaub am Balaton oder Sportfest auf dem Schulhof, das sind alles Elemente der Diktatur -–, dann sind sie dort Täter, Opfer oder Mitläufer.

Sabine Rennefanz: Wir sind doch klug genug, dass wir zwei gegensätzliche Gedanken gleichzeitig aushalten können. Wir können die Kategorien Täter, Opfer oder Mitläufer aufstellen, aber dazwischen gibt es eben noch mehr. Zum Beispiel Leute, die sich angepasst haben, aber auch mit dem Regime nicht einverstanden waren. Man darf nicht vergessen, dass es in der DDR von Anfang an eine ganz große Sehnsucht nach Demokratie gegeben hat. Und die Mauer ist nicht gefallen, weil Helmut Kohl das so beschlossen hat, sondern weil sich die DDR-Bürger das erkämpft haben. Sie haben sich in verschiedenen Menschenrechtsgruppen engagiert, in Umwelt- und Friedensgruppen, aber auch, weil sie mit ihren Füßen abgestimmt haben und sich getraut haben, das Land zu verlassen.

Anne Rabe: Ein Teil der Leute. Eine Minderheit.

Sabine Rennefanz: Zehntausende sind allein im Sommer 1989 weggegangen. Und diese Minderheit hat so viele Menschen inspiriert, vor allen Dingen junge Leute. Ich finde, dass man nach 30 Jahren etwas genauer hinsehen muss und dass man mit diesen plakativen Kategorien Täter-Mitläufer-Opfer nicht weiterkommt.

Im Streitgespräch: Sabine Rennefanz wurde 1974 in Beeskow geboren und wuchs in Eisenhüttenstadt auf. Sie ist Journalistin und Buch-Autorin, u.a. von „Eisenkinder“.
Im Streitgespräch: Sabine Rennefanz wurde 1974 in Beeskow geboren und wuchs in Eisenhüttenstadt auf. Sie ist Journalistin und Buch-Autorin, u.a. von „Eisenkinder“. © Sven Gatter

Viele Ostdeutsche wünschen sich ein bunteres und weniger düsteres Bild der DDR. Jetzt aber schreiben Sie in Ihrem Buch „Eine Ahnung von Glück“, dass Gewalt den ganzen Alltag der DDR geprägt habe. Also wieder die dunklen Seiten, Frau Rabe?

Anne Rabe: Wenn Sabine Rennefanz sagt, dass man mehrere Kategorien nebeneinander stehenlassen kann, unterschreibe ich das natürlich.

Das Dunkle und das Helle?

Anne Rabe: Ja, aber die Gewaltgeschichte der DDR ist meiner Meinung nach noch lange nicht ausreichend durchleuchtet. Das zeigt auch in Tabus, die bis heute fortwirken. Es geht mir insbesondere um Kindesmisshandlung und sexualisierte Gewalt, also um Themen, die tatsächlich nachweislich tabuisiert sind im Osten. Und das hat ganz viel damit zu tun, wie man in der DDR damit umgegangen ist. Aber ich erhebe ja nicht den Anspruch, in meinem Buch ein vollständiges Bild der DDR oder der Nachwendezeit zu liefern. Es ist vielmehr die Erzählung über eine SED-Familie, die an diesen Staat geglaubt hat.

Mit autobiografischer Färbung. Also auto-fiktionales Erzählen?

Anne Rabe: Es ist die Geschichte einer Kindheit, die ähnlich beginnt wie meine eigene in der Mitte der 80er-Jahre. Das ist mein Versuch, mich dem Thema zu nähern, aber kein wissenschaftlicher Ansatz, die Forschungslage ist auch noch sehr dünn.

Ich habe mich berufsbedingt schon vor 25 Jahren mal mit den Themen Jugendwerkhöfe und Kinderheime in der DDR beschäftigt. Was mir auffällt: Kaum jemand aus meinem Familien- und Freundeskreis kennt mehr darüber als die Namen der Einrichtungen …

Sabine Rennefanz: Es ist wichtig, dass weiter darüber geredet und geforscht wird. Womöglich haben die Betroffenen jetzt auch die zeitliche Distanz und die Kraft dazu. Man sieht zum Beispiel an den Skandalen um Missbrauch in der Odenwaldschule oder der katholischen Kirche, wie lange es dauert, bis die Betroffene reden konnten und auch gehört wurden. Ohne die Jugendwerkhöfe relativieren zu wollen, finde ich, dass über die Jahrzehnte mit Kindern und Frauen in vielen Gesellschaften schlecht und missbräuchlich umgegangen wurde, und dass muss – unter Berücksichtigung der jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse – aufgearbeitet werden.

