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Dresdner Filmfest beginnt: Warum Chemnitz die Orangenhaut von Sachsen ist

Heimat und Antirassismus sind die Themenschwerpunkte beim 35. Filmfest Dresden. Dort wird es im April viel zu sehen geben, das ähnlich gut zusammenpasst.

Von Oliver Reinhard
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Die Chemnitzer Kids in „Chemkids“ denken über sich und ihre Heimat nach. Und fragen sich zum Beispiel, ob das neue Wahrzeichen ihrer Stadt „nur deshalb so bunt ist, damit man den ganzen Dreck nicht sieht, der da raus kommt“
Die Chemnitzer Kids in „Chemkids“ denken über sich und ihre Heimat nach. Und fragen sich zum Beispiel, ob das neue Wahrzeichen ihrer Stadt „nur deshalb so bunt ist, damit man den ganzen Dreck nicht sieht, der da raus kommt“ © Philipp Schaeffer

Für die Heimat gilt oft genau das, was Bob Dylan über die Liebe gesagt hat: Du weißt erst, was du hattest, wenn du es verloren hast. Auch die „Heldinnen“ im Dokumentarfilm „Chemkids“ – für „Chemnitz Kids“ – wissen nicht wirklich, was sie an ihrer Heimatstadt haben und was nicht. Einfach weil Chemnitz selbst noch nicht weiß, was es eigentlich ist und sein will.

Die Freundinnen trainieren Eiskunstlauf wie ihre berühmte Mitbürgerin Katharina Witt, sie skateboarden, sie verbringen Zeit mit ihrer Familie, sie chillen gemeinsam mit Musik und Bier und Härterem. Und sie denken nach über sich und Chemnitz. Wuchsen ihre Eltern zu DDR-Zeiten noch auf im Gefühl der Gewissheiten, herrscht in ihnen das Gefühl der Ungewissheit. Theoretisch stehen ihnen alle Wege offen. Theoretisch.

Vom 18. bis 23. April erwartet das 35. Filmfest Dresden wieder Zehntausende Gäste.
Vom 18. bis 23. April erwartet das 35. Filmfest Dresden wieder Zehntausende Gäste. © Olaf Berndt

„Mit unseren Eltern zusammen hast du die Regeln geschrieben und in den Beton gemeißelt“, heißt es in dem Halbstünder von Regisseur Julius Blum. „Für uns musst du dir was Neues ausdenken.“ Es gibt einige solcher großartiger Sätze. Und irgendwann fällt der großartigste von allen: „Chemnitz, das ist die Orangenhaut Sachsens.“

Eben das, die „Heimat“, ist ein Schwerpunktthema beim 35. Internationalen Filmfest Dresden vom 18. bis 23. April, dessen Programm am Dienstag im Hauptfestivalkino Schauburg vorgestellt wurde. Und „Chemkids“ hat locker das Zeug zu einem Höhepunkt des Jahrgangs 2023.

„Der Film hat mich richtig glücklich gemacht“

„Blum zeigt Chemnitz als Zuhause, als Stadt mit Geschichte, er erzählt sehr liebevoll von den Menschen und auch sehr positiv“, sagt Viola Lippmann vom Filmverband Sachsen und strahlt. „Der Film hat mich richtig glücklich gemacht.“ Es gibt zum Glück auch sie beim Festival, jene hell strahlenden Punkte im Programm, die glücklich machen. Was umso wichtiger ist, weil gerade junge Filmschaffende traditionell sehr existenzialistische Blicke auf die Gegenwart werfen.

Und die, machen wir uns nichts vor, bietet seit geraumer Zeit eher selten Anlässe zum Konfettiwurf. „Vielen Beiträgen im Nationalen Wettbewerb geht es um Selbstbestimmung, Gender-Gerechtigkeit, Klimawandel“, sagt Filmfest-Leiterin Sylke Gottlebe. Das ist auch kein Wunder, schließlich sind die Generation Klimawandel und die Generation Kurzfilm identisch, und die ausgereiften Baby-Boomer drehen nur Langfilme.

