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Warum Waffensysteme aus den 40ern im Ukraine-Krieg eine große Rolle spielen

Digitale Technik kann den Fortschritt auch hemmen. Das sagt Jens Wehner vom Militärhistorischen Museum. Deshalb sind alte Systeme manchmal besser als neue.

Von Peter Ufer
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Wir wissen noch nicht richtig mit der neuen Technik umzugehen, sagt der Historiker Jens Wehner.
Wir wissen noch nicht richtig mit der neuen Technik umzugehen, sagt der Historiker Jens Wehner. © dpa

Eine Welt ohne Computer, Flugreisen, Atomkraft, Satellitennavigation und Internet ist kaum vorstellbar. Zugleich sind die Kontroversen geblieben, in denen immer wieder die Frage auftaucht, ob die generelle Technikentwicklung ein „Overkill“ ist und irgendwann doch zur Auslöschung der Menschheit führt. Wie gehen wir heute mit dieser durch aktuelle Krisen und Kriege befeuerten Angst um? Diese und ähnliche Fragen will derzeit eine Ausstellung im Militärhistorischen Museum klären. Deren Kurator erklärt im Interview, wie man digitalen Zwängen entfliehen kann und wo er die Grenzen der KI sieht.

Herr Wehner, in der Ukraine sehen wir einen Krieg, der neben konventionellen Strategien zu einem modernen Krieg der Drohnen geworden ist. Ist das der digitale Krieg?
Zunächst einmal wird dieser Krieg im Wesentlichen mit den Waffensystemen des Kalten Krieges gekämpft. Wenn Sie durch den Außenparcours des Militärhistorischen Museums in Dresden gehen, erkennen Sie schnell, wie viele Waffensysteme aus der Zeit bis 1990 dort im Einsatz sind. Zwar sind diese teilweise modernisiert, besonders mit moderner Digitaltechnik, aber die anderen Eigenschaften haben sich technologisch kaum verändert.

Haben Sie ein Beispiel dafür?
Die russischen Marschflugkörper werden teilweise von Tupolew Tu-95 Bombern abgeschossen, deren Triebwerke nach dem Zweiten Weltkrieg von deutschen Experten in der Sowjetunion konstruiert wurden. Selbst Drohnen sind nicht wirklich neu, wie das erste Zitat der Sonderausstellung zeigt. Es stammt aus der New York
Times von 1946.

Worin besteht der Zusammenhang zwischen technologischer Entwicklung im Militär und in der Gesellschaft?
Der ist sehr eng, weil sich beide – Militär und Gesellschaft – nicht voneinander lösen können. Das Militär rüstet sich mit dem Zeitgeist der Gesellschaft. Interessant ist, dass viele grundlegende Technologien, die unsere Welt heute prägen, zwar nicht unbedingt im Militär erfunden wurden, aber im Interesse des Militärs Förderung und Entwicklung fanden. Viele Menschen nutzen eine Mikrowelle, die ein Nebenprodukt der Radarforschung ist. Sie schauen auf ihr Smartphone, das viele militärische Technologien nutzt, darunter das heute noch militärisch betriebene GPS.

Jens Wehner hat für das Militärhistorische Museum die Ausstellung „Overkill – Militär.Technik.Kultur im Kalten Krieg“ kuratiert.
Jens Wehner hat für das Militärhistorische Museum die Ausstellung „Overkill – Militär.Technik.Kultur im Kalten Krieg“ kuratiert. © dpa

In der Ausstellung wird erzählt, dass die digitale Ausstattung des Militärs nicht zwingend zu mehr Effektivität führen muss. Wo sehen Sie Nachteile?
Zunächst muss man sagen, dass digitale Technik die Waffentechnik schon effektiver macht. Die höhere Präzision einer digitalen Lenkbombe spart zum Beispiel weitere Bomben, die man sonst bräuchte, um ein Ziel mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit zu treffen. Aber Digitalisierung schafft auch Probleme, denn sie benötigt Ressourcen. Für die Produktion von Digitaltechnik braucht man hoch ausgebildetes und gut bezahltes Personal, zum Beispiel Elektrotechnik-Ingenieure und Informatiker. Der Einsatz dieser Technik ist in vielen Fällen ebenfalls nicht ganz einfach, besonders weil es manchmal an der Zuverlässigkeit fehlt.

Sind alte Systeme besser als neue?
Im Einzelfall schon. Wir haben in der Dauerausstellung des Militärhistorischen Museums einen VAX-Großrechner. Er stammt aus den 1970er-Jahren und wurde laut vertrauenswürdigen Angaben noch in den 2000er-Jahren von wichtigen amerikanischen Regierungsinstitutionen genutzt. Er war nicht so leistungsfähig wie neue Rechner, aber er stürzte nie ab. Er funktionierte, das war wichtiger als die Leistung.

