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Wolf Biermann im Interview: „Man geht auch an Schlägen kaputt, die man nicht austeilt“

Der Liedermacher wird mit einer Ausstellung im Deutschen Historischen Museum geehrt. Wolf Biermann über den im KZ ermordeten Vater, Russlands Krieg, die Seelenlage im Osten und sein Grab in Berlin.

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Wolf Biermann ist heute 86 Jahre alt, lebt mit seiner Frau Pamela in Hamburg. Politisch mischt er sich ein, gilt als Begleiter von Angela Merkel und nennt Kanzler Olaf Scholz einen Freund.
Wolf Biermann ist heute 86 Jahre alt, lebt mit seiner Frau Pamela in Hamburg. Politisch mischt er sich ein, gilt als Begleiter von Angela Merkel und nennt Kanzler Olaf Scholz einen Freund. © Thomas Frey/dpa

Herr Biermann, was ist das Wichtigste im Leben?

Wie sollte einer wie ich das wissen – denn ich weiß doch zu viel. Wir alle wissen: Kein Ei kann sich das Nest aussuchen, in dem es ausgebrütet wird. Nach meiner Ausbürgerung 1976 besuchte ich Jean-Paul Sartre in Paris. Er sagte: „Wir beurteilen die Menschen nicht nach dem, was aus ihnen gemacht wurde, sondern danach, was sie aus dem gemacht haben, was aus ihnen gemacht wurde.“ Ein kluges Bonmot. Ich erwiderte keck: Den Satz hab ich schon mal bei Ihnen gelesen. Da raunzte er mich an: Sie singen ja auch immer dasselbe.

Das Wichtigste im Leben ist also…

… das Beste aus der Chance immer neuer Widrigkeiten zu machen

Sie haben eine Menge rausgeholt. Sie haben zehn Kinder, hatten viele Liebschaften, lebten in Ost und West, Ihr Werk läuft fast über von Liedern und Gedichten, nun mit 86 Jahren eine Ausstellung im Deutschen Historischen Museum. Kriegt Wolf Biermann nie genug?

Kriegen will ich nichts. Ich hatte immer genug. Gierig bin ich nicht, sondern neugierig auf Menschen. Ich brauche die anderen, damit ich mich selbst schärfer sehe. Man vergleicht Gemeinsamkeiten und Gegensätze, um dabei den Menschen besser zu erkennen, der einem immer am fremdesten sein muss: sich selber.

Jede und jeder will eben besonders sein.

Der Charakter formt sich im Stoffwechsel mit lebendiger Menschheit. Wer panisch darauf aus ist, jemand ganz Besonderer zu sein, ist ein Herdentier. Ich traf gelegentlich Journalisten, die plappern die Standardfrage: Herr Biermann, sind Sie eitel? Eine allzu eitle Frage.

Soll ich die lieber streichen?

Wieso? Es war ja gar nicht die Ihre. Natürlich ist es kein Akt der Bescheidenheit, sich vor 1.000 Leute zu stellen und drei Stunden lang Lieder zu singen. Die gute Eitelkeit stachelt uns an, was Gutes zu liefern - ein Stück Seelenbrot backen, ein brauchbares Lied. Es ist eben immer die Frage: Wer hat wen? Habe ich die Eitelkeit, die mich anspornt? Oder hat die Eitelkeit mich? Dann wäre ich verdorben, gestorben schon im Leben.

Haben Sie sich mal gefühlt wie der letzte Idiot?

Nein, wie der vorletzte. Lumpenhaft bescheiden war ich niemals, aber immer voller Bewunderung für tapfere, kluge und redliche Leute. Der Goethe spottete: „Nur die Lumpe sind bescheiden, Brave freuen sich der Tat“.

"Meine Mutter hat mir jeden Tag von ihm erzählt, das war ihr kleiner Krieg gegen Adolf Hitler"

Ihr jüdischer Vater wurde verhaftet, als sie drei Monate jung waren, und später im KZ umgebracht. Ihre Mutter hat Sie aus dem Kriegsfeuer von Hamburg gerettet. Kommt daher Ihr Kämpferherz?

Kinder ahmen automatisch ihre Eltern nach. Oft allerdings dialektisch: als deren genaues Gegenteil. Alle Eltern spielen ja Gott, formen die Menschlein nach ihrem Ebenbild.

Ihr Vater konnte das nicht tun.

Mein Vater Dagobert war in meinem Menschwerden anwesender als bei den meisten Kindern auf der Welt. Und da ich werde, solange ich lebe, bin ich immer noch auch in seiner Mache. Meine Mutter hat mir jeden Tag von ihm erzählt, das war ihr kleiner Krieg gegen Adolf Hitler. Wir wohnten im Hafengebiet von Hamburg, wo die Schlepper ihre Schuten durch die Kanäle zogen. Hinterhof, Seitenflügel. Vor unsrer Tür im Treppenhaus stand mein Leiterwägelchen. Darauf lag jeden Morgen eine Überraschung vom Vater, die er mir über Nacht aus dem Gefängnis geschickt hatte.

Was hat Ihre Mutter in den Wagen gelegt?

Ein „Nusspips“ – so nannten wir das im Familienjargon. Wörtlich also: Nussbrei. Bedeutet: irgendein Leckerli. Ein Bonbon, ein Lakritz, eine schöne Murmel, eine bunte Feder. Meine Mutter erfand dazu wahrhaftige Lügengeschichten, wie etwa dieser leckere Keks aus dem Gefängnis in Bremen durch die Lüneburger Heide über die Elbe zu mir kam. Der Keks vom lieben Papa hat das geschafft, damit er in Wölfleins Mäulchen landet. So habe ich beim Kekskauen mein Liebe-Futter genossen. Das setzt sich tief in der Seele fest.