Herr Biermann, was ist das Wichtigste im Leben?
Wie sollte einer wie ich das wissen – denn ich weiß doch zu viel. Wir alle wissen: Kein Ei kann sich das Nest aussuchen, in dem es ausgebrütet wird. Nach meiner Ausbürgerung 1976 besuchte ich Jean-Paul Sartre in Paris. Er sagte: „Wir beurteilen die Menschen nicht nach dem, was aus ihnen gemacht wurde, sondern danach, was sie aus dem gemacht haben, was aus ihnen gemacht wurde.“ Ein kluges Bonmot. Ich erwiderte keck: Den Satz hab ich schon mal bei Ihnen gelesen. Da raunzte er mich an: Sie singen ja auch immer dasselbe.
Das Wichtigste im Leben ist also…
… das Beste aus der Chance immer neuer Widrigkeiten zu machen
Sie haben eine Menge rausgeholt. Sie haben zehn Kinder, hatten viele Liebschaften, lebten in Ost und West, Ihr Werk läuft fast über von Liedern und Gedichten, nun mit 86 Jahren eine Ausstellung im Deutschen Historischen Museum. Kriegt Wolf Biermann nie genug?
Kriegen will ich nichts. Ich hatte immer genug. Gierig bin ich nicht, sondern neugierig auf Menschen. Ich brauche die anderen, damit ich mich selbst schärfer sehe. Man vergleicht Gemeinsamkeiten und Gegensätze, um dabei den Menschen besser zu erkennen, der einem immer am fremdesten sein muss: sich selber.
Jede und jeder will eben besonders sein.
Der Charakter formt sich im Stoffwechsel mit lebendiger Menschheit. Wer panisch darauf aus ist, jemand ganz Besonderer zu sein, ist ein Herdentier. Ich traf gelegentlich Journalisten, die plappern die Standardfrage: Herr Biermann, sind Sie eitel? Eine allzu eitle Frage.
Soll ich die lieber streichen?
Wieso? Es war ja gar nicht die Ihre. Natürlich ist es kein Akt der Bescheidenheit, sich vor 1.000 Leute zu stellen und drei Stunden lang Lieder zu singen. Die gute Eitelkeit stachelt uns an, was Gutes zu liefern - ein Stück Seelenbrot backen, ein brauchbares Lied. Es ist eben immer die Frage: Wer hat wen? Habe ich die Eitelkeit, die mich anspornt? Oder hat die Eitelkeit mich? Dann wäre ich verdorben, gestorben schon im Leben.
Haben Sie sich mal gefühlt wie der letzte Idiot?
Nein, wie der vorletzte. Lumpenhaft bescheiden war ich niemals, aber immer voller Bewunderung für tapfere, kluge und redliche Leute. Der Goethe spottete: „Nur die Lumpe sind bescheiden, Brave freuen sich der Tat“.
"Meine Mutter hat mir jeden Tag von ihm erzählt, das war ihr kleiner Krieg gegen Adolf Hitler"
Ihr jüdischer Vater wurde verhaftet, als sie drei Monate jung waren, und später im KZ umgebracht. Ihre Mutter hat Sie aus dem Kriegsfeuer von Hamburg gerettet. Kommt daher Ihr Kämpferherz?
Kinder ahmen automatisch ihre Eltern nach. Oft allerdings dialektisch: als deren genaues Gegenteil. Alle Eltern spielen ja Gott, formen die Menschlein nach ihrem Ebenbild.
Ihr Vater konnte das nicht tun.
Mein Vater Dagobert war in meinem Menschwerden anwesender als bei den meisten Kindern auf der Welt. Und da ich werde, solange ich lebe, bin ich immer noch auch in seiner Mache. Meine Mutter hat mir jeden Tag von ihm erzählt, das war ihr kleiner Krieg gegen Adolf Hitler. Wir wohnten im Hafengebiet von Hamburg, wo die Schlepper ihre Schuten durch die Kanäle zogen. Hinterhof, Seitenflügel. Vor unsrer Tür im Treppenhaus stand mein Leiterwägelchen. Darauf lag jeden Morgen eine Überraschung vom Vater, die er mir über Nacht aus dem Gefängnis geschickt hatte.
