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Wer Russland verstehen will, sollte den Russen Nikolai Epplée lesen

So präzise, spannend und vor allem zukunftsweisend wie der russische Kulturwissenschaftler beschreibt kaum jemand die Geschichte seiner Heimat.

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Nikolai Epplèe vermutet: Auch Putins Neo-Stalinismus wird die russischen Menschen nicht dauerhaft unterdrücken könne.
Nikolai Epplèe vermutet: Auch Putins Neo-Stalinismus wird die russischen Menschen nicht dauerhaft unterdrücken könne. © Getty Images

Von Ulfrid Kleinert

Es ist vor drei Jahren zuerst in Moskau erschienen und liegt jetzt in einer wunderbaren deutschen Übersetzung vor: das Buch des Russen Nikolai Epplée. Er erzählt auf einzigartige, liebevolle und dabei sachlich klare Weise von der jüngeren Geschichte Russlands bis zur Gegenwart und legt dabei besonderen Wert auf die zivilgesellschaftlichen Befreiungsschritte nach 1989 und die Chancen, im Prozess der bürgerlichen Aneignung der eigenen Geschichte sich der „unbequemen Vergangenheit“ zu stellen und die Zukunft gemeinsam human gestalten zu lernen.

Selbstverständlich hat sich Epplée gefragt, ob sein hoffnungsvolles Werk drei Jahre später noch aktuell ist, nachdem Russland auf Putins Anordnung den Krieg gegen die Ukraine begonnen hat. Die Antwort des Autors wie auch des Rezensenten auf die Frage der Aktualität des Buchs ist ein uneingeschränktes „Ja“. Denn so pointiert, präzise, spannend und vor allem zukunftsweisend hat noch niemand die Geschichte des nachzaristischen Russland beschrieben.

Die orthodoxe Kirche als Putins ideologischer Handlanger

Nikolai Epplées Erzählung reicht von der kommunistischen Revolution und der Entstehung der Sowjetunion bis hinein in die brutalen Zwangslager Stalins, die der industriellen Entwicklung und der Disziplinierung der Bevölkerung dienen sollten. Es geht um halbherzige Reformbestrebungen bis zur Auflösung der Sowjetunion am Ende der Regierungszeit Gorbatschows. Dann geht es zu den Ansätzen zivilgesellschaftlicher Befreiung. Und schließlich zu den heute Russland bestimmenden Bestrebungen Putins, den alten Stalinkult wiederzubeleben und nach einem großrussischen Reich zu streben, das imperialistisch möglichst weit in Richtung der Ausmaße der alten Sowjetunion vergrößert werden soll.

Einigendes Band dieses neuen Großreiches aber ist neben der autoritären Herrschaft nicht mehr die Ideologie des Kommunismus, sondern die orthodoxe Kirche. Zusammen mit der autoritär verordneten, verfälschenden Geschichtsdarstellung Putins formt sie die Ideologie der „russischen Welt“. Epplée belegt seine Darstellung mit vielen erzählenden Passagen aus bekannter und unbekannter, in jedem Fall erhellender Literatur und Kunst. Und gibt ihr eine übersichtliche Struktur, die die Erzählstränge zusammenhält.

Vergleiche mit Polen, Argentinien, Deutschland ...

Epplées Werk wird hier zu einem Kompendium, mit dem die Lesenden Schritt für Schritt Russlands Staatsverbrechen kennenlernen: ihre Auswirkungen sowie den guten und den weniger guten Umgang mit ihnen. Besondere Konturen erhält dieses Kompendium durch den Vergleich damit, wie in sechs ausgewählten anderen Ländern das durch Staatsverbrechen verursachte Leid wahrgenommen und überwunden wird.

Da berichtet Epplée 1. über die Mütter von der Plaza de Mayo in Buenos Aires, die Aufklärung verlangen über das Verschwinden ihrer Söhne in Argentinien, 2. von der Überwindung des Schweigens über die Verbrechen des Franko-Regimes in Spanien, 3. vom Ringen um Vergebung statt justizieller Bestrafung in südafrikanischen Wahrheitskommissionen. Oder 4. vom „Balanceakt der Erinnerung“ in den internationalen Konflikten Japans und 5. von der kollektiven Opferidentität Polens als „Christus der Völker“, die eigene Beteiligung an Judenverfolgungen im Land verleugnet. Endlich 6. über Deutschlands langen Weg seit der Weimarer Republik „von der Schuld zur Verantwortung“.