Anne Rabe: Ich erlebe sehr oft, dass dieses Thema Erstaunen, Abwehr und Relativierung hervorruft, in Buchvorstellungen oder in Gesprächen. Ich hatte vor kurzem eine Lesung, wo jemand sagte: „Wenn jemand im Jugendwerkhof war, gab es dafür auch einen Grund.“ Die Situation kochte richtig hoch, weil es im Publikum jemanden gab, dessen Familie davon schwer betroffen war. Im Osten ist diese Aufarbeitung wahnsinnig schwierig.

Anne Rabe kam 1986 in Wismar zur Welt. Sie schreibt Theaterstücke und TV-Serien und veröffentlichte zuletzt das Buch „Eine Ahnung von Glück“.
Anne Rabe kam 1986 in Wismar zur Welt. Sie schreibt Theaterstücke und TV-Serien und veröffentlichte zuletzt das Buch „Eine Ahnung von Glück“. © Annette Hauschild

Weil sie emotional so sehr besetzt ist?

Anne Rabe: Und weil sie auch mit Scham und Schuld verbunden ist. Aber an der Ignoranz und Unkenntnis ist auch der Westen mitschuldig, weil der sich in Sachen Aufarbeitung immer mit dem Thema Stasi begnügt und sich nicht für anderes interessiert hat. Man hatte auch in Westdeutschland kein Interesse daran, was zum Beispiel den Kindern im geschlossenen Jugendwerkhof Torgau passiert ist. Deswegen finde ich, man muss da jetzt nochmal ran.

Manche Ostdeutsche sorgen sich, dass zum Beispiel auch die Geschichte der Werkhöfe und Heime dafür benutzt wird, heutige gesellschaftliche Verwerfungen in Ostdeutschland auf die DDR und deren Spätwirkungen zurückzuführen. Was halten Sie davon, Frau Rennefanz?

Sabine Rennefanz: Wenn die DDR-Erfahrung benutzt wird, um heutiges Verhalten zu erklären und zum Beispiel zu sagen, die Ostdeutschen seien demokratieunfähig, finde ich das unproduktiv. Es wird in der Tat seit Jahrzehnten im Osten ein verhärtetes rechtsextremes Milieu beobachtet. Aber wir müssen auch die Gründe dazu betrachten: Millionen gut ausgebildeter Ostdeutsche sind nach 1990 weggegangen, es gab eine im internationalen Vergleich enorme Deindustrialisierung und es gibt im Vergleich zu Westdeutschland einen größeren ländlichen Raum. Ich wünsche mir da mehr Genauigkeit. Überall auf der Welt ist der Autoritarismus auf dem Vormarsch, von den USA bis Indien über Italien und Frankreich. Da kann ich das hier in Ostdeutschland doch nicht ständig auf die DDR zurückführen.

Anne Rabe: Aber bestimmte Themen gibt es im Osten eben nicht erst seit dem Fall der Mauer. Rassismus und Rechtsextremismus etwa waren auch vorher schon vorhanden. Und ich glaube, es war ein großer Fehler der Nachwendezeit, sich neben diesen ganzen wirtschaftlichen Verwerfungen nicht auch darum zu kümmern eine Zivilgesellschaft aufzubauen. Die einzige Zivilgesellschaft in Ostdeutschland, die erfolgreich war, ist die rechtsradikale Zivilgesellschaft, von Rostock-Lichtenhagen über Pegida bis zu den Corona-Protesten.

Ein Unterschied ist, dass diese Bewegungen gerade im ländlichen Raum keinen Widerspruch mehr erfahren vonseiten der tatsächlichen Zivilgesellschaft. War die denn dort jemals verankert?

Anne Rabe: Nein, da fehlen die Strukturen, auch Vereinsstrukturen, und das ist dann schon auch eine Folge der DDR. Dort war ja alles, die komplette Zivilgesellschaft, staatlich organisiert. Und als der Westen dieses Erbe der DDR-Ordnungsstrukturen übernahm, hat er vollkommen versäumt und verpasst, sich darum zu kümmern. Und es gibt in dieser rechten Bewegung in Ostdeutschland schon auch einen Bezug auf die DDR, auf die Widerstands-Geschichte.