Was hat Ihre Mutter in den Wagen gelegt?
Ein „Nusspips“ – so nannten wir das im Familienjargon. Wörtlich also: Nussbrei. Bedeutet: irgendein Leckerli. Ein Bonbon, ein Lakritz, eine schöne Murmel, eine bunte Feder. Meine Mutter erfand dazu wahrhaftige Lügengeschichten, wie etwa dieser leckere Keks aus dem Gefängnis in Bremen durch die Lüneburger Heide über die Elbe zu mir kam. Der Keks vom lieben Papa hat das geschafft, damit er in Wölfleins Mäulchen landet. So habe ich beim Kekskauen mein Liebe-Futter genossen. Das setzt sich tief in der Seele fest.
Haben Sie beim Futtern an Ihren Vater gedacht?
Es war eine antifaschistische Variation auf die Christen, wenn sie den Leib Jesu in der Kirche kauen als Oblate. Wenn Christen niederknien vorm Priester und Christi Blut als Wein trinken, stärkt das ihren Glauben. Meine Mutter hat so meinen Glauben nicht an einen Gott, sondern an die Menschen gestärkt. Sie hat ihren eingesperrten Mann geliebt und mir vorgelebt, wie ein tapferes Herz schlägt. Deshalb wehre ich mich, so automatisch wie Luftholen, gegen Unterdrückung, achte Menschen und verachte Schweinehunde. So etwas kriegt man nicht schon im Mutterleib mit. Es wird anerzogen, sobald das Baby im Offenen ist.
"Der Kommunismus war für mich das Rezept für die Errichtung einer gerechten Welt, in der kein Mensch den anderen ausbeutet"
Als junger Kommunist siedelten Sie 1953 in den Osten über.
Ich wollte helfen, dass die Deutschen nach der Nazizeit eine bessere Gesellschaft errichten. Was Besseres als die kapitalistische Bundesrepublik mit all ihren flott umetikettierten Nazis. Dass es solche auch in der DDR gab, konnte ich mir nicht vorstellen. Der Kommunismus war für mich das Rezept für die Errichtung einer gerechten Welt, in der kein Mensch den anderen ausbeutet und belügt und unterdrückt: also echte Freiheit.
Aber kaum sind Sie angekommen, erheben sich die Arbeiterinnen und Arbeiter im angeblichen Arbeiter- und Bauernstaat. War das schon das Ende dieser Illusion?
Es war mein Riesenglück, dass ich am 17. Juni im Städtchen Gadebusch gelandet war, einem Kaff in der Einöde von Mecklenburg, weit weg vom Schuss, weitab vom Aufstand gegen die Diktatur. Ich musste also nicht mitansehen, wie die Panzer der angeblichen Sowjetfreunde gegen das Volk eingesetzt wurden. Hätte ich gesehen, dass die aufständischen Arbeiter niedergeschlagen, erschossen oder eingekerkert werden, hätte mich kein Marxismus und kein Kinder-Murxismus mehr besänftigen können.
Der Sohn meiner Eltern hätte automatisch rebelliert – und die panischen SED-Genossen hätten mich in den Westen zurückgeschmissen wie Abfall. Oder eingelocht in den brutalsten Jugendwerkhof Torgau. Ob ich rigoroses Kommunistenkind das überlebt hätte, bezweifle ich sehr.
Hatte die DDR eine Chance?