Der deutsche Hang zu Frustbarkeiten

Das Grüblerisch-Problemfixierte ist allerdings kein Ergebnis des deutschen Hangs zu Frustbarkeiten, wie der Internationale Wettbewerb offenbar belegt. „Auch diese Filme spiegeln eine trübe Zeit wider“, sagt Vincent Förster von der Auswahlkommission. „Es gibt viel Regen, viel Düsternis, und keine Ausblicke auf das Goldene Land.“ Auffällig viele Filme mit queerem und antirassistischem Inhalt seien dieses Jahr im Angebot gewesen, so Förster.

Was auch ohne eigenes Nachfragen oder Anregen vom Leitungsteam in diese Richtung dazu geführt hat, dass viel Material da war für den zweiten Schwerpunkt des Filmfestes: Es schließt seine dreijährige Inhalts-Serie über Diversität ab mit dem Thema Antirassismus, in vier Programmen. Dessen erster Schritt ist immer das Bewusstmachen von Rassismus, entsprechend schwebt „Exit Happyland“ als ein Motto über dem Filmfest.

Die Mehrheit der Deutschland lehnt Rassismus scharf ab

Der von Tupoka Ogette umdefinierte Begriff spielt darauf an, dass auch in Deutschland eine immense Mehrheit Rassismus ablehnt und denkt, wir lebten deshalb in „Happyland“. Dennoch gibt es auch bei uns Rassismus, sogar massenhaft. Auch bei Menschen, die ihn aus tiefstem Herzen verachten – aber nicht wissen, wie sehr ein solches Denken in uns drinsteckt. Mo Harawe, der Film in Kassel studiert hat und Träger des Deutschen Kurzfilmpreises ist, zeigt obendrein im von ihm kuratierten Block, wie negativ sich Rassismus auf ganze Gesellschaften auswirkt, nicht nur auf deren davon direkt betroffene Mitglieder.

Womit wir wieder bei der „Heimat“ sind und einem Kuriosum, das stetig anwächst. „Der Nationale Wettbewerb ist in diesem Jahr besonders international“, sagt Sylke Gottlebe. Was nichts anderes heißt als: Einheimische Filmemacherinnen und Filmemacher suchen und finden ihre Themen zunehmend seltener in dem, was traditionell mit Heimat umschrieben wird, in Deutschland, ihrer Geburtsregion, an ihrem Geburtsort. Sondern in dem, was früher „Fremde“ hieß.

„Heimat“ kann integrierend und ausgrenzend sein

Tatsächlich kann „Heimat“ auch ausgrenzende Wirkung haben – eben für alle, die von „Einheimischen“ als nicht dazugehörig empfunden werden. Im Programm „Making Heimat“ versammelt die tschechische Kuratorin Diana Cam Van Nguyen Geschichten darüber aus Ost und West. Unter welchen Bedingungen Traditionen fortbestehen und überleben können, beleuchtet der Regionale Fokus mit „Familienangelegenheiten“, einem Programm mit sächsischen Privataufnahmen, die zwischen 1920 und 1970 entstanden sind.

Auch der Dokumentarfilm „Zärtlich kreist die Faust“ von 1990 um den Dresdner Schriftsteller und Bürgerrechtler Lutz Rathenow erzählt letztlich eine Heimatgeschichte. Darüber, wie für Millionen Menschen eine „Heimat“ endete und eine neue begann. Ein Schritt, mit dem auch die Eltern der „Chemkids“ vor 33 Jahren ihre Gewissheiten verloren.

Die Sächsische Zeitung und Sächsische.de sind Medienpartner des Filmfests Dresden.

Vom 18. bis 23. April werden an 16 Spielstätten in insgesamt 188 Veranstaltungen 371 Filme aus 66 Ländern gezeigt. Hauptfestivalkino ist die Schauburg.
Die Beiträge im Internationalen und im Nationalen Wettbewerb konkurrieren um Auszeichnungen im Wert von 72.000 Euro.
Die Tickets kosten 8,50 Euro, ermäßigt fünf Euro.