Sie meinen etwa den AfD-Slogan vom Vollenden der Wende?

Anne Rabe: Die AfD füllt da überhaupt viel ideologisches Vakuum aus, das die DDR hinterlassen hat.

Wenn ich daran denke, welches neue DDR-Bild sich manche Menschen wünschen, dann fällt mir auf: Das gab es doch schon mal so ähnlich Ende der Neunziger, als die Ostalgiewelle losbrach. Finden Sie nicht?

Anne Rabe: Ich habe nicht so viel übrig für Ostalgie oder für Ostprodukte. Ich finde es natürlich trotzdem bedenklich, wenn in jedem ostdeutschen Städtchen in Schaufenstern von Bäckereien steht „Original DDR-Mohntorte“. Das ist so eine komische Vermischung, wo ich mir mehr Aufklärung oder mehr Auseinanderdividieren wünschen würde, damit sowas nicht zum ostalgischen Bezugspunkt wird.

Sabine Rennefanz: Für mich ist das kein nostalgischer oder auch nur politischer Blick, sondern eine Rezept-Information über unterschiedliche Zubereitung. Als großer Mohntorten-Fan ist die Botschaft für mich klar: Das ist der Mohnkuchen, wie ihn meine Mutter gemacht hat, und nicht der, wie man ihn zum Beispiel in Baden Württemberg oder Bayern isst.

Anne Rabe: Aber im Westen schwingt da nichts Ideologisches mit. Das Wort „DDR“ ist eben nicht bloß eine geografische Verortung, sondern durchaus auch eine politische. Genauso wie es bei einer „NVA-Erbsensuppe“ wäre. Das ist einfach nicht mein Humor. Aber gut, daran geht die Welt auch nicht zugrunde.

"DDR-Produkte" sind bis heute bei vielen Menschen im Osten sehr beliebt.
"DDR-Produkte" sind bis heute bei vielen Menschen im Osten sehr beliebt. © Sven Ellger

Zwei Bücher bestimmen seit dem Frühjahr die Debatte über die DDR und Ostdeutschland: Katja Hoyers „Diesseits der Mauer“ und Dirk Oschmanns „Der Osten, eine Erfindung des Westens. Hoyer sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, die DDR zu verharmlosen. Über Oschmann heißt es vielfach, er würde die Geschichte des Ostens seit 1990 fortschreiben als eine Geschichte der Kolonialisierung durch den Westen. Sehe Sie das auch so?

Sabine Rennefanz: Katja Hoyer wird vorgeworfen, sie würde Alltag und Diktatur der DDR trennen. Ich habe das bei ihr nicht gelesen, sie nennt die DDR einen der schlimmsten Polizeistaaten der Geschichte. Das Wort „Kolonialisierung“ ist kein Begriff, den ich im Ost-West-Konflikt gerne benutze, weil ich dabei an die Verbrechen der Kolonialmächte zum Beispiel im Kongo denke. Das mag ich nicht gleichsetzen mit dem, was seit 1990 in Ostdeutschland geschehen ist. Trotzdem finde ich die Verwendung in der Zuspitzung legitim. Wenn man sich anschaut, was in den letzten 33 Jahren passiert ist und wie sich die Eigentumsverhältnisse in den schön renovierten Städten wie Dresden, Leipzig und Erfurt entwickelt haben, wem die Betriebe, Häuser und Verlage gehören, dann muss ich schon sagen: „Kolonialismus“ trifft es nicht ganz, „Übernahme“ aber besser.

Anne Rabe: Ich würde sagen: Ja, wo Hoyer das DDR-System verharmlost, schreibt Herr Oschmann die Geschichte des Ostens fort als Kolonialisierung. Und diese Kolonialisierungs-Erzählung setzt sich immer weiter fest. Damit findet auch eine Umschreibung der Geschichte statt. Denn die Wahlentscheidungen, die 1990 und später im Osten getroffen wurden, waren Entscheidungen für den schnellen Anschluss, und danach wurde gerade in Sachsen und Thüringen immer wieder die CDU gewählt.

In Sachsen lange mit der absoluten Mehrheit.

Anne Rabe: Und mit der CDU wurde eben jene Politik gewählt, die genau das verantwortet, was sie danach an ihr kritisiert haben. So zu tun, als wäre da etwas über die Ostdeutschen hereingebrochen, woran sie kein Mitspracherecht hatten – das stört mich so sehr am Begriff „Kolonialisierung“. Kolonialisierung ist immer eine feindliche Übernahme und Ausbeutung der Ressourcen. Und so kann man die Geschichte des Ostens nach 1990 nicht betrachten.