Nach Ansicht der Kommunistin Emma Biermann in Hamburg war die DDR nicht das gelobte Land, aber sollte es werden. Sie und meine Oma Meume waren in der KPD, aber keine verblödeten Funktionäre. Die DDR war unsere Hoffnung. Inzwischen weiß ich: Es kann keinen richtigen Kommunismus geben. Wer alle Menschen total gleich machen will, landet in der totalitären Hölle ohne Freiheit.
Heute wird gern so getan, als sei die DDR nicht so schlimm gewesen. Bücher zeichnen die Diktatur weich und machen den Westen zum Schuldigen an der verkorksten Einheit. Welche Sehnsucht steckt da drin?
Das ist keine Sehnsucht, das ist aggressives Selbstmitleid. In einer Diktatur verwenden die meisten Menschen ihre Energie und Klugheit darauf, einigermaßen durchzukommen: nicht zu feige, nicht zu frech. Und es gibt viele gute Gründe, sich feige zu verhalten. Aber wenn Menschen alles Unrecht dulden, wenn sie im Betrieb oder in der Familie immer den Schwanz einziehen oder den Kopf, dann macht sie das chronisch seelenkrank.
Diese Deformation wird unbewusst vererbt von Generation zu Generation. Oder wie es der große Pädagoge Pestalozzi mal formulierte: „Man erzieht und erzieht, und dann machen sie einem doch alles nach.“ Die Ostdeutschen sind nach zwei Diktaturen hintereinander doppelt geprägt. Kaputte Häuser und Straßen kann man in 30 Jahren wieder aufbauen, kaputte Menschen dauern etwas länger.
Haben Sie diese Verstümmelung auch in sich?
Ich hab mich immer einigermaßen tapfer gewehrt. Wir alle gehen nicht nur kaputt an den Schlägen, die wir einstecken, sondern auch an den Schlägen, die wir nicht austeilen.
Wie lässt sich die Teilung eines Landes überwinden?
Ich lieferte mal Konzerte in Südkorea. Die Leute dort waren - was Wunder - interessiert an diesem Barden aus einem geteilten Land. Ich sang in Seoul ein Lied, das hatte ich schon kurz nach dem Bau der Mauer geschrieben:
„Es senkt das deutsche Dunkel /
sich über mein Gemüt /
Es dunkelt übermächtig /
In meinem Lied. //
Das kommt, weil ich mein Deutschland /
So tief zerissen seh. /
Ich lieg in der bessren Hälfte /
Und habe doppelt Weh.“
Was, glauben Sie, haben die Koreaner darin gesehen?
Ja, gleich erzähle ich das. Aber zunächst dies: Damals haben sich in Deutschland alle über dieses Liedchen geärgert – so was schafft man wohl nur, wenn man es nicht darauf anlegt. Die Bonzen der Partei ärgerte: Warum-wieso hat der Biermann doppelt Weh, wenn er doch das Glück hat, bei uns im Arbeiter- und Bauernparadies zu leben? Im Westen schimpften Leute: Wieso in der besseren Hälfte? Von links meckerten die Linksalternaiven; es ärgerten sie zwei Worte: mein Deutschland. Sie empörte meine innige Haltung zu diesem verfluchten Deutschland.
Und die Menschen in Korea?
Die waren entzückt. Was ich ja nicht wusste: Die freien Südkoreaner leider viel tiefer unter der Trennung vom totalitären Norden als die Westdeutschen je gelitten haben unter der Mauer. Zugleich aber haben die Südkoreaner vor nichts solch eine Todesangst wie vor dem Zusammenbruch des Regimes im Norden.
Warum?
Weil sie bis drei zählen können. Eine Wiedervereinigung wollen die Südkoreaner sich nicht aufladen. Die Nordkoreaner sind in Zehnerpotenz beschädigter von der Diktatur, als es jemals die Menschen in der DDR waren. In Nordkorea vegetieren Kinder schon unterernährt im Mutterleib. Viele werden mit schweren seelischen und körperlichen Schäden geboren.
