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"Wir" sind auch ostdeutsch und migrantisch

Die gebürtige Leipziger Publizistin Jana Hensel sagt, "Ossis" und Migranten verbindet Entscheidendes: Die Erfahrung, ausgegrenzt und diskriminiert zu werden.

Von Oliver Reinhard
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Ostdeutsche und Menschen mit Migrationsgeschichte sehen sich hier oft einer „Gesellschaft der Anderen“ gegenüber. So nennen die Publizistin Jana Hensel (Foto) und Soziologin Naika Foroutan auch ihr Buch.
Ostdeutsche und Menschen mit Migrationsgeschichte sehen sich hier oft einer „Gesellschaft der Anderen“ gegenüber. So nennen die Publizistin Jana Hensel (Foto) und Soziologin Naika Foroutan auch ihr Buch. © Aufbau-Verlag

Frau Hensel, Sie und die Soziologin Naika Foroutan haben in ihrem Buch "Die Gesellschaft der Anderen" etwas sehr Ungewöhnliches versucht: Ausgrenzungserfahrungen von Ostdeutschen und Migranten parallel zu betrachten. Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede stellen Sie fest?

Der größte Unterschied ist natürlich: Ostdeutsche sind anders als Menschen mit sichtbarer Einwanderungsgeschichte nicht von Rassismus betroffen. In den reichhaltigen Katalog ostdeutscher Nachwendeerfahrungen gehören jedoch Diskriminierungs- und Abwertungserfahrungen, Marginalisierung und Peripherisierung durch die westdeutsche – und hier muss man hinzufügen: weiße Mehrheitsgesellschaft. Ostdeutsche und Deutsche mit Migrationshintergrund eint, dass sie weniger verdienen, weniger Vermögen besitzen und in der gesamtdeutschen Elite teilweise eklatant unterrepräsentiert sind. Und: Beide Gruppen stehen im Zentrum vieler Ereignisse und Debatten. Deshalb beschäftigen wir uns in unserem Buch mit den vergangenen 30 Jahren einmal ganz explizit aus migrantischer und ostdeutscher Perspektive. Wir erzählen die jüngste deutsche Gegenwart also völlig neu.

Es ist ja kein Geheimnis, dass hier immer noch die westdeutsch und weiß geprägten Erzählperspektive dominiert. Aber kann man da überhaupt noch von „Mehrheitsgesellschaft“ reden?

Nun, Naika Foroutan plädiert für den Begriff der Dominanzgesellschaft, den benutzen wir im Buch. Grob gerechnet ist ein Viertel der Deutschen ostdeutsch, ein weiteres Viertel hat einen Migrationshintergrund. Auf die verbleibenden 50 Prozent trifft der Begriff Mehrheitsgesellschaft also schwerlich zu. Dennoch dominiert jene weiße, westdeutsche Perspektive sehr stark unsere Debatten und Erzählungen. Vereinfacht gesagt: die Identität dieses eigentlich sehr diversen Landes ist eine westdeutsche. Denken wir nur an Corona: wie oft hieß es, das sei die größte Krise nach 1945. Aus ostdeutscher Perspektive stimmt das nicht: Die Ostdeutschen sind nach 1990 in eine Krise gerutscht, die umfassender und folgenschwerer war als die Pandemie - zumindest bisher.

Wie fließend die Grenzen zwischen Mehrheitsgesellschaft und Minderheit ist und wie schnell die Perspektiven wechseln können, sieht man ja auch daran: 1990 konnten sich Westdeutsche mit Migrationshintergrund gegenüber den Ostdeutschen als Teil der Mehrheitsgesellschaft begreifen.

Ja und nein. Viele Migranten haben sich vom damaligen deutsch-deutschen Einheitstaumel eher ausgeschlossen gefühlt. Aber, klar, in unserem Gespräch ist Naika Foroutan eine Frau mit Migrationsbiographie, aber auch eine Westdeutsche.

Das Umgekehrte, so ungefähr beschreiben Sie es, sei 2015 für manche Ostdeutsche möglich geworden, weil sie sich da mit ihrer offenen Feindschaft gegenüber Zuwanderern als Teil der westdeutschen Mehrheitsgesellschaft sehen konnten …

... in der es ebenfalls Rassismus und Migrationsfeindlichkeit gibt, genau. Wir diskutieren diesen Gedanken neben anderen im Buch. Überhaupt war das Jahr 2015 in vielerlei Hinsicht eine enorme Zäsur. Menschen mit Migrationshintergrund wurden in der Krise um die Geflüchteten plötzlich wieder wie neu wie Fremde betrachtet, obwohl sie seit Jahrzehnten hier leben. Und im Osten brach die bis dahin lange Zeit zwar wahrnehmbar, aber meist unterschwellig schwelende antidemokratische Stimmung aus Parteienskepsis, Misstrauen gegen die politischen Eliten und Institutionen und eben auch Rassismus wieder an die Oberfläche und artikulierte sich auf der Straße.