Sabine Rennefanz: Nun hat Bundeskanzler Kohl mit seiner CDU ja versprochen, dass er die Ostdeutschen an die Hand nehmen würde, dass die D-Mark kommt und mit ihr Sicherheit und Wohlstand. Das haben die meisten Leute ihm geglaubt. Und ich bin mir sicher, dass sie nicht ahnten, was eine Währungsunion wirklich bedeuten würde.

Anne Rabe: Es gab aber jede Menge Leute, die haben ihnen ganz genau erzählt und erklärt, was das bedeuten würde.

Sabine Rennefanz: Diese Mahner gab es, sie wurden nicht gehört. Die meisten Menschen dürften nicht geahnt haben, was Widervereinigung und Währungsunion für ihren Alltag bedeuten würde, die Betriebsschließungen, die Massenarbeitslosigkeit über viele Jahre, die Abwanderung von Millionen, Rückgabe vor Entschädigung. Ihnen war wahrscheinlich auch nicht klar, dass nach den Verhandlungen zum Einheitsvertrag quasi nichts aus der DDR beibehalten wurde und dass sich fast alles für sie ändern würde.

Anne Rabe: Es stimmt natürlich: Die Besitzverhältnisse sind völlig unterschiedlich, Ostdeutsche besitzen im Schnitt sehr viel weniger als Westdeutsche.

Genau genommen haben Westdeutsche im Schnitt doppelt so viel Vermögen wie Ostdeutsche.

Anne Rabe: Aber ich würde mir wünschen, dass wir diese Diskussion mehr aus dieser Ost West Frage rausholen, und viel mehr darüber sprechen: Wer besitzt denn eigentlich in unserem Land wirklich etwas? Mir ist das gleich, ob mein Vermieter Ostdeutscher ist oder in London lebt.

Sabine Rennefanz: Ein Grund für die Ungleichheit liegt vor 1990. Die Ostdeutschen hatten kaum Möglichkeiten, Vermögen aufzubauen. Den Westdeutschen wurde die Demokratie geschenkt und das Wirtschaftswunder. Währenddessen mussten die Menschen im Osten für den gemeinsam angezettelten Krieg büßen, es wurde massiv Vermögen abgezogen und ein anderer Staat aufgebaut. Insofern sind die Ostdeutschen durchaus von der Geschichte bestraft worden.

„Brauchen wir ein neues DDR-Bild?“, lautet unsere Leitfrage. Welches würden Sie sich wünschen, Frau Rabe?

Anne Rabe: Dass man das Wissen über die DDR breiter vermittelt, auch im Unterricht. Ich habe mir viele Schulbücher angeschaut und festgestellt: Sehr häufig ist das ganze komplexe Thema DDR auf einer einzigen Doppelseite abgehakt. Da hat man dann so ein bisschen 17. Juni 1953 auf der einen Seite, und auf der anderen geht es schon um die Erörterung „War es ein Unrechtsstaat oder nicht?“ anhand von zwei Quellen. Das ist völlig falsch, weil es der Bedeutung der DDR und ihrer Geschichte nicht im Ansatz gerecht wird. Aber man muss einfach wissen: Bis sich das ändert und bessert, ist es noch ein weiter Weg, das wird uns noch sehr lange begleiten.

Und Sie, Frau Rennefanz?

Sabine Rennefanz: Mir ist die Vorstellung fremd, dass wir uns alle brav hinsetzen, und wenn wir ganz viel arbeiten, haben wir das perfekte DDR-Bild. So etwas wird es nie geben. Unser Blick auf den Nationalsozialismus ändert sich auch ständig, nach 90 Jahren gibt es neue Erkenntnisse und neue Debatten. Jede Generation muss sich den Blick neu erschließen. Mir macht eher Sorgen, wie wenig Jugendliche und Kinder in der Schule über die deutsche jüngere Geschichte lernen. Und ich würde mir auch eine größere Neugier auf die DDR-Zeit wünschen, weniger Vorverurteilungen. Es wäre gut, wenn nicht jeder, der sich für DDR-Erfahrungen interessiert, ob nun Stadtplanung, Gleichstellung oder Recycling, gleich als Nostalgiker gilt.

Notiert nach dem Podcast „Debatte in Sachsen“.