Und das Elend geht so weiter, denn sie lernen dann nie den aufrechten Gang. Also unternimmt Südkorea alles, um den Kollaps der Diktatur im Norden zu verhindern. Gegen die chronischen Hungersnöte kaufen sie riesige Mengen Mais in China und lassen es nach Nordkorea schaffen. Sie stabilisieren den Todfeind mit kostenlosen Düngemitteln. Alles panisch kalkulierte Geschenke, um selbst billiger davonzukommen.
Nach dem Mauerbau hatten Sie erste Auftrittsverbote. Ihre Hinterhofbühne wurde nicht erlaubt. Warum sind Sie nicht in den Westen gegangen?
Wenn man die richtigen Feinde hat, ist das genauso viel wert wie treue Freunde. Beides darf man sich nicht wegnehmen lassen.
Ihre Gedichte wurden als zu kritisch und pornografisch eingestuft. Warum brauchten Sie das – ein „Weiberheld“ zu sein, wie man früher sagte?
Als angeblich pornografisch wurden meine Gedichte von der Parteipropaganda diffamiert, als ich 1965 total verboten wurde. Dabei ist die komische Wahrheit, dass ich im Sujet der literarischen Pornografie niemals etwas zustande gebracht habe. Diese Tradition war nie mein Interesse und schon gar nicht meine Schreibe. Ansonsten: Weder brauchte ich es, noch war ich ein Weiberheld. Auch mich prägte das Sittenbild der sechziger Jahre, die alternative Rebellion gegen die Sexualunterdrückung der Jahrhunderte zuvor, gegen diese spießige Leibeigenschaft der Leiber. Aber endlich fand ich, dass diese sexuellen Idioten-Freiheiten ein spießiger Irrweg sind: nix für mich.
Wann haben Sie das gemerkt?
1972 schrieb ich die Ballade von der Elbe bei Dresden, ein Lied über ein Liebespaar in großer politischer Landschaft, in den Elbwiesen. Da singt ein Mann, der wahrscheinlich was mit dem jungen Dichter Biermann zu tun hatte, folgenden Refrain (singt):
„Und weißt du /
warum ich dich suchen will? /
Weil ich mich ja finden muss.“
Dasselbe in Prosa: Ich muss und will diesen einen Menschen finden, mit dem ich innig das mache, was Shakespeare im Othello so nennt: „The beast with two backs“. Und 1983 in Hamburg habe ich dann diesen Menschen gefunden: meine Frau Pamela.
Hat man mit 86 noch Sex?
„Man“ vielleicht nicht. Keine übergriffige, sondern eine untergriffige Frage. Der womöglich größte Poet der Franzosen, François Villon, dichtete vor etwa 600 Jahren in Paris dazu eine lebenswahre Sentenz. Ich zitiere sie Ihnen in einer genialen Übersetzung ins Plattdeutsche: „Fründ Amor piert em bet opt Letzt!“ Also: Freund Amor quält einen bis aufs Letzte.
"Vielleicht waren wir an die 1.000 Leute in der ganzen DDR, die sich gewehrt haben"
Florian Havemann, der in den Westen geflohene Sohn des großen DDR-Oppositionellen Robert Havemann, hat im Nachhinein gesagt: Sie waren nur eine Partyopposition.
Das ist sein unfreiwilliges Selbstporträt. Die Opposition in der DDR war immer sehr klein. Mit Vergnügen gestehe ich Ihnen eine lässliche Lüge: Als mich einmal ein Westjournalist besuchte in meiner Ost-Berliner Wohnung in der Chausseestraße, fragte er: „Existieren außer Havemann und Biermann andere Oppositionelle im Osten?“ Die Anfänger lügen ja mit Lügen, die Könner aber mit einer Wahrheit.
Was war Ihre wahre Lüge?