Mitautorin Naika Foroutan ist Professorin der Soziologie und Direktorin des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung BIM.
Mitautorin Naika Foroutan ist Professorin der Soziologie und Direktorin des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung BIM. © Aufbau-Verlag

Welche Rolle spielten dabei die eigenen Abwertungserfahrungen? Das Gefühl, jahrzehntelang ausgegrenzt zu werden, kann ja eine starke Triebkraft dafür sein, bei der passenden Gelegenheit – salopp gesagt - endlich mal wieder auch andere auszugrenzen, sozusagen als Frustventil.

Ich glaube, das spielt eine Rolle. Auch wenn sich vor allem Alltagsrassismus in Ostdeutschland häufiger offen artikuliert, kann die Frage nicht nur sein: Warum ist der Osten so rassistisch?. Sondern wir müssen auch fragen, warum er sich hier wie artikuliert. In Westdeutschland dominiert eher das Phänomen des institutionellen Rassismus. Also dass Menschen mit sichtbarer oder in ihrem Namen ablesbarer Migrationsgeschichte bei der Jobsuche benachteiligt werden, dass sie keine Wohnung finden, dass ihre Kinder keine Empfehlung für die höhere Schulbildung bekommen, dass sie nicht zu Bewerbungsgesprächen eingeladen werden. Im Osten hingegen ist eben auch der Alltagsrassismus stark ausgeprägt. Damit meine ich offene rassistische Sprüche und Aggressionen auf der Straße. Der Grund dafür scheint mir zu sein, dass im Osten die Straße in höherem Maße ein politischer Ort ist.

Sie denken an eine Art „Erbe“ der Montagsdemonstrationen?

Auch. Und, um nur ein weiteres Beispiel zu nennen, an die Demonstrationen gegen Hartz IV, die ja für den Osten ein massiver Einschnitt waren. Und eben dieser sich nun unverstellt äußernde Rassismus von Teilen der ostdeutschen Gesellschaft, in aller Öffentlichkeit, das entsetzt die westdeutsche Mehrheitsgesellschaft natürlich.

Und dieses Bewusstsein, diese Sichtweise wirkt dann leicht wie eine weitere Einladung zur Abwertung der Ostdeutschen?

In einer solchen Kausalität würde ich das nicht beschreiben, aber ich weise im Buch immer wieder darauf hin, dass sich im Osten viel angestaut hat. Wir reden über die enormen Brüche nach der Wiedervereinigung, die Abwanderung, die Arbeitslosigkeit, der Besetzung der meisten Führungspositionen mit Westdeutschen, über das Gefühl der Marginalisierung. Kurz: Hier wirken wie ein Katalysator Abwertungserfahrungen mit hinein, die die westliche Dominanzgesellschaft nur schwerlich konzedieren kann.

Im Westen gibt es immer noch ein eher geringes Bewusstsein für die Besonderheiten der ostdeutschen Geschichte der letzten 30 Jahre. Anders ließe es sich jedenfalls schwer erklären, dass viele Westdeutsche der Heftigkeit der Proteste im Osten so ratlos gegenüberstehen und sagen: Was habt Ihr bloß? Eure Lebensverhältnisse gleichen sich mehr und mehr an, Eure Innenstädte sind wunderbar restauriert ...

... richtig, und das Gefühl von Anerkennung und Respekt erkauft man sich nun einmal nicht mit sanierten Innenstädten. Sondern mit Anerkennung und Respekt. Den wiederum stellt man nicht allein durch Bekenntnisse her, obwohl auch das wichtig ist. Aber wir haben, worauf vor allem Naika Foroutan im Buch mit ihren Kenntnissen aus der Migratonsforschung hinweist, den Wiedervereinigungsprozess der letzten 30 Jahre fast nur aus ökonomischer Perspektive betrachtet und geglaubt, dieser Prozess würde gelingen, wenn der Osten eine ähnliche ökonomische Stabilität entwickelt wie der Westen. Inzwischen ist aber klar, dass dafür auch eine kulturelle Anerkennung der Ostdeutschen nötig ist.

Die "Flüchtlingskrise" 2015 war, so eine These des Buches, für viele Ostdeutsche ein verlockendes Angebot: Wer sich fremdenfeindlich äußerte, konnte sich damit als Teil der westdeutschen Mehrheitsgesellschaft begreifen, in der es ebenfalls viele Migration
Die "Flüchtlingskrise" 2015 war, so eine These des Buches, für viele Ostdeutsche ein verlockendes Angebot: Wer sich fremdenfeindlich äußerte, konnte sich damit als Teil der westdeutschen Mehrheitsgesellschaft begreifen, in der es ebenfalls viele Migration © Archiv/Benno Löffler

Dass die Ostdeutschen mit ihren Erfahrungen, den positiven wie den negativen, endlich ein gleichberechtigter Teil der deutschen Identitätsgeschichte werden?