Und wo sind die Grenzen digitaler Technik jenseits des Militärs?
Ein wichtiger Punkt ist die Produktivität. In der Bundesrepublik ist sie von 1950 bis 1990 stetig gewachsen. Aber das Wachstum der Produktivität war in den 1950er- und 1960er-Jahren schneller als in den 1970er- und 1980er-Jahren. Das ist jedoch genau jene Zeit, in der die Digitaltechnik ihre Relevanz erhält. Da passt etwas nicht zusammen. Der Einwand ist, dass jene Staaten ohne Digitaltechnik noch unproduktiver waren.

Waschmaschine schlägt Smartphone

Ist das belegt?
Die DDR hat deshalb ein Mikroelektronikprogramm aus dem Boden gestampft. Es gibt einen amerikanischen Experten für Produktivitätsberechnungen, der meint, der große Effizienzzuwachs in den USA durch die Computer war bereits in den 1960er-Jahren passiert. Alles danach sei nicht so wichtig. Er meint, die Erfindung der Waschmaschine hätte mehr für die Freizeit der Menschen getan als das Smartphone.

Die Künstliche Intelligenz schürt die Befürchtung, dass die sich verselbstständigt und die Menschheit auslöscht. Teilen Sie diese Ängste?
Als Historiker kann ich sagen, dass diese Ängste vor der Technik stets existiert haben. Im 19. Jahrhundert hatten manche Angst vor der Eisenbahn. In den 1980er-Jahren war die Angst vor Überwachung und Hacking groß, sie können das in unserer Ausstellung sehen.

Die Frage war, wie ist das mit der KI?
Für die KI heißt das, jeder kann hier falsch liegen. Man muss auch sehen, dass es hinter solcher Argumentation auch immer Interessengruppen gibt. Diese können reale Sorgen – etwa die Furcht vor einem undichten Atommüll-Endlager – verknüpfen mit politisch motivierter Angstmacherei. Auf der anderen Seite erzeugen Firmen, die neue Technik einführen, gern die Vorstellung, sie sei sehr mächtig. Ein Begriff, den es ja in der IT-Sprache gibt. Da ist die Rede von mächtigen Anwendungen. Es gibt auch den Begriff der „Silicon-Valley-Propaganda“, die das alles infrage stellt. Man sollte beides kennen, um sich ein Urteil bilden zu können.

Einfach mal das E-Mail-Programm ausschalten

Gibt es Systeme, um extreme Intelligenz einer KI unter Kontrolle zu halten?
Es gibt einen Utopieroman aus der DDR, darin wird beschrieben, dass die DDR in den 1990er-Jahren führend auf dem Gebiet der stochastischen Computer sein werde. Das ist ein damaliger Begriff für KI. Die DDR setzte diese Technik zuerst im Erzgebirge als Bergbauroboter ein. Die Hauptperson ist ein technisch versierter Geheimdienstoffizier. In diesem Roman kommen wichtige Motive der DDR zusammen: Bergbau bei der Wismut, Geheimdienst und Kalter Krieg sowie der Glaube an eine bessere Zukunft durch Technik. Computer lösten in der Mitte des Kalten Krieges die Raumfahrt als Hoffnungsträger ab. Man sieht daran, was wir als Gesellschaft in die KI projizieren, sagt mehr über uns aus als über die tatsächlichen Fähigkeiten der Technik. Die DDR gab es in den 1990er-Jahren jedenfalls nicht mehr und auch noch keine stochastischen Computer.

Wie entfliehen Menschen den digitalen Zwängen?
Auch hier ist wieder die Frage, ist der Zwang digital oder gesellschaftlich begründet und wird durch die Digitaltechnik lediglich transportiert. Vor Kurzem hatte ich ein Seminar zum Thema Arbeitsorganisation, und ein Tipp des Vortragenden hieß, einfach mal das E-Mail-Programm ausschalten. Hier geht es um Erreichbarkeit. Das erinnerte mich an den General Erich von Ludendorff, der die letzte deutsche Offensive im Jahr 1918 kommandierte. Dabei setzte er auf das damals neue Informationssystem Telefon, womit er alle möglichen kleineren Einheiten erreichen konnte. So telefonierte Ludendorff bis auf die unteren Ebenen, kommandierte, verzettelte sich und brüllte, bis er einen Nervenzusammenbruch erlitt. Die Quintessenz ist, er wusste die neue Technologie nicht richtig zu nutzen. Zudem war er sehr angespannt, denn der Krieg stand bereits ungünstig für das deutsche Kaiserreich. Ich glaube, dieses historische Beispiel hilft uns, besser die Zeit zu verstehen, wir wissen noch nicht richtig mit der neuen Technik umzugehen. Sie maßvoll einzusetzen. Zudem sind die Zeiten angespannt. Das erschafft Zwänge. Doch die digitale Informationstechnik ist nur der Bote der Nachricht, nicht die Ursache, die liegt immer noch in uns selbst.

  • Das Militärhistorische Museum Dresden zeigt die Sonderausstellung „Overkill – Militär.Technik.Kultur im Kalten Krieg“ bis 30. Juni 2024.