Ich verklarte ihm: Mit der Opposition in der DDR ist es wie mit einem Tausendfüßler. Wenn man so ein Tierchen genau von vorne fotografiert, sieht man nur die zwei vorderen Beinchen. Der Journalist ließ sich damit abfüttern. Ja ja, vielleicht waren wir an die 1.000 Leute in der ganzen DDR, die sich gewehrt haben. Gemessen aber an 16 Millionen gehorsamen Untertanen in dieser Diktatur war das nicht viel mehr als bei einem Zweifüßler wie Sie und ich.
Wo wir gerade bei Wahrheit und Lüge sind: Stimmt es denn, dass Sie eine Affäre mit der verhassten DDR-Bildungsministerin Margot Honecker hatten?
Diese Frage ist so absurd idiotisch, dass ich dazu nicht einmal Nein sagen möchte. Das ist eine Stasi-Legende zur sogenannten „Zersetzung“, die nur von ein paar west-ostalgischen Dumpfbacken verbreitet wird.
Das ist ein Nein.
Ein „Nein“ ist stark untertrieben. Ich dementiere solche absurden Verleumdungen nicht.
Dieter Dehm, linker Polit-Sektierer und enttarnter Stasi-Mann, war mal Ihr Manager. Er sagt: „Ich kann bestätigen, dass Biermann in prahlerischer Weise den Eindruck erweckt hat, sehr private Beziehungen zu Margot Honecker unterhalten zu haben, die ihn auch unmittelbar vor der Abreise informiert habe, dass er ausgebürgert werde, wenn er in Köln auftritt.“
Das ist Desinformation, genauer: genuine Stasi-Propaganda. Das ist ein Lügengebräu frisch vom Ex-DDR-Fraß. Aber was womöglich Wichtiges ist viel interessanter: Margot Honecker, die Tochter des Schuhmachers und Kommunisten Gotthard Feist, Genosse meines Großvaters Karl Dietrich und meiner Oma Meume aus Halle an der Saale. Sie hat als 15-Jährige unsere Familie einmal in Hamburg besucht, im Frühjahr 1943 in Begleitung eines kommunistischen Widerstandskämpfers aus Halle. Meine Mutter hatte gerade eben von der Gestapo erfahren, dass ihr Mann in Auschwitz angeblich an Herzschwäche verstorben sei. In dieser erschütternden Situation traf uns das junge Mädchen in Hammerbrook.
Erst 22 Jahre später sah ich Margot wieder. Streng warnte sie mich vor einem „Verrat“ an meinem ermordeten Vater. Das war kurz vor dem berüchtigten 11. Kultur-Plenum der SED im Jahre 1965. Von da ab konnte es absolut keinen Kontakt mehr geben. Und schon gar nicht hätte sie mich 1976, also elf Jahre später, wegen der Ausbürgerung vor irgendetwas gewarnt haben können.
Das legendäre Konzert vor Ihrer Ausbürgerung im November 1976 in Köln hat sich auch im Westen eingeprägt. Kurz zuvor waren Sie nach elf Jahren erstmals wieder in der DDR aufgetreten, plötzlich kam noch die Erlaubnis für eine Westtournee. Hat Sie das nicht misstrauisch gemacht?
Natürlich war ich nicht dermaßen naiv. Ich und meine klugen Freunde wussten um die Gefahr, dass ich nicht wieder in die DDR reingelassen werden könnte. Deshalb habe ich mit Robert Havemann und meinem jungen Freund Jürgen Fuchs alles bekakelt: Was musste ich tun, was lassen, damit die DDR ihren Bürger Biermann wieder reinlassen muss? Havemann, der bei den Nazis in der Todeszelle gesessen hatte, gab mir den Ratschlag: Singe nicht die fünf, sechs schlimmsten Lieder, in denen jede Strophe fünf Jahre Stasi-Knast in Bautzen wert ist (singt):
„Im Neuen Deutschland finde ich /
tagtäglich Eure Fressen /
und trotzdem seid Ihr morgen schon /
verdorben und vergessen.“
Solche Lieder hatte ich ja all die Jahre in Ost-Berlin gesungen. Diese sogenannte, angebliche Hetze hatte sich als Samisdat, also mit Tonbandkopien und Handabschriften, massenhaft in der DDR verbreitet. In der Kölner Sporthalle mit fünf Fernsehkameras des WDR und vor 8000 Menschen geriet ich in die Gefahr, meinem Affen Zucker zu geben. Trotzdem: Meine „Stasi-Ballade“ etwa hab ich nicht gesungen. Wissen Sie, wer mich davon abhielt?