Ja. Und ich denke da vor allem an die immensen Transformationserfahrungen und Leistungen der Ostdeutschen nach 1990; etwas, das der Westen so nie hat durchleben müssen. Ebenso verhält es sich übrigens mit der Geschichte und den Leistungen vor allem der Gastarbeiter in Westdeutschland, ohne die der wirtschaftliche Erfolg der alten Bundesrepublik seit den Sechzigern undenkbar wäre. Aber bis heute kommen sie in der Erinnerungskultur ebenfalls nur am Rand vor.

Dann brauchen wir eine völlig neue, eine multiperspektivische Erzählung dieses Landes, als Einwanderungsland und als Land von west- und ostdeutschen Prägungen?

Eine solche Erzählung gründen wir mit unserem Buch. Wir erzählen die deutsche Geschichte mit einem besonderen Augenmerk auf Ostdeutsche und Deutsche mit Einwanderungsbiographien. Weil beide Gruppen beständig marginalisiert, ausgegrenzt und in Debatten gewissermaßen unsichtbar gemacht werden. Und wenn das passiert, wird unser Glaube an das Funktionieren einer Demokratie brüchig. Das führt zur Entfremdung von unseren Institutionen, von der Politik, von den Medien. Und es kann Menschen auch in die Arme von radikalen Kräften wie zum Beispiel die AfD treiben. Das ist und enorm schädlich und gefährlich für unser Land und die Demokratie.

Was mir immer wieder auffällt: Die jahrzehntelange Marginalisierung und Ausgrenzungen von Ostdeutschen und Menschen mit Migrationsgeschichte haben bei vielen verständlicherweise zu Verletzung, aber auch einer hohen Verletzlichkeit geführt. Von der Mehrheitsgesellschaft wird das jedoch größtenteils gar nicht wahrgenommen. Auf welchem Weg ließen sich dafür mehr Sensibilität und Verständnis und Empathie erreichen?

Das ist ein Mehrgenerationenprojekt, dafür muss man über sehr viele Dinge nachdenken. Vor allem darüber, wie man Wissen und Geschichte neu und anders vermittelt. Im Grunde müssen die Lehrpläne an Schulen und Universitäten neu geschrieben oder zumindest erheblich erweitert werden. Und um die strukturellen Benachteiligungen auf dem Arbeitsmarkt und innerhalb der Führungseliten zu beseitigen, bräuchten wir eine Quote. Der Westen braucht eine Vielfaltsquote, der Osten eine Ostquote. Ich weiß, dass so etwas nicht kommen wird. Aber allein die Debatte darüber ist furchtbar wichtig und kann viel bewegen.

Haben die vielen Debatten der letzten Jahre über die nachweisbaren Ungleichheiten in der Gesellschaft das nicht schon, zumindest in Anfängen?

Aber ja! Die waren sogar enorm fruchtbar. Wenn ich nur daran denke, wie wir den 30. Jahrestag der Wiedervereinigung gefeiert haben. Mit dieser erweiterten Perspektive auf den Osten, mit dieser so von mir gar nicht erwarteten rückblickenden Selbstkritik von westdeutscher Seite, mit der Bitte des Unionsfraktionsvorsitzenden Ralph Brinkhaus um Entschuldigung für die Fehler des Westens beim Transformationsprozess – das hat eine völlig neue Qualität gewonnen. Und wie wir inzwischen immer stärker den Rassismus in unserer Gesellschaft thematisieren, auch weil Post-Migranten das so selbstbewusst einfordern. Es tut sich wahnsinnig viel.

Es hat auch den Anschein, als würden sich viele Ostdeutsche nicht mehr selbst unsichtbar machen wie in den Neunzigern, als sich viele - entgegen den tatsächlichen Verhältnissen - als gleichgestellt betrachteten, um sich dem negativen Klischee des Ossis zu entziehen. Oder täuscht mich der Eindruck?

Absolut nicht. Die Umfragen zeigen, immer mehr auch junge Menschen bezeichnen sich wieder selbstbewusst als Ostdeutsche. Hinter einem solchen Phänomen steckt vieles: einer Enttäuschung angesichts der Abwertungen durch die Mehrheitsgesellschaft und die Distanzierung davon, aber eben auch eine Emanzipation. Ein selbstbewusstes Bekenntnis zum Ostdeutsch-Sein, und zwar zu einem gleichberechtigten Ostdeutsch-Sein. In all seine Vielfalt und Heterogenität. Aber um eine wirkliche Gleichberechtigung zu erreichen, kulturell, ökonomisch, sozial, dafür bleibt noch enorm viel zu tun.

Buchtipp: Naika Foroutan und Jana Hensel, "Die Gesellschaft der Anderen". Aufbau-Verlag, 22 Euro