Kaum eine Familie ohne Täter oder Opfer - oder beides

Zumindest die Älteren unter unseren Lesern haben eigene Erfahrungen zum konkreten Umgang mit der Schuld nach den von Deutschen in der Nazizeit begangenen Verbrechen. Sie werden dennoch manch Neues dazu erfahren, zumindest aber eine exzellente Zusammenfassung lesen können zu den unterschiedlichen Wegen im Umgang mit dieser Schuld in Ost- und West- und später im wiedervereinigten Deutschland. Die Frage, warum unser Land bis heute nicht ganz versöhnt scheint, stellt sich nach der Lektüre des Epplée-Buches neu und findet einen neuen Bezugsrahmen für ihre Beantwortung.

Ein besonderer Akzent liegt auf der politischen und institutionellen Ebene, auf der Vergangenheitsbewältigung gefördert oder aber verhindert wird. Sie kann von oben verordnet werden und dabei eher scheitern. Oder aber von unten ermöglicht werden in der persönlichen Wahrnehmung der eigenen Geschichte und in der verantwortlichen Annahme des eigenen Täter- oder Opferseins. In Russland, wo es nach Stalins Gewaltherrschaft kaum eine Familie gibt ohne Enkel der Täter oder der Opfer der Terrorherrschaft, gab es mit vielen Hundert Teilnehmern zivilgesellschaftlich organisierte, nicht staatlich angeordnete Schülerwettbewerbe über Familiengeschichten.

Putin lässt wieder Stalin-Denkmale errichten

Eine unseren Stolpersteinen in Deutschland vergleichbare Aktion „Rückgabe der Namen“ von bisher totgeschwiegenen Opfern führte zu tausend Gedenktafeln in einzelnen Städten. Die in Russland 1988 gegründete Organisation „Memorial“ machte zudem die Orte der mörderischen Zwangslager Stalins bekannt und zugänglich. Als Putin wieder Stalin-Denkmäler errichten und Ende Dezember 2021 die Organisation „Memorial“ verbieten ließ, stand der Krieg gegen die Ukraine unmittelbar bevor.

Das alles sind nur wenige Gedanken und Beobachtungen zu diesem epochalen klugen Buch. Zum Schluss stellt Nikolai Epplée vier Thesen auf; Ausgangspunkte für zukünftige Ermittlungs- und Verbreitungsmaßnahmen in Russland dienen. Sie entsprechen seiner Vermutung, dass Stalins Terror, nachdem er fast schon überwunden war, in seiner Erneuerung durch Putin nicht am Ende siegen und die russischen Menschen dauerhaft unterdrücken wird. Vielmehr dass Bürger neu aufstehen werden, die ihr Gedenken und ihr Leben miteinander in die eigene Hand nehmen.

Das Erbe des Stalin-Systems führte zum Zusammenbruch

Die Thesen lauten: 1. Zwischen 1918 und 1953 sind mindestens 19,8 Millionen Menschen unverschuldet Opfer rechtswidriger staatlicher Verfolgungsmaßnahmen geworden. Mindestens 2,3 Millionen von ihnen wurden gezielt getötet oder vorzeitig zu Tode gebracht. 2. Bei den politischen Repressionen handelte es sich nicht um vereinzelte Übergriffe, sondern um staatlichen Terror gegen die eigene Bevölkerung, der der politischen Ordnung der Sowjetunion inhärent war. 3. Die sowjetische Führung sowie Lenin und Stalin persönlich sind für die Repressionen in vollem Umfang verantwortlich. Das Denunziationssystem war nicht die Ursache, sondern eine Folge der Terrorkampagnen.

Und schließlich war 4. das Wirtschaftssystem der Stalinzeit – Industrialisierung durch Mobilisierung und Abhängigkeit von billiger Zwangsarbeit – ineffizient und führte letztlich zum Zusammenbruch der Sowjetunion. Wer diese Thesen ernst nimmt, wird nicht wie Putin und seine Unterstützer das alte Imperium der Sowjetunion als neues Großrussland wiederherstellen wollen. Sondern den einzelnen Ländern ihr Selbstbestimmungsrecht lassen und bürgerliche Freiheit zulassen.

Nikolai Epplée: Die unbequeme Vergangenheit – Vom Umgang mit Staatsverbrechen in Russland und anderswo, Suhrkamp, 599 S. 30 €