Wer denn?
Mein Vater hat mir dazu verholfen.
Haben Sie an ihn gedacht bei dem Konzert?
Mein Vater hatte zufällig an diesem Tag seinen 72. Geburtstag. Er flog grade auf seiner Auschwitzwolke westwärts übers Rheinland und sprang punktgenau über Köln ab. Auf meiner Bühne hat er sich als kleiner Affe verkleidet – so ein Äffchen, wie ein Drehorgelspieler es auf`m Leierkasten hat. Er hockte das Konzert neben mir auf dem Harmonium vorn an der Rampe. Außer mir hat es niemand gemerkt.
Aha. Und was hat der Affe für Sie getan?
Er hat mir, wie die Juden sagen, Ejzes gegeben. „Gib mir Ejzes...“ heißt: Gib mir einen Tipp! Die Sprache der Jidden hatte solche Zauberworte, das sind verbale Stolpersteine. Ejzes bedeutet: ein Tipp! Also: Wie gehe ich mit einer Situation oder einem Typen, von dem ich was brauche, am besten um? Zum Beispiel: Gib mir Ejzes, wie ich den Biermann interviewen soll – muss ich ihn anschnauzen oder soll ich ihm nach dem Munde reden?
Geben Sie mal Ejzes, wie man am besten mit Ihnen umgehen sollte!
In der Bibel steht: Wer mit den Narren umgehet, wird selbst ein Narr. Also halten wir einander lieber nicht zum Narren.
Sie wurden berühmt mit verbotenen Sachen: dem in West-Berlin erschienenen Gedichtband „Die Drahtharfe“, den in den Westen geschmuggelten Tonbändern der LP-Aufnahmen in der Chausseestraße. Fehlte Ihnen nach der Ausbürgerung in den Westen der Staat, gegen den Sie aufbegehren?
Mir fehlten, kein Wunder, meine Freunde. Und, das war neu für mich: Die Feinde fehlten mir auch. Ich war nun plötzlich der Anfänger, der Neue. Ich wusste nicht, was hinten, was vorne ist. Das Klügste wäre gewesen, zwei, drei Jahre den Mund zu halten. Das Dumme: Ich konnte mir solche Klugheit nicht leisten. Meine komische Tragik war: Weil ich ja so spektakulär ausgebürgert wurde, war ich dazu verurteilt, auch im Westen berühmt zu bleiben. Schon damit die Bonzen im Osten all denen, die sich mit mir solidarisiert hatten und dafür bestraft wurden, nicht sagen konnten: Siehst Du, was aus Deinem kleinen Biermann geworden ist? Der ist weg vom Fenster, den gibt’s gar nicht mehr! Deshalb musste ich mich im Westen aus dem Fenster lehnen, also aus der Glotze.
Was haben Sie dafür getan?
Neue Lieder! Ich wollte nicht davon leben, im Westen nur meine Ost-Wunden zu lecken. Das Ergebnis dieses Kraftaktes ist auf zwei LPs nachzuhören. Man hört darin, wie ein Drachentöter versucht, sich ohne Drachen durchzuschlagen. Es war meine schwierigste Zeit.
Zum Mauerfall umfasste Ihre Stasi-Akte 50.000 Seiten, Dutzende Spitzel waren auf Sie angesetzt. Frauen sollten Sie für die Stasi verführen. Hat die kleine DDR den kleinen Biermann einfach zu groß gemacht?
Quatsch! Umgekehrt: Ich machte die großen Parteibonzen klein. Ich wusste, dass die Stasi mich „zersetzen“ will. In meinen Stasi-Akten, abgelegt unter ZOV „Lyriker“, fanden sich 220 IMs, die was über mich berichtet haben. Und ja, es gab unter anderem eine junge Frau, die den Auftrag hatte, mich ins Bett zu ziehen. Sie hatte sich zu diesem Zweck mit meiner Frau Eva-Maria Hagen und mir angefreundet. Die Stasi war clever. Ihr Bruder war ein Offizier der Staatssicherheit, der Vater auch. So wurde sie von denen zum Inoffiziellen Mitarbeiter des MfS gepresst.
Hatten Sie später noch einmal Kontakt zu ihr?
Ja, denn sie war der einzige IM, der sich geoutet hat. In ihrem Brief stand: „Lieber Wolf! Ich lese jetzt in der Zeitung, dass Du Deine Akten liest. Du wirst mich auch finden. Ich bin IM ‚Lerche‘ “. Das wurde ihr Code-Name, weil sie eine junge Schauspielerin war und eine Hauptrolle im Stück „Die Lerche“ spielte. Klug an der Stasi war auch, dass sich Spitzel selbst den Tarnnamen aussuchen mussten – damit sie die Illusion haben, noch einen Rest Selbstbestimmung zu behaupten.
Was stand in ihrem Bericht?
Ach, das ist auch zum Schieflachen. Die Schöne hat sich fünf Seiten lang bei ihrem Führungsoffizier dafür entschuldigt, dass sie es zum dritten Mal nicht geschafft hatte, mich rumzukriegen – sodass sie schon zweifle an ihrer Weiblichkeit. Das ist zum Weinen wie zum Lachen.
Haben Sie sie später einmal getroffen?
Ja. Ich war tief berührt, dass sie den Mut hatte, sich selbst zu dekonspirieren. Sie war eine Täterin, aber eben zugleich ein Opfer. So passierte es doch oft.
Überrascht Sie noch etwas im Leben?
Ihre Frage jedenfalls nicht. Die Zufälle in der platten Wirklichkeit sind oft viel fantastischer, als ein Dichter sich ausdenken kann.
Kommen Gedichte an die Wirklichkeit heran?
Klaro. Nur deswegen reden Sie ja mit mir. Kenner sagen, auch ein starker Dichter schreibe im Leben im Grunde höchstens zehn bedeutende Gedichte. Alles andere seien nur noch Variationen. Mir sind womöglich vier oder fünf gelungen. Die Musen sind launische Weiber. Immerhin haben sie mich gelegentlich geküsst.
Lässt sich Kunst erklären?
Es ist damit wie mit der Liebe. Das Wort „Ich liebe Dich, weil...“ - das Wörtchen „weil“ ist schon das Gegenteil von Liebe.
"Für mich war und blieb Putin immer ein krimineller KGB-Offizier"
Was lässt sich im Leben überhaupt erzwingen?
Manches und nichts. Und weniger, als Leute denken. Schauen Sie sich Putin und seinen Krieg gegen die Ukraine an. Er hat ihn in der Kriegspropaganda begonnen mit einem brutalen russischen Sprichwort, das übersetzt bedeutet: „Lass die Vergewaltigung über Dich ergehen, Du Schöne, es ist nun mal Dein Schicksal!“ Aus Sicht der Russen vom Schlage Putins ist die Ukraine ein dralles Bauernweib, das begehrt und verachtet wird. Aber die Ukraine wehrt sich tapfer. Er hat nicht damit gerechnet: Der Macht-Macho Putin schafft es nicht, die Ukraine zu überwältigen, also versucht er, sie zu massakrieren.
Sie haben schon 2007 in einer Laudatio für Angela Merkel gewarnt: „Ich halte Russlands Stabilisator Putin aus deutscher Sicht für höchst instabil, denn Gasmann Schröders lupenreiner Demokrat kopiert seinen blutigen Vorgänger Stalin.“ Warum wollte das in Deutschland keiner hören?
Weil zu viele davon lebten, es nicht wahrhaben zu wollen. Für mich war und blieb Putin immer ein krimineller KGB-Offizier. Als er 2001 von dem Saufkoloss Jelzin an die Macht gehievt wurde, dachte ich: Putin ist ein Sankt-Petersburger Taschendieb und bleibt von Beruf Mörder. Ich hatte aber ein schlechtes Gewissen dabei und dachte: Vielleicht bin auch ich selber der Kleinmütige, der nicht wahrhaben will, dass sich auch ein Apparatschik wandeln kann.
Putin wurde 2001 bejubelt im Bundestag, ich fragte mich: Bin ich gefesselt von meinen Urteilen und Vorurteilen? Schade! Ich hätte gerne und tausendmal lieber Unrecht behalten.
In Ostdeutschland gibt es eine seltsame Nostalgie für Russland. Verstehen Sie, dass Menschen heute die Freiheit nicht so schätzen, die sie sich selbst erkämpft haben?
Es sind meist nur sehr wenige, die ihre Freiheit wirklich erkämpft haben. Am Ende einer Diktatur wimmelt es ja immer von Widerstandskämpfern. Plötzlich sind aus dem Tausendfüßler Abertausende Freiheitshelden geworden. Für diesen Selbstbetrug gibt es einen sarkastischen Slogan, er heißt: „Ach! Wenige waren wir, und nur viele sind übriggeblieben!“ Ich hab grad ein Lied geschrieben mit einer Zeile, die kompakt formuliert, worüber wir jetzt hin und her reden:
„Was Du erinnerst, /
warst Du nicht.“
Wie ist das, als Kriegskind wieder den Krieg zu erleben?
Das Schlimme ist, dass auch die Kriegskunst riesige Fortschritte macht. Der Dritte große Weltkrieg, mit dem Putin uns jetzt droht, würde dann wohl mithilfe Rot-Chinas der allerletzte sein auf diesem Planeten. Ich habe diese Ängste und Traurigkeiten und den Zorn darüber auch. Aber all das spornt mich an, mich zu wehren gegen solch ein Schicksal.
Sie haben gedichtet: „Es gibt ein Leben vor dem Tod“. Was soll in Ihrem noch passieren?
Was mich selbst betrifft: Noch ein, zwei brauchbare Gedichte könnten mir gelingen. Auch in diesem hohen Alter kann ich mir kein eitles Selbstmitleid leisten.
Sie wohnen in Hamburg, wollen aber in Berlin begraben sein auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof – neben Bertolt Brecht, Helene Weigel, Thomas Brasch, Heiner Müller. An was soll man sich bei Wolf Biermann erinnern?
Ich werde mich bei mir umme Ecke auf diesem schönen Hugenotten-Friedhof in der Chausseestraße nicht zu Tode langweilen, wenn ich demnächst tot bin. Ich freue mich auf Gespräche mit den lebendigsten Toten dort. Mit Hanns Eisler werde ich das Lied von der Moldau singen. Mit Brecht werde ich über sein feige-freches Schubladengedicht zum 17. Juni 1953 mal Tacheles reden. Mit Hegel will ich, im Sinne von Heinrich Heine, Hegels berühmten Satz hinterfragen: „Was vernünftig ist, ist wirklich; und was wirklich ist, ist vernünftig.“
Was soll auf Ihrem Grabstein stehen?
Das wird meine junge Frau entscheiden. Ich freue mich auf sie – aber erst in 20 oder 30 Jahren. Dann fängt wieder unser vertrautes Leben an.
Das Interview führte Robert Ide